Heute in den Feuilletons

Ein Fingernagel in ihrer Suppe

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.03.2010. In der FR erzählt Liao Yiwu, wie ihn das Gefängnis zum Reportageschriftsteller machte. Golem meldet: Die Telekom löscht 19 Terabyte Vorratsdaten. In der NZZ trägt der Theologe Friedrich Wilhelm Graf zur weiteren Ernüchterung Margot Käßmanns bei. Die Welt warnt: Man kann Joanna Newson nicht einfach den New Weird Americana zuordnen. In der taz kritisiert Ralf Bönt das neue Prestige der Religionen. 

FR, 04.03.2010

FR-Korrespondent Bernhard Bartsch hat in Chengdu den Schriftsteller Liao Yiwu ("Fräulein Hallo und der Bauernkaiser") getroffen, der nun nicht nach Deutschland reisen durfte. Er erzählt ihm, wie er im Gefängnis vom Propagandadichter zum Reportageschriftsteller wurde: "In Endlosschlaufen erzählten die Insassen einander ihre Geschichten: Einer hatte Mädchen gekidnappt und in die Prostitution verkauft. Ein anderer hatte seine Frau getötet und schon fast vollständig an seine nichtsahnende Familie verfüttert, als seine Mutter einen Fingernagel in ihrer Suppe fand... Nach seiner Entlassung begann er, unter einer Brücke Kleidung zu verkaufen und in seiner freien Zeit die Geschichten seiner Zellengenossen aufzuschreiben. Aus dem seelischen Verarbeitungsprozess wurde ein literarischer Neuanfang."

Weitere Artikel: In Times mager kommentiert Hans-Jürgen Linke die Sturmschäden in Frankreich. Judith von Sternburg stellt die Träger des diesjährigen Chamisso-Förderpreises vor.

Besprochen werden Filme, darunter "Männer, die auf Ziegen starren" (mehr hier), Matti Geschonnecks "Boxhagener Platz" (mehr hier), Benjamin Heisenbergs "Der Räuber" (mehr hier) und "Crazy Heart" mit Jeff Bridges (mehr hier).

NZZ, 04.03.2010

Auch Bischöfe haben nach protestantischem Verständnis keine anderen geistlichen Qualitäten als alle anderen evangelischen Pfarrer, erklärt der Theologe Friedrich Wilhelm Graf. Er findet, dass Margot Käßmanns Entscheidung zum Rücktritt von allen kirchlichen Ämtern eine konsequente Folge ihrer Alkohol-Fahrt ist und kritisiert Käßmanns Tendenz zur Selbstinszenierung und zum Moralprotestantismus: "Dies blieb für das hohe Amt, das sie bekleidete, nicht folgenlos. Wer die eigene präreflexive Unmittelbarkeit, die Übereinstimmung mit dem eigenen Ich, öffentlich in Szene setzt, droht den Unterschied von öffentlichem Amt der Wortverkündigung und eigener Person einzuebnen. Bisweilen gewannen Margot Käßmanns Auftritte Züge der Vermarktung einer protestantischen Ich-AG. Dass das Amt noch mehr und anderes als die Person ist, liess sich dann nicht mehr wahrnehmen."

Weitere Artikel: Marisa Buovolo spürt dem Dresscode der fünfziger Jahre nach und wirft einen Blick auf die Arbeit der Kostümbildnerin Sandy Powell, die gerade Leonardo di Caprio und Mark Ruffalo in Scorseses Film "Shutter Island" eingekleidet hat. Christine Wolters hat den von der Camorra verfolgten Schriftsteller Roberto Saviano live im Piccolo Teatro in Mailand gesehen, wo er an zehn Abenden Kontakt zum Publikum suchte: "Er zeigt eine Kalaschnikow, lässt sie durch die Hände des Publikums wandern, die mörderischste Waffe des Jahrhunderts, dazu läuft eine Tonaufzeichnung eines Mafiamordes."

Besprochen werden die Uraufführung von Kaija Saariahos Oper "Emilie" in der Lyoner Oper ("So hat die Oper Zukunft"), Tim Burtons Fantasy-Neuverfilmung des Klassikers "Alice im Wunderland", Anna Luifs Bollywood-Film "Madly in Love" und Bücher, darunter Thomas Strässles Literaturgeschichte des Salzes und Olli Jalonens Roman "Vierzehn Knoten bis Greenwich" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Freitag, 04.03.2010

"Der Rechtsstaat atmet flach", kommentiert Niels Boeing nur halb erleichtert das Karlsruher Urteil zur Vorratsdatenspeicherung: "Der nächste Anschlag auf die informationelle Selbstbestimmung des Bürgers hat längst stattgefunden. Unter dem harmlosen Begriff ELENA, kurz für 'Elektronischer Entgeltnachweis', sind Arbeitgeber seit dem 1. Januar verpflichtet, einmal im Monat Daten über ihre Arbeitnehmer an eine zentrale Sammelstelle der Deutschen Rentenversicherung in Würzburg zu übermitteln. Dazu gehören nicht nur Name, Anschrift, Einkommen und Rentenversicherungsnummer, sondern auch Angaben zu Krankschreibungen, Abmahnungen - und ab Juli Kündigungsumstände. Vier Jahre bleiben die Datensätze gespeichert. Ab 2012 sollen Sozial- und Arbeitsämter aus der Datenbank entnehmen können, mit welchem Bittsteller sie es zu tun haben."

Stefan Collini weiß zwar, dass Chronologie jedweder "theoretischen Unterfütterung entbehrt", gratuliert der New Left Review aber trotzdem zum Fünfzigsten. Und zwar sehr herzlich: "Müsste man nicht besser über die Industrialisierung in China im Bilde sein, Brenners Analyse der Turbulenzen auf den weltweiten Finanzmärkten kennen und um die Bedeutung der kommunalen Bewegungen in Lateinamerika wissen? Für viele ist das Journal wie ein älterer Bruder, den man ob seiner Ernsthaftigkeit bewundert, der mehr weiß, mehr gesehen hat, stärker und einfach unverzichtbar ist."

Welt, 04.03.2010

Liebevoll um Verständnis bemüht arbeitet sich Michael Pilz an der singenden Harfenistin Joanna Newsom ab, die er nach ihrem zweistündigen neuen Album "Have One For Me" (ein "Meisterwerk") nicht mehr zwischen Freak Folk und New Weird Americana ablegen will: "Es ist leicht, Joanna Newsom zu belächeln und sie in der Folkgeschichte zu versenken, zwischen 68ern wie Sandy Denny, 78ern wie Kate Bush und postmodernen Mittelalter-Trutschen. Aber wenn schon retro, dann hat die Musik mehr mit dem Krisenfolk der 1930er zu tun. Mit der Suche nach dem Zauber einer aufgeklärten, unwirtlichen Welt." (Hier eine Kostprobe)

Weitere Artikel: Paul Badde unterhält sich mit dem Theologen Ernst Dassmann über die Frage, ob Petrus wirklich in Rom war. Berthold Seewald kommentiert Studien, die besagen, dass das Klassikpublikum in den nächsten 30 Jahren um mehr als ein Drittel zurückgehen wird. Sven Felix Kellerhoff erzählt anlässlich des Urteils zur Vorratsdatenspeicherung eine kleine Kulturgeschichte der Informationsverarbeitung.

Besprochen werden Thomas Ostermeiers Inszenierung der "Dämonen" von Lars Noren an der Schaubühne, die Neupräsentation der "Türkischen Kammer" in Dresden, Händels Oper "Orlando" an der Komischen Oper Berlin und neue Filme, darunter der Film "Crazy Heart" mit Jeff Bridges als abgehalftertem Country-Star (mehr hier) und der Film "Männer, die auf Ziegen starren" mit Jeff Bridges als abgehalftertem Hippie-General (mehr hier).

TAZ, 04.03.2010

In tazzwei wundert sich der Schriftsteller Ralf Bönt in einem Essay über den Stellenwert, der Religionen nicht zuletzt seit dem 11. September beigemessen wird. Er stellt fest, dass der Islam lediglich ein Vorwand sei, die einzig nützlichen Antworten auf die Frage nach den Gründen des Attentats finde man in der jüngsten Konfliktforschung und dem von ihr festgestellten Zusammenhang zwischen mangelnden Aufstiegschancen junger Männer und ausbrechender Gewalt. "Die These bietet eine hilfreichere Denkfigur für Mohammed Atta als die religiöse Verortung. Atta legte in Hamburg übergroßen Wert darauf, besser Deutsch zu sprechen als die Deutschen. Ein kleinlicher Wunsch, den er übrigens mit Maxim Biller gemein hat. Wir haben das Glück, dass der Künstler Biller nicht nur über genügend Humor verfügt, um in diesem Wunsch herumzubohren, sondern auch über genügend Intellekt, um festzustellen, dass der Wunsch beim besten Willen nicht auf sein Judentum zurückzuführen ist: Genau diese Erkenntnis schützt ihn vor der Eskalation."

Im Kulturteil kommentiert Gabriele Lesser die Debatte um die Glaubwürdigkeit des polnischen "Jahrhundertreporters" Ryszard Kapuscinki, die die Biografie von Artur Domoslawski ausgelöst hat: "Kapuscinski selbst hat nie geleugnet, dass er die Realität wie einen Steinbruch für seine Erzählungen nutzte."

Besprochen werden Benjamin Heisenbergs zweiter Spielfilm "Der Räuber", Scott Coopers Regiedebüt "Crazy Heart", Matti Geschonnecks Heimatfilm "Boxhagener Platz", Grant Heslovs Militärsatire "Männer, die auf Ziegen starren", Thomas Ostermeiers Inszenierung von Lars Norens Drama "Dämonen" an der Berliner Schaubühne und eine Ausstellung der konzeptuellen Fotografie Bernd und Hilla Becher im Bottroper Josef Albers Museum Quadrat.

Auf den Tagesthemenseiten denkt Klaus Raab anlässlich der Affäre um die Zeitschrift Bunte, die eine Fotoagentur mit der Bespitzelung von Politikern beauftragt hatte, über Grenzbereiche journalistischer Berichterstattung nach.

Und Tom.

FAZ, 04.03.2010

Heiner Geißler hatte sich zum 80. Geburtstag den Philosophen Peter Sloterdijk als Gesprächspartner, wenn nicht -gegner gewünscht. Feuilletonchef Patrick Bahners war zu Gast bei der Feier im Konrad-Adenauer-Haus und kommentiert die Vorgänge mit einem Seitenhieb gegen im FAZ-Feuilleton prominent geäußerte Ansichten: "Und als Sloterdijk den in dieser Zeitung lancierten Denkversuchsballon der Umstellung wenigstens eines Teils der Steuern auf freiwillige, bestimmten Gemeinwohlzwecken zugewiesene Gaben mühsam wieder aufgeblasen hat, lässt Geißler die Luft heraus: Schon heute kann man Spenden von der Steuer absetzen." Daran hätte Sloterdijk denken sollen!

Weitere Artikel: In der Glosse berichtet Mark Siemons von einer Klage des Künstlers Ai Weiwei gegen den chinesischen Staat wegen Verletzung des Gesetzes, das diesen seinen Bürgern gegenüber zur Auskunft verpflichtet. Siemons stellt auch die Buchhandlung "Einbahnstraße" in Peking vor. Für über jeden Zweifel erhaben hält es der Kunsthistoriker Hans Belting, dass - entgegen anderlautender Behauptungen - Leonardos "Mona Lisa" wirklich Lisa del Giocondo darstellt. Die Streitereien um die Finanzierung der Kölner Stiftung "Stadtgedächtnis" schildert Andreas Rossmann. In amerikanischen Zeitschriften liest Jordan Mejias verschiedene Artikel zu Dschihad und Afghanistan-Krieg. Camilla Blechen freut sich, dass das Leipziger Museum für Bildende Kunst Max Klingers Gemälde "Der pinkelnde Tod" (voila) angekauft hat. Auf der Kinoseite wird Georg Seeßlens Laudatio auf den Helmut-Käutner-Preisträger Christof Schlingensief gekürzt nachgedruckt. (Komplett nachlesbar ist sie in Seeßlens Blog.) Michael Althen hat so seine Zweifel, dass am Sonntag wirklich Kathryn Bigelows "The Hurt Locker" den Oscar als bester Film gewinnt.

Besprochen werden die Lyoner Uraufführung von Kaija Saariahos neuer Oper "Emilie", Thomas Ostermeiers Inszenierung von Lars Norens Stück "Dämonen" an der Berliner Schaubühne, Tim Burtons "Alice im Wunderland"-Verfilmung, die Kabinettausstellung des "Kapitolinischen Brutus" in der Antikensammlung des Berliner Alten Museums, die auf DVD erhältliche Tango-Doku "Cafe de los Maestros", die CD "Baku: Symphony of Sirens" mit Klangexperimenten der russischen Avantgarde in der ersten Jahrhunderhälfte, und Bücher, darunter Andreas Bernards Roman "Vorn" und Katharina Sykoras Studie "Die Tode der Fotografie" (mehr dazu in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 04.03.2010

Jonathan Fischer ist hoch erfreut, dass die alten Helden des "Boom Bap"-Rap der Neunziger zurück sind. Andreas Zielcke legt die auf den ersten Blick fundamental unterschiedlichen Auffassungen zum Datenschutz in Europa und den USA dar. Als Auswuchs einer Tendenz, dass Museen das Kuratieren und Ausstellen zusehends Privatsammlern und Künstlern überlassen, betrachtet Jörg Häntzschel die von Jeff Koons kuratierte Schau "Skin Fruits" im New Museum in New York (mehr dazu im Art Magazin und in der NYT). Gar nicht einverstanden ist Thomas Steinfeld mit einer wissenschaftlichen Studie von Martin Tröndle, die nur innovate Aufführungsformen als Rettung für die klassische Musik sieht, deren Publikum rasant schwindet (mehr dazu hier). Mona Naggar porträtiert den saudischen Schriftsteller Abduh Khal, der in diesem Jahr den arabischen Bookerpreis erhält.

Besprochen werden das Kulturhauptstadt-Theaterevent "Odyssee Europa", ein Konzert des Bayerischen Staatsorchesters unter Marc Minkowski  in München, die Ausstellung "Greta Magnusson Grossman: A Car and Some Short" im Architekturmuseum in Stockholm, neue Filme, darunter Benjamin Heisenbergs Autorenfilm-Thriller "Der Räuber" (mehr), Matti Geschonnecks "Boxhagener Platz" (mehr) und Scott Coopers Wandersänger-Ballade "Crazy Heart" mit dem für seine Rolle oscarnominierten Jeff Bridges und Bücher, darunter der unter dem Titel "fuer Zwecke der brutalen Verstaendigung" herausgegebene Briefwechsel zwischen Uwe Johnson und Hans Magnus Enzensberger (mehr dazu in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Zeit, 04.03.2010

Günter Grass hat nun doch Einblick in seine Stasi-Akten genommen. Mehr als 2.000 Seiten umfassen die Spitzel-Protokolle, die demnächst als Buch erscheinen und von denen die Zeit einen Auszug vorabdruckt. Im Interview mit Christof Siemes spricht Grass über heimliche Informanten und unheimliche Funktionäre und erklärt, warum er es nicht sehr darauf angelegt hat, sich oder andere zu schützen: "Wenn jemand diesen Beruf wählt: Schriftsteller, dann muss er auch Gebrauch davon machen. Leisetreter gibt es genug, im Osten wie im Westen, auch Literaturbetrieb."

Weiteres: Im Aufmacher denkt Jens Jessen über die letztlich durchschlagende Idealisierung der Griechen durch die Deutschen nach, wobei immer wieder Erinnerungen an seine Klassenreise zu den antiken Stätten seinen Text durchziehen. Alexander Cammann stellen sich über der Meldung, dass die Eva-Braun-Biografie verfilmt werden soll, die Nackenhaare auf. Martin Seel verbeugt sich zum Achtzigsten vor dem Philosophen Ernst Tugendhat, auch wenn dieser verkündet hat, die "Zeit des Philosophieren" sei vorbei. Peter Kümmel unterhält sich mit Regisseur Thomas Vinterberg über die in Wien gespielte Theaterfassung seines Films "Das Fest". Hanno Rauterberg bestaunt die neue Bibliothek der ETH Lausanne des Architekturbüros Sanaa.

Besprochen werden die Uraufführung von Aribert Reimanns "Medea", die Volker Hagedorn als "Stück für schwere Zeiten" preist, das neue Album der Gorillaz "Plastic Beach", Tim Burtons 3D-Version von "Alice im Wunderland", zwei Realismus-Ausstellungen in Hamburg und Emden und Bücher, darunter Philip Roth' neuer, laut Ulrich Greiner "grandioser" Roman "Die Demütigung" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im politischen Teil kommentiert Jörg Lau den Neustart der Islamkonferenz. Für ihn geht in Ordnung, dass die "feministischen Quälgeister" Necla Kelek und Seyran Ates einerseits, der konservative Islamrat-Vertreter Ali Kizilkaya andererseits nicht teilnehmen: "'Euer Islam ist nicht integrierbar!', riefen die einen. 'Ihr seid gar keine Muslime!', antworteten die anderen. Es ist richtig, dass de Maiziere diesen nicht sehr zielführenden Schlagabtausch nicht fortsetzt. Die Konferenz ist dennoch nicht gescheitert. Im Gegenteil: Sie war die mutigste Tat der Großen Koalition."

Die Autorin Jana Hensel erinnert an all die Träume und Illusionen, die Leipzig noch vor zwanzig Jahre hegte. Das Dossier befasst sich mit der Bundeswehr in Afghanistan.