Im Kino

Eierschaukeln

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
22.07.2009. In Todd Phillips' "Hangover", der Hollywood-Erfolgskomödie dieses Sommers, fragen sich drei nur sehr bedingt erwachsene Männer nicht nur, wo ihr Kumpel in der Nacht vor seiner Hochzeit abgeblieben ist. Und Zoya Akhtar, Tochter berühmter Eltern, zeigt in "Luck By Chance" die indische Filmindustrie, wie sie vielleicht sogar wirklich ist.

Man klaut, wo man kann. Der Tiger im Badezimmer (nein, nicht im Bild zu sehen) erinnert doch ein wenig an die Raubkatze, die Katherine Hepburn in "Leoparden küsst man nicht" zur Beaufsichtigung Cary Grant in die Hand drückt. Man erinnere sich, dass die von Cary Grant gespielte Figur am nächsten Tag eine strenge Kollegin heiraten will. Der in-letzter-Minute-jemand-anderen-Heiraten-Plot kommt auch in "Hangover" vor, betrifft hier allerdings die rasch entflammte Liebe eines Zahnarzts zu einer Edel-Prostituierten. Überhaupt hören die Ähnlichkeiten recht schnell wieder auf. Zur Screwball-Eleganz des Howard-Hawks-Films fehlt der Brachialkomik, auf die "Hangover" setzt, doch kaum weniger als alles.

Die eigentliche Ausgangs-Pointe, die für den Großteil der folgenden Witzzufuhr sorgt, ist dann dem Amnesie-Genre entnommen, "Memento" & Co. Drei wachen auf, vermissen den vierten, erinnern sich an nichts, nehmen mit Staunen den Tiger zur Kenntnis, das Baby und den fehlenden Zahn und begeben sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit in der Nacht davor. Konfrontiert sind sie mit den Folgen eines Tuns, das sie als das ihre mit Mühe und unter Schmerzen begreifen. Aus einem Himmel, der ihnen heiter schien, werden sie beschimpft und attackiert und - schlimmer noch - geliebt und müssen sich selbst immerzu befragen: das also habe ich getan? Andererseits: Auch mit den identitätsphilosophischen Fragen von "Memento" hat dieser Film wenig am Hut.

So geht es los: Mit dem Jägermeister hat was nicht gestimmt. Genauer gesagt: mit den Ecstasy-Pillen, die in der Nacht vor der Hochzeit Alan (Zach Galifianakis) seinen drei Kumpeln Doug (der Bräutigam; Justin Bartha), Phil (Bradley Cooper) und Stu (Ed Helms) heimlich in den Jägermeister gemischt hat. Die Ecstasy-Pillen waren, weil der stereotype schwarze Drogenhändler sich irrte, Roofies - die Vergewaltigungsdroge, die dafür sorgt, dass man sich an nichts, was geschah, danach noch erinnert. Die Komik bezieht "Hangover" genau daraus, dass er das Blackout-Geschehen ins Off seiner eigenen Erzählung verlegt - und das Off dann fruchtbar macht, als Schoß, aus dem zum Beispiel ein nackter Asiate springt und auf die drei ernüchterten Männer einschlägt oder aus dem ein echter Mike Tyson kriecht und, horribile dictu, zu Musik von Phil Collins singt.

Die drei ernüchterten Männer sind eben das nicht: Männer. Klare Fälle vielmehr jener intellektuellen, emotionalen und sozialen postadoleszenten Entwicklungshemmung, die männliche US-Komödienhelden der letzten Jahre fast durchweg auszeichnet. In den Komödien des Meisters Judd Apatow liegt die Komik (und, wenn man großzügig formuliert, auch die Tragik) darin zu sehen, wie die Kinder in Männerkörpern schicksalhaft dem großen Anderen begegnen (Frauen, Verantwortung, tatsächlich Erwachsenen) und ihre anarchischen Impulse zugleich nicht aufgeben wollen. Bei Apatow steht, anders gesagt, Wichtiges auf dem Spiel: Wie wird man Teil der Gesellschaft, ohne die zerstörerischen und gesellschaftsfeindlichen Impulse, die das Leben des Individuums doch auch ausmachen, ganz aufzugeben? Das heißt: bei Apatow gibt es Potenzial und Zwang zur Entwicklung, es gibt, wenn man wiederum großzügig formuliert, zeitgenössische Updates des guten alten Bildungsromans. (Der ein männliches Genre ist. Frauen haben traditionell andere Probleme, zu denen die Tatsache, dass sie sich in Beziehungen plötzlich nicht nur mit tatsächlichen, sondern auch als Männern getarnten Kindern konfrontiert sehen, durchaus gehört.)

"Hangover", der große Überraschungserfolg des Hollywood-Sommers, wählt die in allen Hinsichten bequemeren Lösungen. Hier ist alles nur Einverständnis und Karneval. Dem über die Stränge Schlagen wird per Ritual eine Frist eingeräumt: Junggesellenabschied, Nacht vor der Hochzeit. Hier ist Unterleib, hier darf er sein. Das ICH, das sich mit dem vergessenen nächtlichen Wirken des ES konfrontiert sieht, ist im Grunde nicht reifer und/oder reifungsbedürftiger als eben sein ES. Die Männer, die Kinder sind, bleiben das. Für den Film heißt das: Auch er verharrt glücklich im Stereotypen und greift ohne Bedenken auf sexistische und rassistische Klischees zurück. Was durchaus komisch ist, immer wieder, aber kaum auf befreiende Weise. Am Ende sind die Helden mit sich dann im Reinen und der Film ist es auch: Im Abspann sieht man fotografisch die Bilder der Nacht, die als Tag der Komödie eingeholt worden ist. Mit Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten hat das aber gar nichts zu tun. Alles nur Eierschaukeln und glückliches Entwicklungshemmungssyndrom.

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"Luck By Chance" ist ein Inside-Job. Ein Film über Bollywood von Leuten, die sich da wirklich gut auskennen. Der Name des Vaters und Drehbuchverfassers: Javed Akhtar, einer der berühmtesten Drehbuch- und vor allem Songautoren der Hindi-Filmindustrie, nicht zuletzt gemeinsam mit Salim Khan Verfasser der berühmtesten, bis heute zitierten Dialoge des Klassikers "Sholay". Er ist der Vater von Farhan Akhtar, der in "Luck By Chance" die männliche Hauptrolle spielt, und der selbst schon als Regisseur reüssierte. Farhan Akhtar ist auch der Sohn der Drehbuchautorin Honey Irani, die immerhin, selten genug für eine Frau, einmal auch Regie führen durfte. Mit Zoya Akhtar, Tochter von Honey Irani und Javed Akhtar, Bruder von Farhan, kommt nun eine weitere Regisseurin hinzu. Sie nämlich ist die Chefin im Ring dieser Familienproduktion, die nicht weniger als ein in weiten Teilen wohl halbwegs realistisches Porträt der Filmindustrie Bombays ist.

Farhan Akhtar spielt Vikram Jaisingh, der aus Delhi kommt, um als Schauspieler zu reüssieren. In der Schauspielschule wird ihm Selbstbewusstsein geimpft: Was sind schon Hollywood-Stars, heißt es da. Wir hier in Bollywood müssen nicht nur zu spielen, sondern auch zu singen und tanzen verstehen. Also sehen wir Vikram, wie er nicht nur spielen, sondern auch singen und tanzen trainiert. In der WG, in der er lebt, begegnet er, anderer Schauplatz, einer jungen Frau, die es als Darstellerin halb schon geschafft hat: Sona (Konkona Sen Sharma, Tochter der Parallel-Cinema-Regisseurin Aparna Sen) hat kleinere Rollen in Fernsehserien und unbedeutenden Filmen. Außerdem ist da der Casting-Agent, der ihr auf der Besetzungscouch eine große Zukunft versprach. Weiteres Exempel der möglichen Karrierewege, lebt auch in der WG: Ein begabter Darsteller, der sein Glück am Theater versucht, aber in Wahrheit auch vom Erfolg im Filmgeschäft träumt.

Es wimmelt in "Luck By Chance" von Gaststar-Auftritten und mehr noch von Anspielungen, Name-Dropping und Bezügen der selbstreflexiven Art. Hrithik Roshan spielt sogar amtlich mit, als Superstar, der eine Auszeit braucht. Aber kurz im Bild sind, nur zum Beispiel, auch Rani Mukherjee, John Abraham, Abishek Bachchan oder, später, mit gutem Rat für den angehenden Star, in den Sessel gelümmelt Shah Rukh Khan. Wer nun aber denkt, der Film wolle sich und die Freunde aus gutem Haus, das ganze Familien-Filmindustrie-Netzwerk also, einfach nur feiern, der geht fehl. Mit einer Extravaganza wie "Om Shanti Om" hat "Luck By Chance" wenig zu tun, wenngleich er schon das Nötige tut, in Film-im-Film-Song-and-Dance-Einlagen für Farben, Trubel und Stimmung zu sorgen.

Eigentlich jedoch kommt es ihm auf die andere Seite an. Die Besetzungscouch. Das Fädenziehen der Insider, das Outsider nur mit großem Glück den Einstieg erlaubt. Die Illusionen, die Lügen und den Alltag der Erfolglosen, in dem es an Geld fehlt. Das WG-Leben und sein enger Raum sind vergleichsweise realistisch geschildert. Und bei aller Sympathie für seinen Helden zeigt "Luck By Chance" doch, wie er bei der ersten Gelegenheit auf Treue pfeift und mit seiner püppchenhaften Co-Darstellerin Niki (Isha Sharvani) ins Bett springt. Überhaupt lässt es "Luck By Chance" an Deutlichkeit (und auch an Küssen) in diesen Dingen nicht fehlen. Es gibt dabei durchaus satirische Momente, bösartig aber wird es selten. In der Position des Films zu seinem Gegenstand Filmindustrie halten sich Begeisterungs- und Kritikfähigkeit seltsam die Waage.

Was "Luck By Chance" interessant macht, ist dann auch vor allem die Uneindeutigkeit seines Tons. Zoya Akhtar versucht einen Spagat, der für den aktuellen Zustand der Hindi-Filmindustrie recht bezeichnend ist. Sie will einerseits dem Spektakel-liebenden Publikum bieten, was es erwartet. Andererseits sucht sie aber auch sehr bewusst einen Weg in Richtung eines Realismus, der in Bollywood bis vor ein paar Jahren kaum denkbar gewesen wäre. Inzwischen aber gibt es eine Mittelschicht, die nicht mehr nur den schieren Eskapismus sucht. Es ist kein Zufall, dass "Luck By Chance", der insgesamt ein Flop war, am ehesten in den Großstadt-Mulitplexen reüssieren konnte. In den alten Kinopalästen war das Einspielergebnis dagegen eine einzige Katastrophe.

Symptomatisch ist der Film aber auch für den Wunsch einer Annäherung an Hollywood, für den nicht zuletzt der Produzent Anil Ambani steht, dessen Firma "Big Pictures" den Film koproduziert hat. Im letzten Jahr hat Ambani einen großen Koproduktionspakt mit Steven Spielberg und DreamWorks geschlossen. Gemeinsam will man fünf bis sechs Hollywood-Bollywood-Ko-Produktionen pro Jahr herstellen. Man darf gespannt sein, wie sich die Traditionen dabei vertragen und mischen - und es gehört wenig prophetische Gabe dazu, zu prophezeien, dass Nachwuchstalente wie Zoya und Farhan Akhtar, die nach der Balance zwischen Extremen suchen, in der neuen transatlantischen Zukunft eine wichtige Rolle spielen werden.

Hangover. USA 2009 - Originaltitel: The Hangover - Regie: Todd Phillips - Drehbuch: Jon Lucas und Scott Moore. Darsteller: Bradley Cooper, Ed Helms, Zach Galifianakis, Justin Bartha, Heather Graham, Sasha Barrese, Jeffrey Tambor, Ken Jeong, Rachael Harris, Mike Epps

Luck By Chance. Indien 2009 - Regie: Zoya Akhtar - Drehbuch: Javed Akhtar - Darsteller: Farhan Akhtar, Konkona Sen Sharma, Isha Sharvani, Rishi Kapoor, Dimple Kapadia, Juhi Chawla, Hrithik Roshan, Arjun Mathur, Alyy Khan, Shah Rukh Khan