Heute in den Feuilletons

Auf keinen Fall ein Österreicher über fünfzig

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.09.2008. In der taz erklärt Michael Hardt der orientierungslosen Multitude, wo heute die Macht ist: auf Knoten in einem Netzwerk. Auf der Achse des Guten deckt der Politologe Matthias Küntzel eine überraschende Quelle für den modernen Dschihadismus im Islam auf: Kaiser Wilhelm. Die NZZ sieht die Finanzkrise als moralische Krise. In der FAS plädiert Daniel Kehlmann für eine Abschaffung des Deutschen Buchpreises. Die SZ begibt sich auf die Suche nach dem "Hidden Intellectualism".

TAZ, 22.09.2008

Braucht eine revolutionäre Bewegung nicht einen klaren Gegner wie George W. Bush, fragt Ulrike Hermann den Kapitalismuskritiker Michael Hardt. Nein, meint der. Der Protest gegen Bushs Politik "war ein Rückschritt zu einer älteren Form des linken Aktivismus. Wieder wurde von der falschen Prämisse ausgegangen, dass die USA noch die globale Politik diktieren könnten. Dabei waren die Globalisierungskritiker zwischen 1999 und 2003 schon weiter und haben mit verschiedenen Gegnern experimentiert: WTO, EU, G 8, IWF, Weltbank. Das war eine sehr intelligente Form der Theoriebildung, wie die neue globale Struktur aussehen könnte: Die Macht ist heutzutage auf Knoten in einem Netzwerk verteilt."

Für den Kulturteil hat Torben Ibs fünf Stunden lang die "Matthäuspassion" auf sich wirken lassen, mit deren Inszenierung Sebastian Hartmann seine Intendanz am Schauspiel Leipzig einläutete: "Am Ende bereitet das Leipziger Publikum seinem neuen Intendanten Sebastian Hartmann und seinem Team einen warmen Empfang. Lautes Bravo übertönt die wenigen Buhrufe, und die Zuschauer spenden nach der Premiere der 'Matthäuspassion' im ausverkauften Centraltheater minutenlang Applaus. Und das, obwohl sie seit fünf Stunden mit Bibelzitaten und Glaubensfragen von der Bühne her bombardiert worden sind".

Besprochen werden weiter zwei Ausstellungen über das Transzendente in der Kunst - "Traces du Sacre" im Münchner Haus der Kunst und "Wassily Kandinsky. Absolut. Abstract" im Münchner Lenbachhaus -, eine Werkschau Otto Pienes im Dortmunder Museum am Ostwall und ein Konzert der iranischen Rockband Dash beim Morgenland Festival in Osnabrück.


Schließlich Tom.

Aus den Blogs, 22.09.2008

Auf eine überraschende Quelle des modernen Dschihadismus im Islam macht der Politologe Matthias Küntzel in einem auf der Achse des Guten publizierten Artikel über die Besonderheiten des islamischen Antisemitismus aufmerksam: "Es dauerte einige Jahrzehnte, bis sich der frühislamischen Judenhass mit der antisemitischen Weltverschwörungstheorie verband. Erst zwischen 1937 und 1945 wurde diese Fusion besiegelt und die Ideologie des islamischen Antisemitismus massenhaft verankert. Das entscheidende Instrument hierfür war die nationalsozialistische Propaganda in der islamischen Welt... Der Nationalsozialismus... baute hierbei auf ein Spezifikum der deutschen Politik im Ersten Weltkrieg auf. Schon damals wurde hemmungslos die in der islamischen Welt kaum noch virulente Dschihad-Idee wiederbelebt und in den Dienst der deutschen Weltkriegsinteressen gestellt. Mit Hundertausenden von Flugblättern auf arabisch, persisch und türkisch und mehreren Millionen Reichsmark suchte das Kaiserreich die islamischen Massen in den von Frankreich, Russland und Großbritannien kontrollierten Gebieten aufzustacheln. Wöchentlich wurde damals von Berlin aus die Zeitschrift al-Jihad in verschiedenen Sprachen in die islamischen Gebiete geschickt."

Im Gegensatz zu Randall Stross in der New York Times (hier) fürchtet Michael Arrington in Techcrunch eine Monopolbildung im Internetwerbemarkt durch den Deal zwischen Google und Yahoo: "Those third party companies (like MySpace, Facebook, Digg, Ask, AOL and now Yahoo) are at the long term mercy of Google when their first agreements come up for renegotiation. Google may give Yahoo most of the revenue today from Google ads, but in ten years when Google is the only player in town, look for the terms to move towards a more standard Monopolistic model."

Ralf Bendrath stellt in Netzpolitik.org "The Privacy Advocates" vor, ein Buch des Politologen Colin Bennett, das erstmals die Datenschutz-Bewegung in ihrer Gesamtheit untersucht: "Nach seiner Einschätzung hat das internationale Netzwerk der Datenschutz-Aktivisten das Potenzial, zu einer breiten sozialen Bewegung zu werden, so wie es die Umweltbewegung vorgemacht hat."

NZZ, 22.09.2008

Andrea Köhler blickt tief in die von der Finanzkrise gezeichnete amerikanische Seele: "Der Vorrang der Manien vor den Depressionen gehört laut Peter Sloterdijk zum psychodynamischen Gesellschaftsvertrag der USA. Das kann man auch Optimismus nennen." Mit dem Schwanken der freien Märkte habe dieser Optimismus freilich einen Knacks bekommen. Denn der gerne zitierte Amerikanische Traum beruhe auf einer "Idee, die den Dollar als Äquivalent für das Glück ansetzt. Auch darum ist die Finanzkrise in Amerika eine moralische Krise, die tief in den kollektiven Seelenhaushalt eingreift."

Weitere Artikel: Peter Hagmannn ist euphorisiert vom Abschluss des Lucerne-Festivals. Joachim Güntner reiste nach Bamberg, um den Wert des dort aufbewahrten Karl-May-Nachlasses einzuschätzen. Georges Waser blickt voraus auf die Olympischen Spiele in London, die schon jetzt mit einem Kulturmarathon ihre Schatten vorauswerfen.

Besprochen werden die Uraufführung von Beate Fassnachts Oper "Die Brust von der Frau aus Chur" in Basel, die Aufführung von Per Norgards "Der göttliche Tivoli" am Stadttheater Bern und eine Ausstellung, die sich dem Klimawandel widmet, im Kunstmuseum Thurgau.

nachtkritik, 22.09.2008

Christoph Schlingensief eröffnet mit "Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" eine "neue Dimension des Authentischen auf der Bühne", der an Lungenkrebs erkrankte Regisseur "verhandelt den eigenen Tod", schreibt Dorothea Marcus. "Aber es ist vor allem eine Geisteraustreibung und eine Gebetsmesse. Wir sind diejenigen, die für Schlingensief Fürbitte halten, er bringt uns sich selbst als Opfer dar. Doch dann dreht er die Schraube noch weiter, macht den Abend zu seiner eigenen Begräbnisfeier, zu seinem Vermächtnis - und zu seiner Auferstehung. Und so wird selbst die brutale persönliche Krankengeschichte des 'zukünftig Verstorbenen' zu jenem verwirrenden, komplexen und dialektischen Doppelumschlag, den man von ihm kennt. Denn auf der Suche nach Gott kommt Schlingensief natürlich nicht an der Kunst und an sich selbst vorbei."
Stichwörter: Schlingensief, Christoph

FR, 22.09.2008

Thomas Klatt stellt ein Buch des Journalisten Sascha Adameks vor, der in "Der gekaufte Staat" den Einfluss von Lobbyisten auf die Parlamentarier untersucht. Besprochen werden Florian Fiedlers Inszenierung von Kleists "Amphitryon" am Schauspielhaus Frankfurt, Stefan Keims Inszenierung von Tom Waits' "Woyzeck"-Opera im Theater Oberhausen, der vierte Roman des Finnlandschweden Kjell Westö, "Wo wir einst gingen" (ein "starkes" und dennoch unaufdringliches Portrait der finnischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, schreibt Harry Nutt) und Ben Ratliffs Buch über Jazz-Legende John Coltrane.

Welt, 22.09.2008

Luc Bondy hat an der Berliner Volksbühne Genets "Zofen" mit einem eigenwilligen Schauspielerinnentrio besetzt: Edith Clever, Caroline Peters und Sophie Rois. Reinhard Wenigerek ist trotzdem nicht zufrieden: "So zelebriert denn unser apartes Damentrio mit Teetasse, Staubwedel, Perlenkette und Gummihandschuhen im ganzen gesehen nichts als die zeitlos neckischen Zeremonien dezent frivoler Posen von drei nett exaltierten Weibern. Und die interessieren uns, halten zu Gnaden, einen feuchten Kehricht."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr kommentiert den Ausgang der Arte-Wahl zum "King of Drama", bei der Schiller überraschend gut abschnitt. Uta Baier gratuliert der Kulturstiftung der Länder zum Zwanzigsten, deren Chefin Isabel Pfeiffer-Poensgen aus diesem Anlass auch interviewt wird. Auf der DVD-Seite geht's unter anderem eine Box mit RAF-Filmen.

FAZ, 22.09.2008

In der FAS plädierte Bestsellerautor Daniel Kehlmann in deutlichen Worten für die Wiederabschaffung des Deutschen Buchpreises (Website), dessen Spektakelcharakter er kritisiert. Er hat aber auch andere Argumente: "Es ist ein offenes Geheimnis, dass Bücher, die nicht auf der sogenannten Longlist stehen, kaum noch rezensiert werden, ganz gleich, wie gut sie sind, und ganz gleich, von wem. Ein offenes Geheimnis ist auch, dass die Wertungen der Jury trotz unterschiedlicher Teilnehmer immer wieder nach den außerliterarischen Mechanismen eines zwar nicht korrupten, aber doch sehr verfilzten Milieus erfolgen, in dem Sätze wie 'auf keinen Fall ein Österreicher über fünfzig!' ... oder 'bloß nicht wieder an Michael Krüger!' ... die Diskussionen prägen, ohne dass jemand darin noch etwas Schlimmes sähe. " (Der Text steht allerdings neben der großen Aufmacherbesprechung von Christian Krachts auch sonst bereits viel besprochenem neuem Roman, nach dem man auf der Longlist vergeblich suchen wird.)

In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Preises der Frankfurter Anthologie erzählt die Autorin Eva Demski in der heutigen FAZ unter anderem, dass sie sich nicht einmal von Siegfried Unseld von ihrer Liebe zur journalistischen Arbeit hat abbringen lassen. Florian Balke berichtet in einem weiteren Artikel von der Verleihung des Preises. Alexander Camman macht sich Gedanken zur Geschichtspolitik der SPD und insbesondere ihres Kanzlerkandidaten. In der Glosse kommentiert Paul Ingendaay bevorstehende Ausgrabungen von Bürgerkriegsopfern aus Massengräbern. Dieter Bartetzko freut sich über die gelungene Sanierung des Frankfurter Amerika Hauses - das jetzt als neu eröffnete weitere Filiale des spanischen Cervantes-Kulturinstituts fungiert. Ulrich Olshausen berichtet vom Frankfurter "ECM-Festival/Spuren 1 - Musik und Film" (Website). Matthias Hannemann war in Köln, wo eine versammelte Linke zwar die Anti-Moschee-Truppen von "Pro Köln" besiegte - zugleich aber erlitt, findet Hannemann, auch die Meinungsfreiheit einen Schaden. Vieles, nicht zuletzt das späte Geständnis eines Mittäters, erklärt Jordan Mejias, deutet inzwischen daraufhin, dass der im Jahr 1953 wegen Spionage hingerichtete Julius Rosenberg - nicht aber seine ebenfalls hingerichtete Frau Ethel - tatsächlich in Diensten der Sowjetunion stand. Max Nyffeler porträtiert den Bratischsten Antoine Tamestit, der den mit 75.000 Euro dotierten "Credit Suisse Young Artist Award 2008" erhält.

Besprochen werden Aufführungen der Albert-Camus-Stücke "Das Missverständnis" und "Caligula" in Berlin, eine Ausstellung mit Eugene Delacroix' Tasso-Variationen in Winterthur, und Bücher, darunter zwei Bände mit den Kindheitserzählungen des polnischen Schriftstellers Wlodzimierz Odojewskis und Daniel C. Dennetts naturalistische Aufklärung der Religion "Den Bann brechen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 22.09.2008

Lothar Müller stellt Thesen des US-Literaturwissenschaftlers Gerald Graff und des Soziologen Heinz Bude vor, die auf erstaunliche soziale und geistige Leistungen bildungsferner und ausbildungsmüder Jugendlicher in ihren Peer-Groups aufmerksam machen: "Bude bestreitet nicht die in den PISA-Studien konstatierten Bildungsdefizite. Er bestreitet lediglich die Haupttendenz der aktuellen bildungspolitischen Diskussion: Figuren der 'Bildungsferne' ausschließlich als Mängelwesen wahrzunehmen, statt als komplexe Mischwesen, die sowohl aus Nicht-Können wie aus Können bestehen. Wonach Bude sucht, das hat der amerikanische Literaturwissenschaftler Gerald Graff vor einigen Jahren in einem sehr erfolgreichen Aufsatz als Phänomen des 'Hidden Intellectualism' in der Zeitschrift Pedagogy beschrieben: das Zirkulieren intellektueller Energien und Fertigkeiten in Sphären, wo man sie nicht vermutet."

Weitere Artikel: Bernd Graff kommentiert Studien, die herausgefunden haben wollen, dass wir am Bildschirm Texte kaum Satz für Satz lesen, sondern nur sehr oberflächlich scannen. Henning Klüver meldet, dass sich die Opernkrise in Italien verschärft - nun wurde auch die Arena von Verona unter Notverwaltung gestellt. Der Historiker Robert Knight erinnert an die Austreibung des Slowenischen aus Kärnten vor fünfzig Jahren. Enttäuscht zeigt sich Jörg Häntzschel vom Neubau, der jetzt an der Stelle der spektakulär seltsamen einstigen "Gallery of Modern Art" (Bild) am New Yorker Columbus Circle steht. In den Nachrichten aus dem Netz macht Niklas Hofmann auf ein Experiment der Zeitschrift Wired aufmerksam, in deren Blog die Entstehung eines im November erscheinenden Artikels zu Charlie Kaufmans Regie-Debüt "Synecdoche, New York" zu verfolgen ist. Auf der Medienseite informiert Peter Burghardt über die Pläne des mexikanischen Multimilliardärs Carlos Slim mit der New York Times.

Besprochen werden die drei unterschiedlich gut gelungenen Saisoneröffnungsinszenierungen in Stuttgart, eine "kongeniale" Schorsch-Kamerun-Version von Rolf Dieter Brinkmanns "Westwärts" bei der Ruhrtriennale, eine Gala zu Ehren des Choreografen Jerome Robbins in Paris, die Ausstellung "Raub und Restitution" im Berliner Jüdischen Museum, Andreas Morells Film "Unschuld", neue DVDs mit Filmen von unter anderem Godard und Pudowkin und Bücher, darunter Judith Kuckarts Roman "Die Verdächtige" und Robert Fossiers Buch über "Das Leben im Mittelalter" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).