Im Kino

Die Kulisse ist weg

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Fabian Tietke
09.04.2015. In Ahmad Abdallas Paranoia-Thriller "Décor" führen Gespenster der Vergangenheit eine Frau ins Heute. In Alfonso Gomez-Rejons "Warte, bis es dunkel wird" lasten sie wie ein Alb auf der Gegenwart.


Eben noch hat Maha die Tischdecke glatt gestrichen. Die Tischdecke auf dem Tisch einer Wohnzimmerkulisse auf dem Filmset im Studio in Kairo. Maha arbeitet gemeinsam mit ihrem Freund Sherif als Setdesignerin, stattet lustlos heruntergekurbelte filmische Durchschnittsware aus, streitet sich mit Diven und solchen, die das gerne wären, kämpft auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten und des Zeitdrucks um jedes Detail der Kulisse. Dann ist auf einmal die Kulisse die Welt, in der sie lebt. Nach dem ersten Wechsel folgen weitere, immer unklarer wird, welche der Welten "wirklich" ist. Jene, in der Maha übermüdet Filme einrichtet, oder jene, in der sie eine kleinbürgerliche Existenz mit ihrem Ehemann Mustapha und ihrer Tochter Haya in einem krisengeschüttelten Land mit abendlicher Ausgangssperre führt. Jeder Wechsel bedeutet für Maha einen Ausbruch aus dem Gefängnis ihrer Entscheidungen.

In das Hin und Her webt der Regisseur Ahmad Abdallah Deutungsangebote. Das erste führt zurück in die zweite goldene Zeit des ägyptischen Kinos - in die 1960er Jahre. Faten Hamama, die anders als viele Filmdiven für politische Rollen bekannt war, beginnt Maha zu begleiten. Genauer: Faten Hamama in ihrer Rolle als Nadia in Kamal El Scheichs "Die letzte Nacht" von 1964. El Scheichs Film ist eine Art Paranoia-Thriller, in dem die Protagonistin eines Morgens aufwacht und feststellt, dass sie verheiratet ist und Mutter einer Tochter. Das muss für Maha ziemlich vertraut klingen. Abdallah deutet diese Linie anfangs nur an, indem er Maha die VHS-Tapes in der Kulisse durchsuchen lässt. Aber mit der Zeit ist "Die letzte Nacht" überall zu sehen - in der Garderobe der Protagonistin des Films, dessen Set Maha betreut, im Wartezimmer eines Arztes. Mahas Freund Sherif kommentiert schmunzelnd: "Sieht aus, als würden wir den Film nicht los."



Das zweite Deutungsangebot ist klassischer: ein Psychologe. Je länger Maha hin- und herdriftet, je seltsamer ihr Verhalten wird, desto mehr will sie verstehen, was geschieht. Schließlich sitzt sie mit Sherif auf der Couch. Der Psychologe bohrt fragend vor sich hin, kommt von der Beziehung der beiden zur Frage nach dem Kinderwunsch, pult in den Wunden herum, fragt schließlich, in welcher der Welten sie sich freier fühle. Sherif ist erkennbar wenig begeistert. Beide Deutungsangebote führen ins Nichts: Maha driftet weiter zwischen den Welten hin und her, verliert zunehmend den Kontakt zu ihrer Umwelt. Gerade als es scheint, dass sie in der Welt Mustaphas bleibt, taucht Sherif auch in dieser auf und die Dinge verwirren sich weiter.

Abdallah ist bekannt geworden mit seinem strahlenden Revoltenfilm "Microphone" über junge Kreative unter Mubarak - nicht zuletzt deshalb, weil "Microphone" so gradlinig erzählt war und so klare Konfliktlinien zeichnete, dass er ohne jede Kenntnis über Ägypten jenseits eines vermeintlichen globalen Basiswissens (junge Kreative: gut, Regime: böse) verständlich war. "Décor" hingegen ist ein ausgetüftelter Film. Abdallah hält die paranoide Grundstimmung nahezu den ganzen Film über aufrecht, jongliert mit den Welten, füttert den Zuschauer mit Deutungslinien und nimmt ihm dann gleich wieder die Sicherheit. Stabilisiert wird der Film lediglich von einer zentrumsfixierten Kamera (Tarek Hefny), die sich nur selten bewegt und einer Montage, die den Schnitt fast immer dem Schwenk vorzieht. Es entstehen Bilder von einer luziden Klarheit, die dem Film eine Leichtigkeit geben und zugleich etwas Analytisches evozieren. Bis kurz vor Schluss ist nicht klar, worauf der Film mit all seinen Andeutungen und Fährten hinaus will. Ist "Décor" eine symbolreiche politische Parabel? Oder doch eher ein existenzialistisches Melodrama, wie es das Kino der 1960er Jahre auch in Ägypten geliebt hat?

Am Schluss endet alles wie es begonnen hat: mit dem Austritt aus der Welt. Beim Glattstreichen der Tischdecke, das Maha ein erstes Mal in die andere mögliche Welt gebracht hatte, war Maha einen kostbaren Moment lang ganz bei sich, hatte die Welt des Sets hinter sich gelassen, allein mit der Hand auf der Tischdecke. Am Ende ist sie wieder allein, diesmal aber auch im Reinen mit sich, hat mit Sherif und Mustapha gebrochen. Die Kulisse ist weg, die vielleicht radikalste Emanzipation gewagt, die das Kino der letzten zehn Jahre gesehen hat: Maha ist nicht länger gefangen in ihren eigenen Entscheidungen.

Fabian Tietke

Décor - Ägypten 2014 - Regie: Ahmad Abdalla - Darsteller: Horeya Farghaly, Khaled Abol Naga, Maged El Kedwany, Samar Morsi, Mahmoud Hamdy - Laufzeit: 116 Minuten.

"Decor" ist im Rahmen des Festivals ALFILM am 12.4. um 18:30 Uhr im Berliner Kino Arsenal zu sehen.

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Die Vergangenheit lastet schwer auf der Gegenwart im Zeitalter der vollgepackten, jederzeit zugänglichen Archive. Wenn man heute im auch schon wieder rückblickenden Gestus das perspektiviert, was man vielleicht einmal als erste, euphorische Phase einer Permanenz des postmodernen Kinos einschätzen wird, kann man sich womöglich darauf einigen, dass dessen glückselig ausgestellte Media-Savyness tatsächlich noch auf den - historisch gesehen immer noch relativ jungen - Effekt privat geführter Medienbibliotheken zurückgreift: Gerade weil der vom Zitatekino referenzierte Kanon noch relativ überschaubar war, entstand ein Gemeinschaft stiftendes "In on the joke"-Event. Doch die Euphorie ist angesichts immer weiter wuchernder Archive längst der Depression gewichen: Es gibt gar nicht mehr so viel Jetzt-Zeit, die es bräuchte, um all das aufzuarbeiten, was in der Vergangenheit an Übersehenem und Unbewältigtem schlummert und mit einem Mal Präsenz im Präsens für sich beansprucht, von der Bewältigung und Gestaltung der Zukunft ganz zu schweigen. Gerannen die Gespenster der Vergangenheit einst irgendwann, wandeln sie heute quicklebendig unter uns.

Dass im Zuge der Remake-Welle im Horrorfilm - also dem Genre, das immer schon ein ganz besonderes Faible für die Traumata unter den Schichten der Vergangenheit aufwies - irgendwann auch die obskureren Filme für Neuauflagen interessant werden, entspricht dabei schon der Logik eines Markts, der aggressiv Nachschub einfordert. Wo "Texas Chain Saw Massacre", "Tanz der Teufel", "Dawn of the Dead", "Nightmare on Elm Street", "Maniac" und wie sie noch alle heißen längst Einzug zumindest in die amerikanische Popkultur gehalten haben, ist Charles B. Pierces früher, zwei Jahre vor John Carpenters stilbildendem "Halloween" entstandener Proto-Slasher "The Town That Dreaded Suntown" nicht zuletzt wegen seines spröden Charakters eine nur unter eingefleischten Fans kursierende Obskurität, auch wenn zahlreiche Charakteristika des im VHS-Boom der 80er Jahre fröhliche Sequel-Urständ" feiernden Genres hier bereits angelegt sind - vom sexuell repressiven Subtext angefangen bis hin zur Maskierung des Killers. Deutlicher als alle anderen frühen Slasher-Filme, die sich, mit Hitchcocks "Psycho" angefangen, als spekulative Interpretationen der Taten des Serienmörders Ed Gein deuten lassen, griff Pierce in seinem Film sehr konkret auf einen realen Fall zurück: 1946 wurde sein Heimatort Texarkana, in dem "The Town That Dreaded Sundown" nicht nur gedreht wurde, sondern auch spielt, tatsächlich von einem Serienmörder heimgesucht: Die nie aufgeklärten "Texarkana Moonlight Murders" versetzten die Stadt einen Sommer lang in Angststarre.

Der als Remake angekündigte "Warte, bis es dunkel wird" verhält sich zu dieser uneindeutigen Sachlage zwischen Fakt und Fiktion nun wie ein doppeldeutiges Sequel: Die Welt, die Regisseur Alfonso Gomez-Rejon hier entwirft, trägt einerseits den realen Mordfällen Rechnung, nimmt aber auch erzählend die Existenz von Charles B. Pierce" Film nicht nur zur Kenntnis, sondern baut darauf geradezu auf, nimmt den Film als Blaupause und lässt sich von diesem immer wieder auf parasitär-produktive Weise stören und infizieren: Knapp 40 Jahre, nachdem Pierce seinen Film über die Texarkana-Morde gedreht hat, genießt der Film in der Stadt in Form alljährlicher Autokino-Vorführungen den Kultstatus regionaler Folklore. Doch in diesem Jahr kehrt der "Phantomkiller" zurück und fordert am Rande einer solchen Vorführung das erste von vielen Opfern. Eine Überlebende des ersten Mordes, die junge Jami (Addison Timlin), nimmt auf eigene Faust Ermittlungen auf - nicht zuletzt, da sie vom Killer selbst damit beauftragt wurde, das Gedenken an eines der Opfer aus dem Jahr 1946 aufrecht zu erhalten.



Reale Morde inspirieren einen Film, der einen weiteren (im Original im übrigen identisch betitelten) Film inspiriert, der als Vexier-Memento der realen Morde und des ersten Films figuriert. Anders als Wes Cravens Meta-Slasherreihe "Scream" greift "Warte, bis es dunkel wird" nicht alleine auf die Regeln des Genres und deren intime Kenntnis eines mit (damals noch) VHS-Sammlungen ausgestatteten Publikums zurück, sondern fokussiert die historische Situation der Erinnerungsüberwältigung, unter deren Bedingungen gerade auch die "digital natives" ohne eigene Erinnerungen an frühere Mediensituationen aufwachsen. Schon auch, weil der als abgenudelte 16mm-Kopie sich immer wieder geradezu gespenstisch spukend einschiebende Originalfilm keineswegs als bekannt vorausgesetzt werden kann (wiewohl er - Internet, zwinkerzwinker - jedem binnen kürzester Zeit zur Verfügung steht), geht es hier weniger um auch fürs souveräne Publikum heitere Regelnaustesten und -verbiegen. Vielmehr spielt "Warte, bis es dunkel wird" vor allem im Register der Ermattung: Wenn im Stadtbild einer Statue die Maske des Killers übergezogen und ihr ein Schild mit einer krakeligen "Remember"-Aufforderung um den Hals gehängt wird, geht von diesem Imperativ ein merklicher Alb aus, der auf diesem Film und seinen Protagonisten lastet.

Jami zieht durch Stadt- und Onlinearchive, geht Zeitungen auf Mikrofilm durch und macht sich sogar auf die Suche nach Regisseur Charles B. Peirce, in der Hoffnung, von ihm Hinweise auf die Idenität des einstigen und damit vielleicht auch jetzigen Killers zu bekommen. Das Fernsehen mit seinen ewigen Re-Runs als Verkörperung einer einstigen Jetzt-Zeit, die keine Vergangenheit werden will, ist allgegenwärtig, wie auch der wiederaufgeführte Originalfilm, der diesen hier informiert. "Maybe there"s no connection to the past and the Phantom is just the Boogeyman", heißt es an einer Stelle im resignativen Gestus. Was unaufgearbeitet und unabgeschlossen in den Archiven west, wird irgendwann zum bloßen Gespenst (dass die Jahre 1946, 1976 und auch die jetzige Zeit als Zeit unmittelbar nach kriegerischen Auseinandersetzungen der USA gelten kann, schwingt dabei noch lose unaufgehoben im Subtext mit). Handelte "Scream" noch von einer mit leichter Hand verwaltbaren Vergangenheit, bestens gebannt im heimischen Wohnzimmerregal, spekuliert "Warte, bis es dunkel wird" gerade auf eine Vergangenheit, die sich kaum mehr in den Griff kriegen lässt.

Während der Splatter- und Slasherfilm in den vergangenen Jahren derbe eskalierte, hält sich "Warte, bis es dunkel wird" spürbar zurück, was das groteske Spektakel der Gewalt betrifft. Dem existenzialistischen Splatterexzess vieler Remakes setzt Alfonso Gomez-Rejon eine melancholische Farbträumerei mit elegischen Untertönen entgegen. Passagen in gesättigten Primärfarben mögen Erinnerungen an Dario Argentos knallebunte Farben-Gewaltoper "Suspiria" wachrufen, dann wieder gibt es Momente, die an die Wehmut blasser Instagram-Filter erinnern. Auch auf diesem Portal tauchen die jungen Leute von heute schließlich ihre Gegenwart in die Patina einer künstlichen Erinnerung, die schon altersbedingt unmöglich die eigene sein kann und sich damit als nostalgische Sehnsucht nach einer Gegenwart zu erkennen gibt, die unter der Last der Vergangenheit gründlich abhanden gekommen ist.

Thomas Groh

Warte, bis es dunkel wird - USA 2014 - OT: The Town That Dreaded Sundown - Regie: Alfonso Gomez-Rejon - Darsteller: Addison Timlin, Veronica Cartwright, Anthony Anderson, Travis Tope, Joshua Leonard, Andy Abele, Gary Cole - Laufzeit: 86 Minuten.
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