Magazinrundschau

Blicken Sie ins Dunkel

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
20.12.2011. In der Lettre erklärt Peter Nadas, an welcher Station die Ungarn auf ihrem langen Marsch in die Demokratie gerade angekommen sind. Im New Statesman rühmt Slavoj Zizek die Mordmaschine Coriolanus. Im Guardian staunt Julian Barnes über den Unterschied zwischen Essay und Essai. In Elet es Irodalom erkennt Adam Michnik keinen Unterschied zwischen lechts und rinks mehr. Nonfiction.fr fordert eine Liberalisierung der Migration. Prospect skizziert die Zukunft der Literatur: Sie ist kurz, aber ernst.

Lettre International (Deutschland), 01.12.2011

Marschieren die Ungarn geradewegs auf einen autoritär-nationalistischen Staat zu, der sich, kaum hat er sie gewonnen, der Demokratie auch schon wieder entledigt? Peter Nadas legt in langen, luziden Sätzen die Schichten der ungarischen Gesellschaft frei, die sich nach "150 Jahren türkischem Sultanat, 300 Jahren österreichischer Kaiserherrschaft, einigen harten Monate deutscher Besatzung im Verbund mit den ungarischen Pfeilkreuzlern und vierzig Jahren sowjetischer Diktatur" gebildet haben und heute die Herausbildung eines demokratischen Geistes so erschweren. Und doch ist er für die Zukunft nicht pessimistisch: "Wenn jemand angesichts der unheilverkündenden Zeichen meint, in Ungarn sei jetzt die Zeit des starken, totalen, diktatorischen, allmächtigen Staates angebrochen, dann irrt er, denn er muss sich mit einer langweiligen, im wesentlichen kleinbäuerlich-autoritären Herrschaft begnügen: Achten Sie bitte auf die Hand des Zauberers oder blicken Sie ins Dunkel. In der traditionellen Logik der ungarischen Gesellschaftsentwicklung hat die Modernisierung seit mehr als 200 Jahren Vorrang, und es besteht trotz der riskanten Politik der Nationalkonservativen [um Viktor Orban] Hoffnung auf einen erfolgreichen Abschluss des Modernisierungsprozesses. Ich verstehe, dass das schmerzlich ist für Sozialisten und Liberale, welche die Modernisierung gern als ihre ureigene Sache sähen; für mich hingegen ist die chronische Blindheit der Sozialisten und Liberalen schmerzlich." Hier ein Auszug aus Nadas' Essay.

Georg Stefan Troller erinnert sich an bedeutende Fotografen, die er kennengelernt hat, zum Beispiel Man Ray, der er in Zusammenhang mit einem Film rund um Hemingways Memoirenband "Paris - ein Fest fürs Leben" interviewte: "'Have fun and hunt for liberty', diesen Satz sollten wir immerhin bringen über ihn und ihn ansonsten in Ruhe lassen. Aber natürlich fällt ihm gerade jetzt noch etwas ein, das er unbedingt drin haben möchte: 'Auch das mit der verlorenen Generation habe ich nie ganz kapiert. Ich hielt mich eher für die gefundene!' Und mit plötzlicher Eingebung: 'La generation trouvee. Also der Zufallsfund, den man spornstreichs zum Konzept umfunktioniert.' Das alles in dem ordinären näselnden Brooklyn-Dialekt." Hier der Auszug.

New Statesman (UK), 16.12.2011

Ganz aus dem Häuschen ist Slavoj Zizek von Ralph Fiennes' "Coriolanus"-Verfilmung, die ihm zwei Dinge zeigte: Das Stück ist besser als Hamlet, und Coriolanus gar kein fanatischer Militarist, sondern ein radikaler Freiheitskämpfer!: "Ja, Coriolanus ist eine Mordmaschine, ein perfekter Soldat, aber er ist nicht an eine feste Klasse gebunden, er kann sich auch den Unterdrückten in den Dienst stellen. Wie Che Guevara es ausgedrückt hat: 'Hass ist ein Element des Kampfes; rücksichtsloser Hass auf den Feind treibt uns über die natürlichen Grenzen des Menschseins und verwandelt uns in effiziente, gewalttätige, ausgewählte und kalte Killermaschinen. So müssen unsere Soldaten sein; ein Volk ohne Hass kann einen brutalen Feind nicht besiegen.'" (Und Arno Breker soll ihn in Stein hauen!)

Jason Cowley wird in seinem Nachruf auf Christopher Hitchens, der im New Statesman seine Journalistenkarriere begann, nicht unhöflich, bleibt aber kühl: "Hitchens war vieles zugleich: Polemiker, Reporter, Autor, Rhetoriker, militanter Atheist, Trinker, Name-dopper, Erzähler. Er war auch ein Absolutist. Er mochte es, ein klares Ziel ins Visier zu nehmen und drauflos zu feuern; er wusste, wogegen er schreiben wollte und tat dies mit all der Kraft und Macht seiner formidablen Gelehrsamkeit und Eloquenz."

Zu lesen ist ein kurzer Auszug aus dem letzten Interview, das Richard Dawkins mit seinem atheistischen Mitstreiter Hitchens führte.
Archiv: New Statesman

Espresso (Italien), 16.12.2011

David Letterman gibt es jetzt auch im italienischen Fernsehen, und Umberto Eco empfiehlt die Talkshow als Schnellkurs zum Wesen des Durchschnittsamerikaners. "Lettermann ist in diesem Sinne kein Vertreter der amerikanischen Intelligenz, sondern jener großen Masse, die im Zentrum des Kontinents lebt und Zeitungen liest, die von der Geburt eines Kalbs mit zwei Köpfen im Bezirk berichten und wo der Rest des Planeten nur in vagen Andeutungen erwähnt wird, wo die New York Times nicht ausgeliefert wird oder wo man sie nur an einigen wenigen Stellen kaufen kann (...) Vor einigen Jahren schmeckte auf einer Konferenz in Florenz einer Person, die im Pentagon oder im Weißen Haus arbeitete, ich weiß es nicht mehr genau, beim Mittagessen ein Fisch ganz hervorragend, und nachdem sie hörte, dass er aus dem Mittelmeer stammte, kam die Frage, ob das ein 'salt lake', also ein salziger See sei." (Ach, Umberto, ja es gibt Hinterwäldler in den USA. Aber die NYT gibt es jetzt doch auch im Internet! Und in Kalabrien gibt es genügend Zeitgenossen, die noch nie was vom Great Salt Lake gehört haben.)
Archiv: Espresso

Guardian (UK), 17.12.2011

Julian Barnes hatte noch nie vom Europäischen Buchpreis gehört, bis er vor einem Monat gebeten wurde, als diesjähriger Präsident der Jury zu fungieren. Alles in allem hatte er Spaß mit seinen französischen und belgischen Kollegen: "Manchmal waren wir allerdings etwas verwirrt von der Unschärfe der Kategorien. Ich fragte einen französischen Journalisten in der Jury, ob er mir erklären könne, was genau als Essai gelte. Er lächelte pariserisch: 'Das ist eine Kategorie für Intellektuelle.'" Mit dem Preis für den besten Essai wurde dann die polnische Journalistin Anna Bikont ausgezeichnet, die über das Massaker von Jedwabne schrieb. Der Preis für den besten Roman ging an den deutschen Autor Maxim Leo für "Haltet Euer Herz bereit". Der Buchpreis wurde übrigens, wie man auch aus diesem Artikel erfährt, von Jacques Delors begründet.

Der Schriftsteller Ian McEwan erzählt, wie er Christopher Hitchens in dessen letzten Lebenswochen bei einem Besuch im Krankenhaus in Houston erlebt hat: Schreibend natürlich, an einem langen Stück über Chesterton: "Stellen Sie sich diese Kombination vor: Chronische Schmerzen, schwach wie ein Kätzchen, runtergezogen vom Morphium, dann das Gewirr von Theologie und Politik während der Reformation, Chestertons romantisches Fantasie-England..., mit dem Christopher aufräumen wollte. Von Zeit zu Zeit sank sein Kopf, seine Augen waren geschlossen, dann weckte er sich mit übermenschlicher Anstrengung selbst wieder auf, um noch eine Zeile zu schreiben. Sein gutes Gedächtnis kam ihm zupass, denn er hatte nicht all die üblichen Bücher zur Hand. Wenn die Kritik herauskommt, lesen Sie sie."
Archiv: Guardian

Elet es Irodalom (Ungarn), 16.12.2011

Vor wenigen Tagen ist in Budapest ein Essayband ("Szemben az arral" - "Gegen die Strömung") von Adam Michnik erschienen, dem Herausgeber der linksliberalen polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza. Aus diesem Anlass sprach der ungarische Publizist und Polonist, Andras Palyi, der die Essays von Michnik für das Buch zusammengestellt und übersetzt hat, mit Michnik. Auf Palyis Frage, was der Nährboden des im Buch beschriebenen neuen Populismus ist, antwortet Michnik: "Es wird immer deutlicher, dass die gewohnte Grenze zwischen Links und Rechts verschwindet, die Gesellschaft von heute ist anders gegliedert. Die Nostalgie nach dem Kommunismus verflicht sich zunehmend mit den Phrasen des leidenschaftlichen Antikommunismus, die radikale Rechte versteht sich immer öfter mit den Vertretern des konservativen kommunistischen Parteibetons, die natürlich auch vor manchem Opportunismus nicht zurückschrecken. Wir sind Zeugen einer gewissen kapitalismusfeindlichen Gemütswelle - besonders in Polen, aber nicht nur dort -, die die Wurzel allen Übels in den Neureichen, in den Oligarchen sieht. Womit ich nicht sagen will, dass die Oligarchen Heilige sind, ganz im Gegenteil, aber diese Logik des Affekts, diese vielsagende Suche nach dem Sündenbock, die mit der Infragestellung der rechtsstaatlichen Grundlagen und der Geringschätzung der Demokratie einhergeht, mit der Überzeugung, dass wir irgendwie ausgeraubt wurden und es unser natürliches Recht ist, die Diebe zur Rechenschaft zu ziehen - all das ist stets die Wiege des totalitären Denkens gewesen und ist es auch heute."

Economist (UK), 17.12.2011

Die größten Proteste seit den frühen Neunzigern in Russland markieren diesem Artikel zufolge die Geburt einer russischen Bürgerschaft: "Eine Phase wirtschaftlichen Wachstums hat Russlands Mittelschicht zahlenmäßig wachsen und aktiver werden lassen. Sie umfasst nun etwa 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung (...). Nachdem sie etwa das westliche Konsumniveau erreicht hat, fordert sie Respekt, unabhängige Gerichte, eine gesetzeskonforme Polizei, sowie eine gute Gesundheitsversorgung, Bildung und intelligentes Fernsehen. Sie ist Putins überdrüssig und sucht nach einer wirklichen politischen Repräsentation."

Weiterhin erfährt man, was für ein Geschäftsmann Albrecht Dürer war, dass Martin Luther ein Social-Media-Pionier war, auf welche Weisen sich die Schwarmintelligenz von Fußgängermassen erforschen lässt, was es mit dem Higgs-Teilchen auf sich hat, das womöglich im CERN gefunden wurde, und welchen Zweck die menschliche Körperbehaarung hat. Daneben werden eine Ausstellung im Pariser Museum Jacquemart-Andre mit Arbeiten von Fra Angelico, sowie eine Ausstellung im Florentiner Fondazione Palazzo Strozzi über Boticcelli und seine Bankiers empfohlen.

Archiv: Economist

nonfiction.fr (Frankreich), 18.12.2011

Hm, ob hiesige Globalisierungskritiker diese Überlegungen nachvollziehen könnten? In nonfiction.fr fragt ein Autor, dessen Name nicht zu finden ist: "Was wäre, wenn die Menschen dieser Welt sich frei bewegen dürften?" Zwei neuere Bücher haben ihn zu dieser Frage inspiriert. Es sei nicht mehr akzeptabel, "die Bewegungen von Menschen zu begrenzen, während Waren und Geld ohne jede Beschränkung zirkulieren dürfen. Wir müssen zu einem System zurückkehren, in dem der Mensch vor den Gütern und den Märkten steht. Der Konnex zwischen Migration und und Entwicklung zeigt, wie sehr Migration von den Regierungen als Instrument wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung und als Hebel für eine globale Verbesserung des menschlichen Schicksals begriffen werden muss. Jenseits eines utopischen Denkens ist es an der Zeit, die Migration aus dem Prisma eines bloßen Sicherheitsdenkens zu rücken und die Augen für den realen Beitrag der Migranten für ihre Heimat- und für ihre Gastländer zu öffnen." Zumindest solange, bis die Gewerkschaften protestieren!
Archiv: nonfiction.fr

Prospect (UK), 14.12.2011

Viele große amerikanische Schriftsteller wenden sich derzeit wieder der Kurzgeschichte zu, beobachtet Ruth Franklin anlässlich der Veröffentlichung zweier Anthologien und sieht damit die Form nach einer brachen Dekade neu heranreifen: "Liest man heute die ersten Ausgaben des Magazins McSweeney's aus den Jahren 1998 und 1999, in denen offenbar nichts ernst genommen wurde, so ist das wie eine Zeitreise in die irrationale Ausgelassenheit jener Jahre. Jetzt, knapp über ein Jahrzehnt später, befindet sich Amerika - und damit Amerikas Belletristik - an einem gänzlich anderen Ort. Die fortlaufend steigende Angst hierzulande weckt ein Bedürfnis nach Literatur, die sich mit 'wichtigen und moralisch aufgeladenen' Themen befasst - sowohl in der langen Form des narrativen Journalismus, als auch in den Kurzgeschichten, die man immer noch dazwischen gestreut finden kann. Wer möchte auch schon nach einer Fotostrecke aus Abu Ghraib oder einem investigativen Artikel über Gefängnisse des CIA auf eine weitere, unbekümmerte Fingerübung in Ironie stoßen? Die Experimentalisten der 90er Jahre waren für das folgende Jahrzehnt ganz einfach nicht gewappnet."

Weiteres: Rachel Aspden trifft in Ägypten die koptische Christin Samia, die skeptisch abwartend in die Zukunft ihres Landes blickt (und schon jetzt nur zwei Drittel des Lohns ihrer muslimischen Kollegen verdient). James Maxintyre verbringt die Nacht im Londoner Occupy-Camp vor St. Paul's.
Archiv: Prospect