Im Kino

Agentin der Unschuld

Die Filmkolumne. Von Elena Meilicke, Jochen Werner
02.01.2014. Spröde und graniten, aber auch lange nachbrennend ist "Les Salauds" von Claire Denis, ein Film über eine Welt, in der es vor Dreckskerlen nur so wimmelt. Eine retrohipsterische Variation auf den Vampirfilm hat Jim Jarmusch gedreht; "Only Lovers Left Alive" ergibt sich aber doch nicht ganz hemmungslos analogen Sehnsüchten.


Am Anfang fällt der Regen, leinwandfüllend, und man ist sofort ganz tief drin in dieser sinnlichen Claire-Denis-Welt, in der die Dinge nicht unbedingt geschehen müssen, um geschehen zu sein. "Les salauds" beginnt mit einer Ellipse: ein Mann mittleren Alters, ein leeres Büro, ein weißer Umschlag auf dem Tisch. Er tritt an das geöffnete Fenster, blickt in den Regen. Und der Regen, so scheint es, in ihn. Dann: eine Ambulanz auf der Straße, ein Leichentuch, ein lebloser Körper darunter. Eine junge Frau, nackt und mit leerem Blick eine nächtliche Straße entlanggehend. Mit blutverschmierten Oberschenkeln.

Einer der Mistkerle, der Bastarde, die dem neuen Film von Claire Denis seinen Titel geben, ist von diesem Moment an abwesend, und um die Leerstelle, die er hinterlässt, wird es im Folgenden gehen. Darum, welche grausigen Abgründe sich mitunter auftun, wenn ein sorgsam abgedichtetes System plötzlich gewaltsam aufbricht, und welche finsteren, verdrängten Geheimnisse an die Oberfläche steigen, wenn die Hinterbliebenen das Fenster nicht rechtzeitig zu schließen vermögen, das sich plötzlich auf ihre eigenen Untaten hin öffnet.

Wir erforschen die Abgründe von "Les salauds" gemeinsam mit Marco (Vincent Lindon), einem Hochseekapitän, der nach dem Selbstmord seines Schwagers, des Industriellen Jacques, sein Schiff verlässt und nach Paris zurückkehrt, um seiner Schwester Sandra (Julie Bataille) und seiner Nichte Justine (Lola Créton) beizustehen. Während Justine, die zerbrechliche Nackte aus dem Prolog, nach einer brutalen Vergewaltigung traumatisiert im Krankenhaus liegt, sieht Sandra die Schuld für den Tod ihres Mannes und für die Verletzung ihrer Tochter bei dem Unternehmer Laporte (Michel Subor), auch wenn die konkreten Verstrickungen ihrer Familie unklar bleiben. Genau wie Marcos weiteres Vorgehen, mietet sich dieser doch im Haus von Laportes Geliebter Raphaëlle (Chiara Mastroianni) ein und beginnt eine Affäre mit ihr - mit einem konkret scheinenden, zunächst aber im Dunkeln bleibenden Ziel.



Vieles bleibt in "Les salauds" zunächst im Vagen, und egal, wie viele grausame Konkretionen diesem Dunkel folgen - die Schlusssequenz ist endgültig kaum noch zu ertragen -: Vieles fällt auch wieder ins Dunkel zurück. Erklären, was nicht zu erklären ist? Das ist nicht Denis' Bestreben, ihr Kino funktioniert, immer schon und auch hier, anders - sinnlicher, auch abstrakter. Es ist ein Kino der Körper, Gesten, Blicke, manchmal Aktionen, ein Kino einer Präsenz, die sich oftmals eher aus dem Verharren im Raum entwickelt als aus der narrativen Bewegung in die Zeit hinein. Und so erforscht "Les salauds" zwar eine Vorgeschichte, definiert diese aber eher als einen Zustand - etwas Fortdauerndes, ein unverbrüchliches Machtverhältnis eher als ein aufzuklärendes Verbrechen, eine umso fürchterlichere Normalität eher als einen Ausnahmefall.

Mistkerle, das sind im sezierten Machtzusammenhang alle Beteiligten - die, die verletzt, benutzt, zerstört haben und die, die nichts dagegen taten. Und auch Marco, der zumindest etwas Licht ins Dunkel zu bringen versucht, geht dabei kalt berechnend vor und benutzt Raphaëlle und ihren Sohn auf überaus kalkulierende Weise, um an Laporte heranzukommen. Die einzige Agentin der Unschuld - Justine, die Gerechte - ist nicht nur sprachloses Opfer, sondern bleibt auch, abgeschoben in ihr einsames Krankenhauszimmer und in die Obhut eines Arztes, der sich als einziger Akteur in "Les salauds" überhaupt um ihr Wohlergehen zu sorgen scheint, bis beinahe zum Ende des Films in einem ziemlich absoluten Off, während die Männer um sie herum ihre Geschichte freizulegen oder im Dunkel zu halten suchen. Alles wie gehabt also.

Indem Denis' Inszenierung Justine so konsequent ins Off der Erzählung verbannt, übernimmt sie das inhaltlich skizzierte Machtgefälle und überträgt es auf die Struktur des Films - so dupliziert sich ein Akt der Gewalt und scheint plötzlich allumfassend, unüberwindlich. "Les salauds" ist ein Film, der seiner marginalisierten Protagonistin wie seinem Publikum vieles zumutet, es ist ein harter, kalter und ungemein nihilistischer Film. Ein Film, der mitunter spröde, graniten, unzugänglich oder gar abstoßend wirken mag. Es ist aber auch ein Film, der lange nachbrennt - mit Bildern, die einem lange nicht mehr aus dem Kopf gehen wollen.

Ihr vielleicht größtes Meisterwerk schuf Denis 2008 mit der Ozu-Paraphrase "35 rhums", einer federleichten, zutiefst humanistischen Ode auf Freundschaft und Liebe. "Les salauds" ist so durch und durch von Finsternis durchdrungen, dass er nicht nur wie eine Antithese dazu wirkt. Eher noch wie eine Rücknahme.

Jochen Werner

Les Salauds - Dreckskerle - Frankreich 2013 - Originaltitel: Les Salauds - Regie: Claire Denis - Darsteller: Vincent Lindon, Chiara Matroianni, Juliet Bataille, Michel Subor, Lola Créton, Alex Decas - Laufzeit: 83 Minuten.

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Detroit und Tanger, das sind die zwei Schauplätze, zwischen denen sich Jim Jarmuschs Vampirfilm "Only Lovers Left Alive" aufspannt. Postindustrielle Ruinenlandschaften hier, Beatnik-Romantizismus dort. Zwei Orte mit Vergangenheit für zwei Figuren mit Vergangenheit. Denn die unsterblichen Vampire Adam (Tom Hiddleston) und Eve (Tilda Swinton), die kultivierten Hauptfiguren in diesem Film, der reich an Anspielungen, Zitaten und Kalauern ist, tragen schwer an der Zeit, dem Wissen- und Erfahrungsschatz, der nicht einfach abzuschütteln ist. Vor allem Adam, der in einem heruntergekommenen Detroiter Viertel lebt, umflort ein lebensmüder Überdruss, und weil das so ist, verlässt Eve ihr marokkanisches Refugium und fliegt zu ihrem Liebsten.

Zwischen Detroit und Tanger spielt der Film, daneben aber spielt er sich in einem anderen Universum ab, das Pop heißt, und dessen Signum gleich zu Beginn des Films prominent in Szene gesetzt wird: da dreht sich eine Schallplatte, dreht und dreht sich, affiziert auch die Kamera zu einer Kreisbewegung, die den ganzen Film hindurch immer wieder aufscheinen wird. Vinyl also: Adam und Eve sind zwei Über-Hipster, die alle popkulturellen Distinktionsposen aus dem Effeff beherrschen. Da lungern sie cool herum und lutschen Bluteis am Stiel, untermalt von hypnotischen Gitarrensounds (die unter anderem von Jarmuschs eigener Band "Sqürl" stammen). Oder sie unternehmen nächtlich entschleunigte Sightseeing-Touren auf den Spuren des White-Stripes-Gitarristen Jack White und dem legendären Motown Label - obwohl: "I'm more of a Stax girl myself", sagt Eve und gibt damit Memphis gegenüber Detroit den Vorzug und sich selbst als Expertin in Sachen Popgeschichte zu erkennen. Adam hingegen ist selbst Musiker; in den Film eingeführt wird er beim abgeklärten Fachsimpeln über alte Gitarren, in seinem Wohnzimmer stapelt sich analoge Aufnahmetechnik die Wände hoch: Retro-Fetischismus galore.



Über die Pop-Verweise konturiert sich auch erst Jarmuschs spezifisches Interesse an der Figur des Vampirs, das zunächst einmal gar nicht plausibel wird. Die Konjunktur des Vampirs in der Popukärkultur ist ja ungebrochen; der Vampir scheint als eine Art vielseitig einsetzbarer Joker zu fungieren, mit dem alle möglichen drängenden Ängste bearbeitet werden können: Sex und Aids, Klassenkampf und Migration usw. An diesem ganzen Themenreichtum mit seinen schönen Subtextmöglichkeiten zeigt sich "Only lovers left alive" jedoch derart wenig interessiert, dass man den Vampir schon fast miss- oder einfach schlecht gebraucht wähnen möchte.

Aber Jarmusch macht dann eben doch noch was halbwegs Innovatives mit dem Vampir: "Only Lovers Left Alive" erklärt den Vampir zum Sinnbild einer Popkultur, die sich, das weiß man seit Simon Reynolds Buch "Retromania - Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann" (2011), in der Retroschleife verfangen hat. So entspricht eine Haltung, wie Adam und Eve sie pflegen, wie sie vielleicht auch der Film als ganzes vertritt, haargenau einem sehr zeitgenössischem Mainstream, den man 'retroman' nennen kann, einem Mainstream, der die jüngst vergangene Popgeschichte ohne Ende recycelt, fetischisiert, musealisiert und wiederaufführt. Das Ergebnis, so Reynolds, sind Stasis und Rückwärtsgewandtheit - vielleicht auch das Paradox, uralt und blutjung zugleich zu sein, so wie Lana del Rey auf Youtube oder zwei müde Vampire in Detroit.

Gegen Youtube gibt es in "Only lovers left alive" übrigens eine Reihe bissiger Seitenhiebe. Nur, wenn man nicht gerade Vampir ist, der über authentische Erfahrungen aus Jahrtausenden verfügt, dann hängt die ganze Analog-Seeligkeit eben doch am Rockzipfel des Digitalen: erst das Netz und Youtube erlauben als gigantisches Archiv die allzeitige und ubiquitäre Verfügbarkeit noch des abseitigsten popkulturellen Retro-Moments. "Only Lovers Left Alive" übrigens ist, trotz Vinylfetischismus, nicht auf Filmmaterial, sondern digital gedreht - ein Novum für Jarmusch. Vielleicht will sich da jemand doch nicht gänzlich hemmungslos analogen Sehnsüchten hingeben.

Elena Meilicke


Only Lovers Left Alive - Großbritannien, USA 2013 - Regie: Jim Jarmusch - Darsteller: Tom Hiddleston, Tilda Swinton, Mia Wasikowska, John Hurt, Anton Yelchin, Jeffrey Wright - Laufzeit: 123 Minuten.