Im Kino

Der beständig morphende Multikörper

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Lukas Foerster
26.10.2017. "Untitled" von Michael Glawogger und Monika Willi ist geprägt von einem unbändigen Bewegungsdrang und der Sehnsucht nach einem anderen Licht. Sonja Kröner will in ihrem Debütfilm "Sommerhäuser" nicht auf satirische Spitzen, sondern auf eine Bestandaufnahme hinaus.


Zweimal spricht die Voice-Over-Stimme in "Untitled" über Licht: Einmal wird eine Flughafenlandebahn beschrieben, die nicht künstlich bestrahlt werden muss, weil sie von selbst leuchtet, bis ins Weltall hinein: eine spektakuläre, überbordende Sichtbarkeit, die übers menschliche Maß hinaus reicht. Und einmal geht es, in einer der schönsten Sequenzen des Films, um die außergewöhnlichen Lichtverhältnisse, die nachts während eines Stromausfalls möglich werden. Wenn das konstante, gesittete, reglementierte, leise Licht verschwindet, dann taucht ein neues, lautes auf, das Licht von tausend Taschenlampen, Scheinwerfern, Handybildschirmen, ein unreglementiertes, lebendiges, vielstimmig-basisdemokratisches Licht.

"Untitled" ist ein Film über dieses andere Licht, ohne es freilich direkt zu zeigen. Wahrscheinlich geht das auch gar nicht - ein einzelner Film ist immer nur ein Lichtereignis, eine Emanation, ein Projektor, der ein Bild auf eine Leinwand wirft (und selbst noch die Experimente des Expanded Cinema lenken von diesem Problem eher ab, als dass sie es beseitigen). Ein Film kann höchstens Bilder suchen, die die Sehnsucht nach dem anderen, chaotischen, dezentrierten Licht beschwören. In "Untitled" drückt sich diese Sehnsucht aus in einem allgegenwärtigen, nicht abbremsbaren Bewegungsdrang, der einerseits von Europa nach Afrika führt und wieder zurück, immer hin und her, kreuz und quer, immer neue Landschaften, neue Horizonte; und der andererseits auch jede einzelne Station dieser Reise dynamisiert, oft entlang von Bewegungen in der Welt, einem kleinen, rosa gekleideten Mädchen oder einer Herde Bergziegen folgend. (Überhaupt Tiere: gleich am Anfang steht der beständig morphende Multikörper eines Vogelschwarms, später immer wieder, fast leitmotivisch, Tiere, die sich ineinander verkeilen, aber auch stillgestellte Tiere, auf den Tragflächen von Transportflugzeugen, oder einmal, ein unvergessliches Bild, ein brüllender Esel, so intim gefilmt, dass man meint, im Kino direkt an seine Nervenenden angeschlossen zu sein).

"Untitled" arrangiert Bilder und Texte, die zwischen Winter 2013 und Frühjahr 2014 entstanden sind, auf einer Weltreise, die der österreichische Regisseur Michael Glawogger für ein Filmprojekt unternommen hatte. Genauer gesagt war der Plan, Reise und Film möglichst in eins fallen zu lassen: sich über die Kontinente treiben lassen und filmen, was die eigene Aufmerksamkeit erregt. Gut vier Monate, nachdem sich Glawogger mit seinem kleinen Team auf den Weg machte, starb er in Liberia an Malaria. Seine langjährige Cutterin Monika Willi hat aus dem Material einen Film erstellt, der außerdem, auf der Tonspur, eine Reihe von essayistischen Kurztexten aufnimmt, die Glawogger während seiner Reise verfasst und in zwei Blogs veröffentlicht hatte. Willis Beitrag ist keineswegs zu unterschätzen: "Untitled" ist selbstverständlich nicht einfach derselbe, nun nachgereichte Film, den Glawogger ursprünglich hatte drehen wollen, und wenn er doch über weite Strecken wie ein Glawogger-Film aussieht, dann verweist das vor allem darauf, dass alle Glawogger-Filme seit "Workingman's Death" immer auch Willi-Filme waren.

Der unregelmäßig auftauchende, von Birgit Minichmayr eingesprochene Voice-Over-Kommentar vor allem dürfte dafür verantwortlich sein, dass "Untitled" nach seiner Premiere bisweilen mit dem Werk Chris Markers, und insbesondere mit dessen Japanfilm "Sans Soleil" in Verbindung gebracht wurde. Mir leuchtet das nicht so recht ein. Der Film von Glawogger und Willi ist deutlich konkreter, mehr einer physischen, denn einer intellektuellen Reisebewegung verpflichtet. Zwar ist der Voice-Over, wie Glawoggers Blogposts und wie eben auch der Kommentar in "Sans Soleil", in der dritten Person Singular formuliert, aber anders als bei Marker bleibt die Sprecherposition dennoch stabil: ein Schritt heraus aus dem Ich, aber nicht, um Subjektivität infrage zu stellen, sondern um das eigene In-der-Welt-Sein mitzudenken, bei jedem einzelnen Bild.



















Eher scheint mir "Untitled" verwandt mit den neueren Filmen Terrence Malicks, auch wegen des Voice Over, vor allem aber wegen der flüssigen, federleichten Montage, den wiederholten Schnitten direkt in Bewegungen oder ins Weitwinkel-Getümmel hinein (was auch damit zu tun haben könnte, dass die Bilder diesmal, anders als bei früheren, auf 16mm gedrehten Glawogger-Dokumentarfilmen wie "Workingman's Death" oder "Whore's Glory", digitalen Ursprungs sind). Man mag einwenden, dass der Österreicher sein Netz breiter aufspannt und allgemein andere, härtere, widerständigere Sujets bevorzugt, dass Malick nicht auf die Idee kommen würde, minutenlang Kinder zu filmen, die eine Müllkippe durchwühlen und sich außerdem mehr für ätherisch-tänzelnde Frauen interessiert, als für kräftige junge Männer, die sich gegenseitig an die Gurgel gehen. Aber das sind lediglich Unterschiede im Temperament, der Modus der unbedingten Weltzugewandtheit ist derselbe.

Bei Malick wie bei Glawogger/Willi hat man das Gefühl, dass da nicht ein strukturierter Film vor einem abrollt, der ein Programm durcharbeitet (und zufrieden ist, wenn am Ende alle entscheidenden Kästchen seiner Strichliste mit Häkchen versehen sind), sondern dass man in eine Bildermaschine eingespannt wird, die einen zwar irgendwann, aus praktischen Gründen, wieder freigeben muss (so wie auch das biologische Leben irgendwann endet), die aber prinzipiell endlos weiterproduzieren könnte, weil es nicht darum geht, ein abgeschlossenes Werk in die Welt zu setzen, sondern ein generatives Prinzip vorzuführen. Das heißt auch: Wer bei Malick immer nur Kitsch und "da oben ist Gott" sieht, der stört sich in "Untitled" vielleicht auch an einer gewissen Nähe zu National Geographics und filmfestivaltauglicher Elendspornografie, oder einfach nur an ihrer berückenden Schönheit, die tatsächlich jedes Sujet gleichermaßen umarmt. Aber das übersieht nicht nur den Reichtum der Bilder, der sich zum Beispiel offenbart, wenn Glawogger während eines Gottesdienst ein junges Mädchen fokussiert, das gelangweilt, gähnend und sich streckend zwischen den ekstatischen Gläubigen steht; es unterstellt auch einen thematischen Funktionalismus, der in beiden Fällen gerade nicht greift. Malick und auch Glawogger/Willi stellen die Bilder frei, dekontextualisieren sie gezielt und schließen sie stattdessen mit Subjektivität kurz.

Bei "Untitled" ist das noch deutlicher, weil es um eine einzelne Subjektivität geht, weil der äußeren Reise eine innere entspricht, und zwar: exakt entspricht, auch in ihrer Rast- und Ziellosigkeit. Die Welterschließung ist, vor allem durch das Voice Over, verbunden mit einer Weltabwehr. Aber welcher Welt will der Film entkommen? Der westlichen, industrialisierten könnte man meinen, aber das trifft es nicht ganz. Zumindest soweit sie geeignet ist, Chaos in die Welt einzutragen, richtet sich die Bewegung des Films nicht gegen die Moderne, eher gegen das, was bei Adorno "verwaltete Welt" heißt. Kein Pass haben, nicht mehr erreichbar sein, nicht mehr funktionieren (und einen Film drehen, der keinen Titel hat, wobei sich schon darin eine Paradoxie ausdrückt: "Untitled" ist doch wieder ein Titel, aus dem Sortierungssystem Sprache findet man, wenn man einmal in es eingetreten ist, nicht mehr heraus): Das ist die zentrale Utopie. Die an einer Stelle dieses bemerkenswert offenherzigen Films auch direkt individualbiographisch gewendet wird: Der imaginäre Fluchtpunkt ist die Welt der Kindheit, eine Welt, in der man noch verloren gehen kann. Wenn man dann aufwächst, muss man erkennen: "Die Welt ist also doch zu klein, um sich zu verstecken". Hinter diese Erkenntnis kommt man nicht zurück, man kann aber immerhin furios gegen sie anfilmen.

Lukas Foerster

Untitled - Österreich 2017 - Regie: Michael Glawogger, Monika Willi - Laufzeit: 105 Minuten.

Unser Text zur Berlinale 2017.

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In der ersten Einstellung ragt der abgebrochene Stumpf eines Baumes ins Bild. Dann sehen wir einige Leute, die betrachten, was der Blitzeinschlag hier angerichtet hat. Dieser Anfang zeigt zweierlei: Es geht in "Sommerhäuser" um eine beständige Bedrohung (auch) durch die Natur und zugleich werden die Zuschauenden immer wieder zur Kontemplation der Natur eingeladen.

Drei Generationen einer Familie treffen sich in einem Garten in der Nähe von München, in dem die titelgebenden Sommerhäuser stehen, um einen besonders heißen Tag im Jahrhundertsommer des Jahres 1976 miteinander zu verbringen. Diese Ausgangssituation verwendet Sonja Maria Kröner, Absolventin der HFF München, in ihrem Langfilmdebüt dazu, das Porträt einer Familie zu zeichnen, die einer beständigen, latenten Bedrohung von außen unterliegt. Gleich zu Beginn bei der Anreise im Auto singen die Kinder das Lied "Negeraufstand in Kuba", das in der Bedienung rassistischer Stereotypen von schwarzen Kannibalen die Angst vor dem Anderen schürt: "Auf den Straßen von Havanna werden Weiße umgebracht." Durch die Geschichte eines in der Gegend verschwundenen Kindes, von der die Zeitungen voll sind, rückt die Bedrohung näher, wird greifbarer. Das Baumhaus, in dem die Kinder spielen, ist zu hoch und ungesichert. Schließlich gibt es den "Angriff" der Wespen, die in einem solchen Sommer eine regelrechte Plage bilden. Wo die vermummten und eingewickelten Männer, die das schließlich entdeckte Wespennest zerstören wollen, noch wie die Karikaturen des Personals eines Seuchenhorrorfilms wirken, wie etwa George A. Romeros "The Crazies" (1973), da entwickelt die Inszenierung, wenn die Natur schließlich zurückschlägt und die aufgescheuchten Wespen, deren "Haus" vernichtet werden sollte, nun wiederum den Menschen das ihre streitig machen, tatsächliche Horrorfilmintensität.

Gleichzeitig deckt der Film auch die dysfunktionalen Strukturen und destruktiven Dynamiken des Familiengefüges selbst auf, zeigt Figurenkonflikte, die sich zwar immer wieder in verbaler Aggression entladen, aber nie "ordentlich" aufgelöst werden. Glücklicherweise geht es Kröner nicht um die satirische Dekonstruktion eines Kleinbürgeridylls, darum also, zu zeigen, dass dieses vermeintliche Stückchen Paradies, als das eine der Frauen den Garten einmal bezeichnet, schlichtweg die Hölle ist. Selbst noch dort, wo ältere Frauen angesichts der Schreckensnachrichten in den Zeitungen sich dafür stark machen, die Todesstrafe wieder einzuführen - und Bemerkungen darüber fallen lassen, dass es so etwas unter Hitler nicht gegeben hätte und dass man so etwas ja heutzutage gar nicht mehr laut aussprechen dürfe - verweigert sich Kröner sowohl dem naheliegenden Gegenwartsbezug als auch dem ideologischen Abkanzeln ihrer Figuren, sondern begnügt sich mit der genauen Beobachtung.



Die wertfreie Darstellung eines sozialen Biotops korreliert mit den großartigen Aufnahmen der Natur des Gartens, die von Julia Daschner geführte Kamera filmt das relativ verwilderte Grundstück so, als ob es der Amazonas wäre. Die langen Einstellungen vom Sonnenlicht, das sich in den Blättern bricht, vom Flug der Pollen, von den Schattenspielen, die das Wasser eines Tümpels auf die Bäume wirft verweisen auf eine geradezu mystische Überhöhung der Natur, die aber nicht im Dienst von einfachen Erzählungen und Dichotomien steht. So geht es keinewegs darum, die Schönheit der Natur mit dem immer wieder ziemlich "hässlichen" Verhalten der Menschen zu kontrastieren.

Und wenn die verwilderte Natur der Ort der Kinder ist, die durch sie strolchen, während sich die Erwachsenen immer wieder darum bemühen, sie zu domestizieren, die Blumenbeete hegen, den Rasen mähen, dann geht es dem Film wiederum nicht um die nostalgische Verklärung der Kindheit als einer Art unberührtem Urzustand. Die Kinder treten in einen regelrechten Wettstreit darum, wer mehr Wespen tötet, wobei sie den Flügeltieren auch mal mit Sprühdeo und Feuerzeug zu Leibe rücken. Auch in der Darstellung der Siebzigerjahre verweigert sich der Film den Nostalgiereflexen konsequent. Es geht nicht um Bewertungen, sondern um reine Bestandsaufnahme. Der Film ist bemüht, nicht nur die Menschen und die Natur, die sie umgibt, zum Sprechen zu bringen, sie zu beobachten und ihnen zuzuhören, sondern auch die in Klamotten, Ausstattung und Helmut Schmidt-Plakaten verkörperte Zeit seiner Handlung.

Das Kunststück, das Kröner mit ihrem Film nicht nur gelingt, sondern das sie auch noch wie eine Selbstverständlichkeit wirken lässt, besteht darin, dass sie ihren Figuren und dem sozialen Geflecht, das sie miteinander verbindet, im gleichen Maße kritisch und empathisch begegnet. Oder anders ausgedrückt: Die Figuren des Films sind manchmal relativ gemein zueinander; der Blick der Regisseurin auf sie ist es jedoch nicht.

Nicolai Bühnemann

Sommerhäuser - Deutschland 2017 - Regie: Sonja Kröner - Darsteller: Katja Brenner, Mavie Hörbiger, Laura Tonke, Thomas Loibl, Günther Maria Halmer - Laufzeit: 97 Minuten.