Magazinrundschau

Es sieht nicht aus wie ein Leonardo

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
06.07.2010. Der New Yorker überlegt vor einem umstrittenen Leonardo, wer fehleranfälliger ist: der Kunstkenner oder der Wissenschaftler. Polityka erklärt, was von der Vierten Republik übrig bleibt. Im Observer spricht Claire Denis über Scham. In La regle du jeu sieht Roberto Saviano einen unerwünschten Ausdruck in den Augen seiner Bewunderer. MicroMega sieht ein neues politisches Monstrum erstehen: die illiberale Demokratie. Die LRB hat einen Dummen für unseren Atommüll gefunden: Außerirdische.

New Yorker (USA), 19.07.2010

Ob ein Bild ein echter Leonardo oder ein echter Pollock ist, macht einen Unterschied von Millionen von Dolllars. Kann die Wissenschaft dafür bürgen, das man ein Original erworben hat? David Grann schreibt über den Restaurateur Peter Paul Biro, der mit forensischen Mitteln - zum Beispiel Fingerabdrücken und DNA-Rückständen - die Echtheit von Kunstwerken überprüft. So auch 2009 bei dem Gemälde "La Bella Principessa" von - vielleicht - Leonardo Da Vinci. Biro behauptete Analyse einiger Fingerabdrücke, es sei von Leonardo. Doch einige Museumsleute lassen sich davon nicht beeindrucken. Carmen Bambach vom Met-Museum: "Es sieht nicht aus wie ein Leonardo." Grann stieß im Verlauf seiner akribischen Recherchen, die sich streckenweise wie ein Krimi lesen, allerdings auch auf fragwürdige Geschäftspraktiken und von der Fachwelt angezweifelte Expertisen von Biro. Ein Kritiker nennt ihn gar einen Betrüger. Eins steht jedenfalls fest: Auch Fingerabdrücke kann man fälschen. Letztlich, so Grann, gehe es in diesem Feld um die Konkurrenz von Kunstkenntnis und "demokratisierender" Verwissenschaftlichung. "Kennerschaft hat viele Mängel. Sie ist anfällig für Fehler, Arroganz, sogar Korruption. Und doch ist da etwas an dieser seltsamen Brut", die man Kunstkenner nennt. "Sie können wirklich mit größerer Tiefe sehen. Sie können nach Jahrzehnten des Trainings und Studiums und dem Eintauchen in das Werk eines Künstlers ein Bild auf eine Weise erfahren, wie wir es nicht können. Kunstkennerschaft besteht nicht nur in der Fähigkeit zu erkennen, ob ein Werk echt oder falsch ist, sondern ob es ein Meisterwerk ist. Die unbequemste Wahrheit über Kunst ist, dass eine solche Kennerschaft nie wirklich demokratisch sein kann."

Weiteres: Anthony Lane sah im Kino die Komödie "The Kids Are All Right" von Lisa Cholodenko und die DVD "Die Hölle von Henri-Georges Cluzot". Zu lesen ist außerdem die Erzählung "An Honest Exit" von Dinaw Mengestu und Lyrik von John Ashbery und Stanley Plumly.
Archiv: New Yorker

Polityka (Polen), 02.07.2010

Zwei Tage vor der Präsidentschaftswahl in Polen, bei der Jaroslaw Kaczynski verlor, bilanziert (hier auf Deutsch) der Soziologe Pawel Spiewak, was von der Vierten Republik der Kaczynskis geblieben ist. Nicht viel, meint er. Leider. Denn eine Abkehr von der Dritten Republik (der Transformationszeit), in der sich altlinkes Establishment mit neulinkem Geld unheilvoll verbunden hatte, war völlig richtig: "Am besten illustriert ihre Regierung das Schicksal des Lustrationsgesetzes. Anfangs von der entschiedenen Mehrheit (darunter der PO) im Parlament verabschiedet, wurde es von den Beamten und den Abgeordneten des Herrn Präsidenten so ausgebessert, dass es sich nur noch für den Papierkorb eignete. Es war nicht nur schlecht, sondern auch verwerflich. Die Lustration, um derentwillen die Rechte sich die Kehlen heiser geredet hatte, wurde von ihr selbst auf eigenen Wunsch zunichte gemacht. Denn so war es nun mal mit ihnen: Die PiS-Führer schadeten sich unablässig selbst, sehen es aber bis heute stur nicht ein. Sie redeten von einer neuen Öffnung in der polnischen Politik, von der Vierten Republik, blieben aber in Intrigen, Streitereien und einer primitiven Version des politischen Realismus stecken."
Archiv: Polityka

Observer (UK), 04.07.2010

Andrew Hussey spricht mit Claire Denis über ihre Filme - auch über "White Material", in dem Isabelle Huppert eine Kaffeepflanzerin irgendwo in Afrika spielt, in einem Land, das kurz vor der Revolution steht. Drei Menschen werden genannt, die für Denis wichtig sind: Marguerite Duras, George Bataille und Frantz Fanon: "Denis las Fanon als sie um die 14 war und fand seine Ideen verheerend. Am beschämendsten in seinem Werk fand sie seine Analyse der entwürdigenden Folge von Scham und Erniedrigung, der Kolonisten wie Kolonisierte gleichermaßen befällt. 'Ich begriff, dass Scham das entscheidende Gefühl in dieser Beziehung war', sagt sie, 'auf beiden Seiten, der schwarzen und der weißen.'"
Archiv: Observer

La regle du jeu (Frankreich), 01.07.2010

Stefano Montefiori schildert ein Treffen mit dem Schriftsteller und Journalisten Roberto Saviano, das strengstens bewacht in einem kleinen Restaurant stattfand. Der seit seinem Mafia-Buch "Gomorra" über ihm schwebende Todesfluch, schreibt Montefiori, beeinflusse selbst seine zahllosen Bewunderer. Saviano meint dazu: "Manchmal wird mir bewusst, dass um mich herum eine bizarre Atmosphäre herrscht, eine Art vorauseilender Trauer. Ich sehe in den Augen der anderen eine vorweggenommene Rührung, als hätten meine Äußerungen schon einen gewissen Wert, aber einen geringeren, als sie morgen haben werden, wenn man mich - endlich - ermordet hat."
Archiv: La regle du jeu
Stichwörter: Mafia, Saviano, Roberto

Open Democracy (UK), 01.07.2010

Olga Sherwood besingt einen Helden, den russische Rockmusiker Juri Schewtschuk. Bei einer Charity-Veranstaltung für krebskranke Kinder in Petersburg, bei der Künstler und Intellektuelle mit Wladimir Putin posieren sollten, wischte er alle Kreml-Etikette beiseite und fragte nach: "Schewtschuk begann mit absoluter Selbstbeherrschung die Fragen zu stellen, die in Russland schon lange nicht mehr gefragt werden. Er forderte Wladimir Putin zur Meinungsfreiheit heraus, zur Informationsfreiheit und der Presse; er fragte nach Russlands Zivilgesellschaft, und der Gleichheit vor dem Gesetz. Warum gehen Bergarbeiter in die Schächte wie in ihren sicheren Tod? Warum wurde die Polizei in ein Bestrafungsorgan umgewandelt? Warum werden friedliche Protestkundgebungen so hemmungslos aufgelöst? Beinhalten die aktuellen Pläne der Regierung eine ernsthafte und ehrliche Demokratisierung des Landes?" Die Abschrift dieses Treffens verbreitete sich rasend schnell im Internet, schreibt Sherwood, auch weil sie auf der Webseite des Ministerpräsidenten veröffentlicht wurde: "Ich konnte beim Lesen nur weinen. Abgesehen von der Organisatorin Tschulpan Chamatowa sah nur Schewtschuk in dieser Diskussion würdig aus."
Archiv: Open Democracy

Literaturen (Deutschland), 01.07.2010

In der Titelgeschichte des neuen Hefts geht es um die Lust der Literaten aufs Land. Das Editorial erklärt knapp, was online dann leider überhaupt nicht zu lesen ist.

Im Netz findet sich immerhin Frauke Meyer-Gosaus Kritik des neuen Christa-Wolf-Romans "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud". Über weite Strecken hat die Rezensentin ihn gerne gelesen, aber nicht bis zum Schluss: "Tempi passati also allenthalben, ob das Ich nun auf die Sowjetunion zurückblickt oder eine Fahrt zu den Häusern deutscher Exilanten in L.A. unternimmt, und überall trifft sie auf letztlich sympathische Menschen: ein versöhntes Buch, harmonische Abrundung des langen Wegs einer deutschen Schriftstellerin im 20. Jahrhundert - endete der Roman mit ihrer Abreise von Los Angeles, wäre alles gut. Doch ist dies leider nicht der Fall, und auf den letzten gut dreißig Seiten entringt sich der Leserbrust so manches Stöhnen."

Außerdem: Der Autor Jochen Schmidt schreibt einige sehr schöne Einzeilenromane. Der Schriftsteller Ingo Schulze denkt über den Begriff "Intensität" nach. Stefanie Peter hat "Just Kids", Patti Smiths Erinnerungen an ihre Freundschaft mit dem Künstler Robert Mapplethorpe gelesen. Anders als die meisten Kritiker findet Daniel Kothenschulte durchaus freundliche Worte für Richard Eyres Bernhard-Schlink-Verfilmung "Der Andere" mit Liam Neeson und Antonio Banderas. Jürgen Flimm beantwortet den Fragebogen.
Archiv: Literaturen

MicroMega (Italien), 29.06.2010

Die Opposition Italiens mobilisiert ihre Anhänger gerade gegen einen Gesetzesentwurf der Regierung Berlusconi, der das Abhören von Telefonaten beschränken und die Veröffentlichung von Material aus abgehörten Telefonaten unter Strafe stellen soll (hier unter anderem ein Video mit dem Auftritt des Schriftstellers Roberto Saviano auf der zentralen Kundgebung auf Roms Piazza Navona am 1. Juli). Giovanni Perazzoli protestiert auch, geht aber einen Schritt weiter und fordert, nicht immer nur die neueste Unverschämtheit zu bekritteln, sondern sich mal Gedanken über das System Silvio selbst zu machen. "Während die Demokratie und ihre freien Wahlen auf der ganzen Welt als unabdingabre Voraussetzung für eine legitime Machtausübung gesehen werden, hat sich ihr realer Inhalt verflüchtigt. Ohne liberale Zutaten - Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Verteidigung der Meinungsfreiheit und der Presse - werden die freien (oder ziemlich beschränkten) Wahlen nur zum Deckmäntelchen für die Regime. Interessanterweise hat das Gianni Riotta schon im Jahr 1998 im Corriere della sera beschrieben, in einer Besprechung der Theorien von Robert Kaplan und Fareed Zakaria. In einem jüngeren Buch, "The Future of Freedom. Illiberal Democracy at Home and Abroad" (2003), hat Fareed Zakaria dann erläutert, wie sich ein neues politisches Monstrum auf dem Planeten ausbreitet, die illiberale Demokratie: ein System, das sich wunderbar mit Wahlen und mit den dazugehörigen Institutionen legitimiert, aber in Wirklichkeit die liberalen Prinzipien der Meinungsfreiheit und der Gleichheit vor dem Gesetz aufgibt, um so eine neue Art von Herrschaft zu definieren."
Archiv: MicroMega

La vie des idees (Frankreich), 02.07.2010

In seinem Buch "Les metamorphoses du gras", einer Kulturgeschichte der Fettleibigkeit, untersucht Georges Vigarello Körper- und Schönheitsbilder seit dem Mittelalter, in dem Gefräßigkeit verurteilt wurde, bis zur Gegenwart, die von Übergewicht geradezu besessen ist. Dickleibigkeit, so sein Befund, hat immer Kritik erregt und ist Teil der Logik sozialer Unterscheidung. So ist etwa in bestimmten Berufsgruppen wie bei Metzgern Übergewicht tolerierter als in anderen und steht quasi symbolisch für das, was sie verkaufen. Rezensent Thibaut de Saint Pol schreibt: "Der Autor vermerkt auch, dass Übergewicht beim weiblichen Körper viel strenger beurteilt wird, während es bei Männern deutlich stärker toleriert wird, weil Umfang häufiger den sozialen Status übersetzt. Weibliche Schönheit, für die Korpulenz ein wesentliches Merkmal ist, erscheint folglich als 'dekorative Schönheit', für den Empfang und das 'Innen' gemacht, im Gegensatz zur männlichen Erscheinung, die sich ans 'Außen' richtet und an der man vor allem Kraft würdigt."

London Review of Books (UK), 08.07.2010

David Kaiser erzählt die Geschichte der Suche nach Kontakt mit außerirdischem Leben. Dass die US-Regierung das SETI-Projekt schon lange nicht mehr unterstützt, hält er dabei für einen Fehler. Nicht, weil uns tatsächlich demnächst ein Alien-Anruf erreichen könnte, sondern weil Alien-Know-How auch für die Kommunikation mit unserer eigenen Zukunft sehr hilfreich sein könnte: "Tatsächlich könnte SETI sich als Segen erweisen, wo es um Probleme der Nukleartechnologie geht. Einige der gefährlichsten Nebenprodukte des Nuklearzeitalters, darunter Plutonium-Isotope, haben Halbwertszeiten von hunderttausenden Jahren. Eine Herausforderung liegt darin, Weltgegenden zu finden, die über solche Zeiträume geologisch stabil sind, um die Abfälle dort zu vergraben. Eine zweite Herausforderung allerdings besteht darin, Symbole zu entwerfen, um unsere Abkömmlinge 300.000 Jahre in der Zukunft davor zu warnen, just in diesen Gegenden herumzubuddeln."

Jenny Turner berichtet von einer "Battle of Ideas" genannten Veranstaltung, auf der es um allerlei Vorschläge für eine bessere Zukunft ging: "Zwischen den Vorträgen wanderte ich von Stand zu Stand im Marktplatz Der Ideen... Da gab es den ManifestoClub ('Für Freiheit im Alltagsleben'): 'Wir veranstalten Picknicks an öffentlichen Orten', erklärte mir das sehr nette Mädchen, 'und wir rauchen und trinken dabei.' Oder WorldWrite ('Ferraris für alle'): 'Wir sind gegen die Idee des Mitleids', sagte ein junger Mann, während er mir eine DVD mit dem Titel Flush It! andrehen wollte, auf der es darum geht, wie der Westen den 'Mitbewohnern unserer Welt' qualitativ schlechte Toiletten andreht."

Weitere Artikel: Madelaine Reeves schildert die Ursprünge der Gewalt in Kirgistan. Peter Godfrey-Smith erklärt, wie Jerry Fodor und Massimo Piattelli-Palmarini in ihrem Buch "What Darwin Got Wrong" (dt. "Hier irrte Darwin") mit Hilfe sprachanalytischer Philosophie Mängel der Evolutionstheorie nachweisen wollen - und vor allem deshalb scheitern, weil sie einen zu engen Begriff vom Darwinismus haben. Peter Campbell besucht die Ausstellung "Magnificent Maps" in der British Library.