Heute in den Feuilletons

Arrondierte Männergruppen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.03.2010. Die FR spekuliert über die Frage,ob Günter Grass von westlichen Geheimdiensten ausspioniert wurde. Im Welt-Interview mit Julia Kristeva stellt sich heraus, das es der Poststrukturalismus mit dem Tod des Subjekts gar nicht so gemeint hat. In der Presse erklärt Andre Müller, warum es für sein Metier von Vorteil ist, ohne Vater aufgewachsen zu sein. In der FAZ warnt der Internetskeptiker Evgeny Morozov vor Twitter und Co. Der Zeit ist eins klar: Wenn Männer Männer missbrauchen, sind auf jeden Fall schon mal Männer schuld.

Weitere Medien, 18.03.2010

Der berühmte Interviewer Andre Müller (man kann alles hier nachlesen), erklärt im Interview mit Christian Ultsch in der Presse, warum es für sein Metier von Vorteil war, ohne Vater aufzuwachsen: "Man hat kein Über-Ich. Man hat keine Grenzen, keine moralischen Vorschriften. Und das habe ich auch immer in Verbindung gebracht mit meiner Interviewbegabung. Ich begegne niemandem mit Meinungen, sondern wie ein Loch, in das er sich hineinergießen kann, bis er gar nicht mehr merkt, dass er da schon reinstrudelt. Weil ich eine Leere bin, eine moralische und ideologische."

Und im Zürcher Tages-Anzeiger erklärte Rico Bandle schon vor zwei Tagen zu zehn Jahre Perlentaucher: "Dass die Seite mittlerweile dermassen angefeindet wird, dürfen die Betreiber durchaus als Kompliment auffassen".
Stichwörter: Über-Ich, Vorschriften

TAZ, 18.03.2010

Auf der Meinungsseite plädiert der Historiker Alexander Hasgall dafür, jüdischen Israelkritikern wie Norman Finkelstein und seinen Thesen vom "Missbrauch des Holocaust" kein Podium zu geben. Gleichzeitig widerspricht er Iris Hefets, die kürzlich in der taz einen "Schoah-Kult" in der deutschen Politik beklagte. "Dabei ist eine differenzierte Auseinandersetzung über die Frage, wie angemessen an die Schoah erinnert werden kann, durchaus notwendig. Dass dieser Umgang nicht immer frei von Pathos, politischer Instrumentalisierung und Kitsch ist, wird niemand bestreiten ... Wer aber das Gedenken an die Schoah pauschal als irrationalen Kult abstempelt, der beleidigt nicht nur das Andenken an die Opfer, sondern darf sich nicht beklagen, wenn er Applaus von Revisionisten jeder Couleur bekommt."

Auf den Kulturseiten erklärt der Bürgerrechtler Jens Reich im Interview, weshalb er bei den Volkskammerwahlen vor 20 Jahren glaubte, dass man kein Parteienparlament brauche, und Naivität für ihn kein Schimpfwort ist. Christian Werthschulte berichtet über die zum Selbstläufer gewordene lit.Cologne, die sich regen Zulaufs erfreut, und zwar nicht nur, wenn die frisch gebackene Literaturpreisträgerin Herta Müller auf das "Gesicht der chinesischen Dissidenz" Ai Weiwei trifft.

Auf der Medienseite informiert Lalon Sander die taz-Leser über zehn Jahre Perlentaucher. In tazzwei behauptet Sebastian Ingenhoff, die "digitale Boheme" (wer immer das sein soll), leide entweder Hunger oder verkaufe sich an die Wirtschaft.

Besprochen werden der Irakkriegsfilm "Green Zone" von Paul Greengrass und der Dokumentarfilm "Die 4. Revolution - Energy Autonomy" von Carl-A. Fechner. Außerdem heute gibt es heute die Literataz mit Rezensionen unter anderem von Frank Schulz' Erzählband "Mehr Liebe", Katrin Seddigs Debüt "Runterkommen" von und Robert Skidelskys Sachbuch "Rückkehr des Meisters" über den Ökonomen John Maynard Keynes. (Wir werten die Beilage in den nächsten Tagen aus.)

Und Tom.

Welt, 18.03.2010

Brigitte Preissler führt mit der Poststrukturalistin Julia Kristeva ein höchst instruktives Gespräch über den von ihr stammenden und durch die Hegemann-Affäre anrüchig gewordenen Begriff der Intertextualität. Sie beschreibt ihn als einen dialogischen Begriff der Literatur und findet dann einige überraschende Argumente gegen Digitalisierung und Internet: "Es ist sehr leicht geworden, abzuschreiben oder etwas nachzumachen und die Komposition dann als eigene auszugeben - ohne besondere Eingriffe, durch bloßes Copy & Paste. Das ist meiner Meinung nach einer der schwächsten Aspekte moderner Kultur, und es bedeutet für unseren Begriff von Kreativität eine enorme Krise. Der Begriff des Subjekts und des kreativen Individuums, diese persönliche Konstruktionseinheit, die wir vom Juden- und Christentum geerbt haben, kollabiert." Als hätte nicht ihre Schule so fleißig am Begriff des Subjekts gesägt!

Weitere Artikel: Sven Felix Kellerhoff stellt einen von hochkarätigen Historikern erstellten Bericht über "Die Zerstörung Dresdens" vor, der die Opferzahl des alliierten Bombenangriffs endgültig auf etwa 20.000 bis 25.000 festlegt und damit höhere Opferzahlen, die in der Literatur kursieren, widerlegt. Wieland Freund schlägt in der Leitglosse vor, dass Raubkopierer ihre Hörbücher künftig einfach in der Bibliothek ausleihen. Sven Felix Kellerhoff erinnert an den 18. März 1848 und stellt den Band einer Initiative vor, die für dieses Datum als Nationalfeiertag plädiert. Gabriela Walde bespricht zwei Ausstellungen mit islamischer Kunst in Berlin, das nach Ambitionen des Direktors des Islamischen Museums der Stadt, Stefan Weber, zu einem der Weltzentren für die Gattung avancieren soll. Dankwart Guratzsch fürchtet um den Abriss des Kaufhauses Knoop in Leipzig.

Besprochen werden William Kentridges Inszenierung von Schostakowitschs "Nase" in New York, die Ausstellung "Catch Me" in Graz und Filme, darunter "Everybody's Fine" (mehr hier) dessen Hauptdarsteller Robert de Niro den Kritiker Sascha Westphal durch zurückhaltendes Spiel beeindruckt.

Aus den Blogs, 18.03.2010

In der Achse des Guten schreibt Henryk Broder zur Islamophobie-Debatte: "Die Idiotie der Behauptung, die in Deutschland lebenden Muslime seien die Juden von heute, liegt freilich nicht im Faktischen sondern im Pathologischen. Es ist der 'Holocaust-Neid' der Versager, die davon überzeugt sind, dass es ihnen heute besser ginge, wenn sie früher so wie die Juden verfolgt worden wären."
Stichwörter: Deutschland, Islamophobie, Neid

FR, 18.03.2010

Andreas Förster berichtet heute in der FR (wie bereits gestern in der Berliner Zeitung), dass Günter Grass und einige Schriftstellerkollegen in den siebziger Jahren von dem früheren tschechischen Stasi-Offizier Jiri Starek, der dann für westliche Geheimdienste arbeitete, bespitzelt wurden. In Stareks Nachlass "finden sich jedenfalls Berichtskopien über Grass und das Projekt für die Zeitschrift L 76, die Autoren aus West und Ost zusammenbringen sollte. Ob die in Deutsch abgefassten Berichte damals an den BND oder den Verfassungsschutz gingen, lässt sich allerdings nicht erkennen. Mitarbeiter beider Behörden aus jener Zeit, die wir mit den Starek-Berichten konfrontierten, konnten oder wollten sich nicht daran erinnern. Sie schlossen es aber nicht aus, dass ihre Behörden Adressaten der Berichte gewesen sind, schließlich entsprach der Inhalt ihrem seinerzeitigen Aufgabenspektrum."

Weitere Artikel: Die Krimi-Bestsellerautoren Liza Marklund und James Patterson erklären in einem langen Interview, warum sie jetzt zusammen einen Krimi geschrieben haben und warum die Leute überhaupt gerne Krimis lesen. In Times mager erinnert sich Christian Thomas an einen Axolotl von Julio Cortazar.

Besprochen werden Norbert Baumgartens Film "Mensch Kotschie", Paul Greengrass' Film "Green Zone" und Bücher, darunter Jan Faktors Roman "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag" und Natan Dubowizkis Roman "Nahe Null" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 18.03.2010

Für den Osteuropa-Historiker und Skanderbeg-Biografen Oliver Jens Schmitt ist das taumelnde Griechenland weniger die Wiege der europäischen Kultur als ein Balkanland. Und die nie abgelegten Strukturen des Osmanischen Reiches haben auch zu seiner jetzigen Krise beigetragen, wie er erbarmungslos festhält: "Das verbreitete Misstrauen der Gesellschaft gegenüber dem Staat, die Hemmung staatlicher Einrichtungen durch Klientelismus und Korruption, die Bedeutung persönlicher Beziehungen bei der Wahrnehmung sozialer Interessen, eine nicht gleichmäßig akzeptierte Übernahme europäischer Normsysteme (Verfassung, Recht), eine geringe Konsensfähigkeit im politischen Leben, eine gewisse Skepsis gegenüber der Marktwirtschaft, die bisweilen verbunden ist mit kollektivistisch ausgerichteten Gesellschaftsidealen."

Weiteres: Andrea Tholl spricht mit Krimiautor Ian Rankin, der seinen Inspector Rebus mit sechzig Jahren in den Zwangsruhestand schicken musste und nun den internen Ermittler Malcolm Fox an den Start bringt. Marcus Stäbler bespricht die jüngsten Aufführungen der Oper Hamburg.

Besprochen werden die Ausstellung "Avanguardia Femminista negli anni '70" in der Galleria Nazionale d'Arte Moderna in Rom, auf der Filmseite Lee Daniels' Sozialdrama "Precious" (Links hier) und Alberto Arvelos venezolanische Dokumentation "El sistema".

Zeit, 18.03.2010

"Männer haben Jungen missbraucht, Männer haben das gedeckt", hält Susanne Mayer in ihren Überlegungen zum Missbrauch in Konvikt und Reformschule fest: "Bleibt die Frage, warum eine Gesellschaft, die sich so erfolgreich als Patriarchat behauptet, mit ihren arrondierten Männergruppen an allen Schaltstellen der Macht, so hilflos darin erscheint, ausgerechnet das männliche Kind vor dem pädophilen Zugriff zu schützen. Vielleicht ist das nur zu verstehen als Abwehr des homophilen Elements, das sich in jeder Männergruppe findet, welche sich nach dem narzisstischen Prinzip der Ähnlichkeit zusammenrottet, was noch jedes Foto einer Vorstandssitzung gnadenlos outet."

Ulrich Greiner würde nicht viel auf die allenthalben geforderte Entschuldigung des Papstes nicht geben: Der in Hamburg lehrende Pädagoge Jürgen Overhoff erklärt die Reformpädagogik nicht nur als Reaktion auf den Wilhelminismus, sondern auch als "Gegenprogramm zur heraufziehenden bürgerlich-liberalen Moderne" inklusive "Anonymität, Hektik, Nervosität, Reizüberflutung, Konsumorientierung, Dreck und Individualitätsstreben". Christiane Grefe nimmt das System der Regenburger Domspatzen mit seiner "Mischung aus schwarzer Pädagogik und Pädophilie" unter die Lupe.

Weitere Themen: Vorabgedruckt wird ein Essay von Martin Walser über Heinrich Heines Größe und seinen Artikel IX über die "Französischen Zustände" von 1832, dessen Handschrift neu ediert wird. Sven Behrisch besucht die israelische Großsiedlung Ariel, in der etwa 20.000 Menschen, meist Einwanderer aus Marokko, Äthiopien und Russland leben. Ursula März liest die jüngsten Erzählungen von überstandenen Krisen, findet in ihnen aber keine Verbindung mit dem "realen Charakter von Makrokrisen". Claudia Steinfeld proträtiert die Schauspielerin Gabourey Sidibe, die leider immer mit ihrer Rolle als 300 Pfund schweres, missbrauchtes und geprügeltes Mädchen in "Precious" verwechselt wird.

Die Literaturbeilage zur Leipziger Buchmesse würdigt vor allem das Tagebuch als "letzten unangreifbaren Ort der Freiheit". Besprochen werden unter anderem die Aufzeichnungen von Susan Sontag, Martin Walser und Roland Barthes.

Im Wirtschaftsteil informiert Gunhild Lütge in einem instruktiven Hintergrundartikel über die geplante Arbeitnehmer-Datenbank Elena, eine der "größten staatlichen Datensammel-Aktionen, seit es Computer gibt.

FAZ, 18.03.2010

Facebook, Twitter und Co eignen sich nicht nur trefflich, um Widerstand gegen autoritäre Regime zu organisieren, warnt der aus Weißrussland stammende, in den USA lehrende Netz-Politologe Evgeny Morozov. Die Tyrannen hätten schnell gelernt, die Netzwerke zu nutzen, um Schrecken und Propaganda zu verbreiten und die oppositionelle Szene effektiver denn je auszuspähen. Deshalb warnt Morozov (hier im Original) den Westen davor, zu sehr aufs Web 2.0 zu setzen und plädiert mehr füs Networking auf die altmodische Tour: "In praktisch allen autoritären Regimen gibt es eine große Zahl nicht überwachter Aktivisten, Dissidenten und regimekritischer Intellektueller, die Facebook bestenfalls dem Namen nach kennen. Diese nicht übers Internet verbundenen und doch effektiven Netzwerke zu unterstützen, wird mehr bringen als der Versuch, Blogger zu politischen Aktivitäten anzuhalten. " (Morozov, der gerade an einem Buch zum Thema arbeitet, hat in letzter Zeit sehr viel über das Netz geschrieben. Eine Liste mit Links zu seinen Artikeln findet sich auf seiner Homepage.)

Weitere Artikel: Jordan Mejias kann mit David Shields' viel diskutiertem Manifest "Reality Hunger" überhaupt nichts anfangen (mehr dazu im Believer, New Statesman, Guardian, NYT, the Atlantic, GQ und im New Yorker). Der niedersächsische Landtag hat den koreanischen Architekten Eun Young Yi beauftragt, einen neuen Plenarsaal im Hannoveraner Leineschloss zu bauen. Der aktuelle Bau von Dieter Oesterlen, ein denkmalgeschütztes Exemplar westdeutscher Wiederaufbauarchitektur solle dafür weichen "wie eine Frittenbude", beklagt Dieter Bartetzko. Die britische Hofdichterin Carol Ann Duffy hat ein Gedicht auf David Beckhams Achillessehnenriss verfasst, berichtet Gina Thomas. Andreas Rossmann meldet, dass das sich der ehemalige Kölner Oberbürgermeister Fritz Schramma von Gerhard Richter hat porträtieren lassen. Regina Mönch zeigt sich in ihrer Leitglosse erleichtert, dass die Greifswalder Universität sich trotz dessen antisemitischen Tendenzen weiterhin nach Ernst Moritz Arndt nennen will. Und auf der Kinoseite führen Michael Althen und Verena Lueken ein Gespräch mit den neuen Präsidenten der Filmakademie, Iris Berben und Bruno Ganz (der mit seiner Rolle als Präsident noch zu fremdeln scheint: "Demokratische Prozesse liegen nicht im Kern meines Berufs, nein, wirklich nicht.")

Besprochen werden eine Ausstellung zur "Wiederkehr der Landschaft" in der Berliner Akademie der Künste, eine Schau zu Maria Lassnigs Spätwerk im Münchner Lenbachhaus, ein Konzert des Jazzpianisten Brad Mehldau in Darmstadt sowie Hans-Ulrich Treichels Roman "Grunewaldsee".

SZ, 18.03.2010

Die Heizung hat sie nicht für ihn angestellt, dafür rührte sich ihre Katze für anderthalb Stunden nicht von Jörg Häntzschels Schoß: Im Gespräch mit Patti Smith entlockt er der Großmutter des Punk wehmütige Erinnerungen an das alte heruntergekommene New York der 60er Jahre und ein Wehklagen über dessen Renovierung unter Bürgermeister Michael Bloomberg: "Es ist kriminell. Am Times Square sieht es aus wie in 'Blade Runner'. 42nd Street ist wie Disneyland. Die kleinen Cafes, in denen vielleicht schon Dylan Thomas geschrieben hat, werden von Leuten mit viel Geld aufgekauft. (...) Das CBGBs ist jetzt eine Boutique für Herrenmode! Wir sind ein junges Land, wir könnten es uns nicht erlauben, unsere Geschichte mit Glas und Stahl wegzuwischen." (Eine Ahnung vom kulturförderlichen Dreck im legendären Punkschuppen CBGB vermittelt diese beeindruckende virtuelle Tour)

Weitere Artikel: Catrin Lorch berichtet von einem Streit zwischen dem Museum Schloss Moyland und dem Land Nordrhein-Westfalen um das Beuys-Erbe. Aus Uganda schreibt Arne Perras über die Königsgräber in Kasubi, die in der Nacht zum Mittwoch einem Brand zum Opfer fielen (siehe auch diese Meldung). Vasco Boenisch berichtet vom Schulterschluss zwischen Theater und Sport in Oberhausen (beide sind dort von Kürzungen gegängelt), den beide in Schorsch Kameruns gerade uraufgeführtem Stück "Abseitsfalle" (mehr) vollziehen. Hans-Peter Kunisch gratuliert dem Schriftsteller Hector Bianciotti zum 80. Geburtstag.

Viel los auf der Filmseite: Besprochen werden "Everybody's Fine" mit Robert de Niro (mehr), das norwegische Drama "Troubled Water" (mehr), die Dokumentation "Udo Proksch. Out of Control" (mehr), der Horrorfilm "Legion" (mehr) und die Metaldoku "Anvil! Die Geschichte einer Freundschaft" (mehr), in der "hässliche Männer hässliche Sachen machen". Im Literaturteil zeigt sich Burkhard Müller beglückt von Jan Faktors neuem Roman "Georgs Sorgen um die Vergangenheit", in dem die Titelfigur davon träumt, Müllmann zu werden (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).