Im Kino

Außerhalb des Kreises

Die Filmkolumne. Von Rajko Burchardt, Lukas Foerster
12.11.2015. Hiromasa Yonebayashi erzählt in "Erinnerungen an Marnie" eine Coming-of-Age-Geschichte als Geisterfilm. In Axel Ranischs "Alki Alki" hat selbst das Abstrakte Gefühle, die artikuliert werden wollen.


Es beginnt mit Bildern spielender Kinder, die wirken wie zufällig entstandene Momentaufnahmen. Jungs, die eine wackelnde Holzbrücke überqueren. Mädchen, die im Sandkasten Burgen bauen. Es gibt einen unsichtbaren Kreis in der Welt, sagt eine Stimme dazu aus dem Off. Einige befinden sich im Inneren, andere bleiben draußen. Die das erkannt hat ist Anna, eine brünette, kurzhaarige Zwölfjährige. Anna sitzt am Rand des Spielplatzes. Sie ist eine derjenigen, die außerhalb des Kreises bleiben. Und sie hat eine Methode gefunden, sich zu dieser Außenseiterschaft zu verhalten: Sie zeichnet diejenigen, die sich im Inneren befinden.

Eine wunderschöne Anfangsszene, mit einer unaufdringlich selbstreflexiven Pointe: Der Film, der auf diese Weise beginnt, ist selbst gezeichnet. Was auch heißt: Der Schwenk, der die spielenden Kinder mit der zeichnenden Anna verbindet, ist in echt gar kein Schwenk, sondern lediglich eine Folge distinkter, handbemalter frames. Es gibt, anders ausgedrückt, noch einen weiteren, unsichtbaren Zeichner, von dem aus betrachtet Anna sich nicht außer-, sondern innerhalb des Kreises befindet.

"Erinnerungen an Marnie" beschreibt, auf der Plotebene recht treu der Vorlage, einem britischen Kinderbuchklassiker folgend, wie ein Mädchen lernt, sich als Teil der Welt, die sie umgibt, zu begreifen. Da nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Ziehmutter Annas Isolation bemerkt, wird sie aufs Land geschickt, zur Familie der Tante. Schon die Anfahrt, während der das Auto der Familie plötzlich ob der baufälligen Straße Probleme bekommt, die Spur zu halten, etabliert wie nebenbei eine ganze Welt. Die Tante stellt sich als eine gut genährte, fröhliche Frau heraus, deren schwungvolle Kurven nehmende Mimik in deutlichem Kontrast zu den stets mit dem Lineal gezogenen Gesichtszügen der Stadtmenschen steht. Die entscheidende Begegnung ist aber eine andere: In einem geheimnisvollen Haus über dem Meer entdeckt Anna erst ein Licht, und dann die blonden, lockigen Haare eines Mädchens.



Das wendet sich sogleich um, strahlt Anna mit offenem Lächeln ins Gesicht. Ab sofort lebt Anna nur noch für diese geheimnisvolle Fremde mit Namen Marnie - deren Realitätsgrad freilich von Anfang an prekär ist. Eine Coming-of-age-Geschichte als Geisterfilm… Und vielleicht nebenbei die Andeutung eines erwachenden lesbischen Begehrens? Nach den Diskussionen in zahlreichen Internetforen zu schließen liegt es im Auge des Betrachters, ob die überaus zärtliche, aber in keiner Weise sexualisierte Beziehung der beiden Mädchen eine erotische Komponente enthält. (Ich würde sagen: ja klar, auf jeden Fall enthält sie die, Marnie ist für Anna nicht einfach nur eine emotionale Stütze, nicht nur jemand, der sie Geborgenheit fühlen läßt, sondern eine welterwärmende Kraft, das Zentrum ihres Universums).

Das legendäre japanische Studio Ghibli hat angekündigt, nach "Erinnerungen an Marnie" bis auf weiteres keine neuen Filme mehr produzieren zu wollen. Sollte es tatsächlich soweit kommen, wäre Hiromasa Yonebayashis zweite Regiearbeit ein schöner Abschiedsfilm: Kein Ende mit Knall, weil deutlich kleiner formatiert als die überbordenden Weltentwürfe des Studiogründers Hayao Miyazaki, eher ein sanftes, melancholisches, intimes Ausklingen. Ein Film, der über die gesamte Laufzeit ein einziges Gefühl moduliert. Die fantastischen Elemente der Geschichte, auch die etwas umständlich ausgewalzte, und doch zu Tränen rührende backstory Marnies, treten systematisch in den Hintergrund zugunsten der Subjektivität Annas: Nicht nur die Erzählung an sich, auch fast jede einzelne Szene ist aus Annas point of view entworfen, oft übernimmt der Film direkt ihre visuelle Perspektive.

Gelegentlich auftauchende Traumszenen und Erinnerungsbilder wirken fast schon unpassend in einem Film, der in der Lage ist, die Innerlichkeit seiner Hauptfigur deutlich eleganter und feinsinniger in Szene zu setzen. Durch einen plötzlichen Lichtwechsel zum Beispiel (bei einem Auftauchen Marnies, natürlich), durch die perspektivische Verzerrung eines finsteren Leuchtturms, oder durch die Isolierung kontingenter Wahrnehmungsdetails wie dem Zerschneiden einer Melone.

Will man den Verlust ermessen, den das Kino erleiden würde, sollten tatsächlich keine weiteren Ghibli-Filme produziert werden, muss man "Erinnerungen an Marnie" nur mit "Inside Out" verlgeichen, einem Film der amerikanischen Pixar-Konkurrenz, der zuletzt ebenfalls die Innenwelt eines heranwachsenden Mädchens erkundete. Und der dabei durchaus einigen Spaß bereitet. Aber der jugendliches Bewusstsein und emotionalen Weltbezug eben doch nur positivistisch denken kann, im Sinne eines Verfügens über Ressourcen. Die weitaus zärtlichere Ghibli-Phänomenologie, die keinen strikten Unterschied macht zwischen innen und außen, die außerdem dem Leben gegenüber offener ist, weil sie auch Stillstellungen und Blockierungen zulässt, wird dem Kino, wird der Welt fehlen.

Lukas Foerster

Erinnerungen an Marnie - Japan 2014 - Originaltitel: Omoide no Mani - Regie: Hiromasa Yonebayashi - Laufzeit: 103 Minuten.

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Nach Kneipenbesuchen stolpert Tobias (Heiko Pinkowski) ins Ehebett, nach Kneipenbesuchen ist er nie allein. Freund Flasche (Peter Trabner) hält und stützt ihn, er kuschelt mit ihm, wenn Anika (Christina Große) wie üblich auf der Wohnzimmercouch schläft. Freund Flasche ist der ewige Gefährte von Tobias, die Alkoholabhängigkeit. Anika, das ist die Ehefrau, deren noch nicht erloschenes, aber spürbar resigniertes Begehren einer Fluchtbewegung gewichen ist. Beide Figuren haben feste Plätze im Leben von Tobias. Und beiden gesteht er Räume zu, die sich ständig widersprechen und Komplikationen produzieren.
 
Freund Flasche, die gemütlich eingerichtete Sucht, droht Überhand zu nehmen. Im Schlafzimmer, wo sie zärtlich mit Tobias schmust, oder im Architekturbüro, wo sie keine Lust auf Baupläne hat. Flasche quatscht dazwischen, Flasche pocht auf den nächsten Kneipenbesuch. Wird Tobias der Alltag mit Anika und den drei Kindern zu viel, gibt er nach. Dann feiert er zu Musik von Käptn Peng, tanzt halbnackt auf dem Tresen oder bezirzt sibirische Großunternehmerinnen (sonderbarer Gastauftritt: Iris Berben). Ein imaginierter Exzess womöglich, doch das lässt der Film offen. Er kann keine Trennlinie ziehen zwischen nüchterner Sicherheit und trunkenem Wahnsinn, weil auch Tobias es nicht mehr kann.
 
"Alki Alki" heißt die neue Regiearbeit von Axel Ranisch, der eines der Ziehkinder von Rosa von Praunheim ist und seit seinem Abschluss an der Filmuniversität Babelsberg ein Wunderwerk nach dem anderen dreht (oder, wie der Name seiner Produktionsfirma viel zu bescheiden verlautbart: "Sehr gute Filme"). Wie schon in dem ebenfalls von der ZDF-Sendereihe "Das kleine Fernsehspiel" mitproduzierten "Ich fühl mich Disco" geht es einmal mehr um vertrackte Familienverhältnisse und noch vertracktere Ausbruchssehnsüchte aus diesen Verhältnissen, um die Unfähigkeit auch, sich mitteilen zu können, und das Verlangen, daraus trotzdem noch Harmonie abzuleiten.
 
Ranisch erzählt von Problemen, die auf dem Papier (oder an öffentlich-rechtlichen Redaktionstischen) zunächst themenfilmische Relevanz versprechen mögen, deren spröden Ernst er allerdings fantasievoll und frei von aufgesetzt kleinkünstlerischer Niedlichkeit zu Unernst verfremdet. Tagträumereien und Halluzinationen bestimmen die Gefühlswelten seiner Figuren, warmherzige Beklopptheiten durchziehen ihren tristen Alltagsrealismus. "Alki Alki" schöpft melancholischen Humor aus der Prämisse der personifizierten Sucht und lässt außerdem noch einen von Robert Gwisdek alias Käpt'n Peng gespielten Troubadour auftreten, der das Geschehen bittersüß kommentiert.
 


Was nicht heißt, dass sich der Film nur einen indirekten Zugriff auf seine Geschichte erlauben würde, ganz im Gegenteil: Gerade da, wo bei Ranisch Magie ins Spiel kommt, wird eine zwangslose Auseinandersetzung möglich. Sobald die suffgeschwängerten Trugbilder des alkoholkranken Tobias in manische Entzugserscheinungen umschlagen, fehlt seinen in die Erfahrungswirklichkeit hineinwirkenden Realitätsbrüchen jeder distanzierte Witz. Als schließlich nichts mehr geht, sucht Tobias sich und seiner Familie zuliebe den Weg in eine Entzugsklinik, erklärt er dem Alkohol nach Totalabschuss, Autounfall und Notaufnahme endlich den Kampf. "Druck, jetzt gibt es Druck", flüstert ihm Freund Flasche entsprechend verängstigt von der Seite zu. Druck, sagt die Sucht. Druck wird Tobias aushalten müssen, auch oder besonders mit besorgtem Blick auf seinen Sohn Hannes (Paul Pinkowski), den Flasche unterdessen schon mephistophelisch zu umgarnen beginnt.
 
"Sehr gute Filme"-Mitbegründer und Ranisch-Stammdarsteller Heiko Pinkowski spielt den brummigen Architekten Tobias mit einer Empfindsamkeit, die an sein sexuell spät erwachtes Muttersöhnchen aus "Dicke Mädchen" oder den hilflosen Papa in "Ich fühl mich Disco" erinnert. Ranischs Filme und ihre auf sympathische Art hingerotzt wirkenden Digitalbilder fordern solche Figuren immer wieder aufs Neue heraus, ihr Scheitern zuzulassen. Konkret: Ihr Scheitern als Selbsterkenntnis produktiv zu machen, um lebensfähig bleiben zu können.
 
Deshalb ist "Alki Alki" in den Momenten der Konfrontation besonders schön. Der puren Themenfilmtauglichkeit arbeitet Ranisch gerade da noch spielerischer entgegen. So zeigen die Therapiesitzungen in der Klinik, dass jeder Suchtkranke einen bösen Begleiter wie Flasche hat (manche treten offensiv verführerisch auf, ein anderer - der von Dietrich Brüggemann gespielt wird - sitzt seinem Opfer beinahe heimlich im Nacken); und schließlich, da wechselt "Alki Alki" endgültig auf eine surreale Ebene, lernen sogar die menschlichen Süchte, sich miteinander zu verständigen: Weil beim hochsensiblen Filmemacher Axel Ranisch selbst das Abstrakte noch Gefühle hat, die kommuniziert werden möchten.

Rajko Burchardt

Alki Alki - Deutschland 2015 - Regie: Axel Ranisch - Darsteller: Heiko Pinkowski, Christina Große, Peter Trabner, Robert Gwisdek - Laufzeit: 102 Minuten.