Im Kino

Farbe ist dicker als Blut

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Thierry Chervel
06.05.2021. "Bound", ein früher Film der Wachowskis, ist immer da gut, wo die Dinge einfach bleiben. Das gilt für das zentrale Beziehungsdreieck, aber auch für die Bildsprache. Und natürlich für den lesbischen Sex. Netflix ist möglicherweise in eine Flaute gelangt: Seine eigentliche Qualität lag in Serien, über die wenige sprachen. Wird Netflix überhaupt überleben?
"M'entends-tu?" Szenenbild


Das Internet ist wie alle Revolutionen in Phasen unterteilt, die einander total zu negieren scheinen.

Es schien zunächst ein Universum der Offenheit, des Teilens und der kollektiven Konstruktion zu sein. Aber dann wurden diese vornehmen Impulse von Google und den sozialen Medien privatisiert und durch Algorithmen zu Goldadern gemacht - was nicht heißt, dass sie die Welt nicht auch verbessert haben. Die Streamingdienste führten die ehemals offene Sphäre des Netzes noch weiter in Richtung einer totalen Vereinzelung. Jeder sitzt vor einer Homepage, die nur seine ist und ihm dennoch keinen Sinn gibt, denn was Netflix mir empfiehlt, ist in den seltensten Fällen, was ich sehen will. Oder Netflix bietet so kümmerliche Informationen, dass ich mich erst anderweitig umsehen muss. Viele Serien habe ich nur gefunden, indem ich "Best foreign language TV Shows on Netflix" oder Ähnliches googelte. Bei heise.de gibt es ein paar Codes, die es erlauben, die Netflix-Algorithmen zu übergehen. Auch die Medien helfen nur bedingt. Denn leider sind auch sie in ihrer Netflix-Rezeption aufs Angelsächsische fixiert und besprechen jeden Superheldenschrott lieber als, sagen wir, die brillante kroatische Serie "Novine", eine Serie, die zeigt, was in einer Zeitung passiert, wenn ein Oligarch das Blatt kauft, wie schnell sich die Journalisten nach dem neuen Magnetismus ausrichten, nicht alle, aber die meisten. Zumindest die erste Staffel ist absolut brillant. Und nebenbei habe ich in ihr etwas über die Rolle der katholischen Kirche in Kroatien gelernt.

"Novine". Szenenbild.



Netflix bietet mir - der inzwischen auch eher von Serien als von Filmen angefixt ist - Serien, die man so in öffentlich-rechtlichen Sendern kaum je zu sehen bekam. Wann hätte es im deutschen Fernsehen je eine fünfteilige Dokumentation wie "The Keepers" gegeben, die geduldig die über Geschichte des sexuellen Missbrauchs durch katholische Priester in Baltimore aufklärt? Arte ist die Ausnahme, ich weiß. Die Sender holen auf, und in den Mediatheken finden sich Schätze wie "En theŕapie" oder (jetzt leider nicht mehr) die grandiose italienische Serie "Ein Wunder". Leider in der Regel nicht im Original mit Untertiteln.

"Novine" war vor einigen Jahren der Zündfunke für mich. Ich habe systematisch nach nicht englischsprachigen Serien gesucht, belgischen, polnischen, israelischen. "Shtisel" war radikales "dépaysement" (ein französisches Wort, auf das deepl noch keine Antwort hat). Aber ich mochte auch "Fauda", obwohl brutal, und selbst "When Heroes Fly", eine israelische Serie, die in Kolumbien spielt, ein bisschen wie ein Jugend- und Abenteuerbuch erzählt, aber in all diesen Serien lerne ich etwas über den Alltag von Ländern, mit denen man wenig zu tun hat. Und über Sprachen. A propos Kolumbien: Die kolumbianische Serie "Green Frontier" ist vom Plot sicher konventionell. Natürlich stehen da die Natives im Urwald für Unschuld und Natur, wie es sich für einen rousseauistischen Thriller gehört. Aber die Serie lohnt sich trotzdem: Denn die Sprachen der Natives üben mit ihren seltsamen Lauten einen ganz eigenen Zauber aus.

"Green Frontier". Szenenbild


Ich könnte so weiter machen. Die brasilianische Serie "O Mecanismo" erzählt mir brasilianische Zeitgeschichte als Polizeiermittlung, die mexikanische Dokumentarserie "1994" arbeitet den politischen Mord an Luis Donaldo Colosio auf, der für Mexiko so symbolisch ist wie die Kennedy-Morde für die USA, über den ich aber trotzdem nichts wusste.

Die türkische Serie "Bir Baskadir" ist auch in einigen deutschen Medien wahrgenommen worden. Eine der wenigen Serien, die ich als ein Meisterwerk bezeichnen würde, ein präzises Protokoll über Gewaltverhältnisse in einer Gesellschaft, das dennoch niemanden denunziert.

Die kleinsten Serien waren mir die allerliebsten Entdeckungen. "M'entends-tu", eine frankokanadische Serie über das schwere, aber nie ernste Leben dreier junger Frauen aus allerärmsten Verhältnissen in Montréal. Im breitesten frankokanadischen Französisch, für mich jedenfalls ohne Untertitel unverständlich. Wenn die drei singen, entsteht eine seltene Harmonie: und es wird deutlich, wie die Serie an die katholische Tradition des sozialen Realismus im französischen Kino anknüpft. Nur dass man bei Alain Cavalier oder den Dardenne-Brüdern nie lachen darf.

"My Husband Won't Fit". Foto: Netflix.



Die japanische Serie "My Husband Won't Fit" hätte selbst ich ohne die Empfehlung von Perlentaucher-Kollege Arnim Eisenhut nie gefunden: Diese Serie ist so besonders, dass man sie in einem so kursorischen Artikel nicht beschreiben kann. Der Penis des Ehemanns ist zu groß für die Scheide seiner Frau? Und sie lieben sich trotzdem? Nichts an dieser Serie ist komisch oder satirisch. Das Problem wird mit großem Ernst, großer Diskretion und großer Sanftheit durchdekliniert und am Ende mit Anmut nicht gelöst.

Bin ich der einzige, der diese Serien mag?

Statt einer Gobalisierung per Standardisierung, wie man sie von den großen Marvel-Majors kannte, betreiben diese Serien einen Kosmopolitismus der Differenzierung. Ich fürchte, dass das Netflix eher passiert ist. Und leider habe ich das Gefühl, dass die Netflix-Pipeline inzwischen arg erschöpft ist. Es ist auch nicht diese Qualität, auf die Netflix setzt, wenn es seine Großereignisse in die Wahnehmung drückt.

Amazon und Disney werden letztlich obsiegen, schreibt mir Perlentaucher Thomas Groh in einer Mail. Für Amazon sind Kino und Serien nur die Kringel auf den Smartphones, die der Konzern eigentlich verkaufen will. Disney sitzt auf einem Riesenschatz von Ware, die die Nutzer längst kennen und lieben und die keine anstrengenden Entdeckungsleistungen erfordert. "Netflix hingegen hat nichts dergleichen, außer: Film schauen gegen Gebühr. Aus diesem laufenden Betrieb muss Netflix alles finanzieren. Und da immer mehr Firmen ihre Filme von Netflix abziehen, weil sie einen eigenen Streamingdienst machen, steckt Netflix in der Produktionsfalle: Netflix muss ständig Neuware produzieren oder wenigstens exklusiv lizensieren, die dann oft sang- und klanglos im Silo verschwindet."

Ist es Zeit für einen Nachruf auf Netflix? In seiner Blütezeit zeigte Netflix den auf Nonnen und Förstern fixierten Öffentlich-Rechtlichen, was möglich wäre. Vielleicht bleibt wenigstens diese Lektion.

Thierry Chervel

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Die Gangsterbraut Violet (Jennifer Tilly) steht auf die Handwerkerin Corky (Gina Gershon). Es ist, wo nicht Liebe, so doch Begehren auf den ersten Blick, den die beiden Frauen verstohlen im Fahrstuhl austauschen. Der Blick ist verstohlen und heimlich, weil zwischen ihnen der Gangster Caesar steht - und zwar in der Szene im Fahrstuhl ganz buchstäblich, wie der Film überhaupt eine ausgeprägten Hang zu Buchstäblichkeiten aller Art hat.

Caesar (durchaus beängstigend gespielt von Joe Pantoliano, der wenige Jahre später Teil der berühmtesten Familie des organisierten Verbrechens der Fernsehgeschichte werden sollte, der "Sopranos") hat die ehemalige Diebin Corky, die nach einer fünfjährigen Haftstrafe gerade frisch aus dem Knast entlassen ist, angestellt, um einige Handwerksarbeiten in dem neuen Appartement zu verrichten, in dem er mit Corky in einer mehr zweckhaften als emotionalen Beziehung lebt.

Das Beziehungsdreieck eines Films, der den Vorzug hat, stets mit offenen Karten zu spielen und schnell zur Sache zu kommen, liegt bereits nach wenigen Minuten fertig vor uns. Und zwar bereits in all seinen Implikationen: Emotional geht es um zwei Frauen, die einen Mann aus dem Weg räumen müssen, um miteinander glücklich werden zu können. Weil die Attraktion zwischen den beiden Frauen vom ersten Blick an eine physische ist, knüpfen an die emotionalen Implikationen sexuelle an: Wer lesbischen Sex explizit in Szene setzt - und damit beeilen sich die Wachowskis in "Bound": es dauert keine zehn Minuten, bis Corky und Violet miteinander im Bett landen - begibt sich auf vermintes Gelände. Denn es ist eine überaus beliebte, in unzähligen Varianten erotischer Kunst von sehr soft bis knallhart anzutreffende Männerfantasie, Frauen beim Sex miteinander zuzusehen. Das mag damit zu tun haben, dass viele Männer insgeheim Angst vor einer Art der Körperlichkeit haben, in der sie beziehungsweise ihre Schwänze keine Rolle spielen, so dass durch die Sexualisierung der Frauen, die miteinander Sex haben, für den männlichen Blick der Schwanz wieder ins Spiel gebracht wird - mindestens vor dem Bildschirm oder der Leinwand, aber oft auch in den dargestellten Szenarien selbst.



Den Wachowskis, die mit diesem ziemlich stylischen Erotikthriller ihr Regiedebüt ablieferten, mit dem sie sich denn auch gleich fürs große Blockbuster-Geschäft empfahlen, gelingt es jedoch, die auf sehr unterschiedliche Art attraktiven Darstellerinnen Jennifer Tilly und Gina Gershon auf eine Art und Weise zu sexualisieren, die sich eindeutig mehr an ein lesbisches, denn an ein männlich-heterosexuelles Publikum richtet. Dass der Film gerade in der lesbischen und queeren Community sehr gut ankam und sich die Wachowskis später als trans outeten, fügt sich ins Bild.

"Bound" ist immer da gut, wo die Dinge einfach bleiben. Das gilt für das zentrale Beziehungsdreieck, aber auch für die Bildsprache. Etwa, wenn Caesar mit einer großen Tasche voller Geld nach Hause kommt. An den Scheinen klebt das Blut eines anderen Mafiosi, so dass es also - einmal mehr buchstäblich - gewaschen werden muss. Violet in einem Raum, in dem überall Hundert-Dollar-Scheine an Leinen zum Trocknen aufgehängt sind, ist ein eindrückliches und effektives Bild. Überhaupt wie die Wachowskis die Farbe Rot einsetzen. Den ganzen Film über, aber dann doch besonders wenn am Ende Caesars Blut auf weiße Farbe, die am Boden verteilt ist, spritzt. Blutgeld kann gewaschen werden, aber Farbe ist dicker als Blut.

Die Schwächen des Films liegen dort, wo er unnötig kompliziert wird. Insbesondere täuscht der Plot um die Mafia, der die beiden Frauen zwei Millionen Dollar klauen wollen, um in ein neues gemeinsames Leben zu starten, Komplexität vor, während er letztlich nur ziemlich umständlich erzählt ist, und zudem auf einige plakative Schock- und Suspensemomente setzt. Wo ihnen ihr großes Stilbewusstsein und eine spezifische Form inszenatorischer Eleganz nicht weiterhelfen, stößt das Kino der Wachowskis schon in ihrem insgesamt gelungenen Debüt deutlich an seine Grenzen.

Nicolai Bühnemann

"Bound" - USA 1996 - Regie: Lana & Lilly Wachowski - Darsteller: Jennifer Tilly, Gina Gershon, Joe Pantoliano, John P. Ryan, Christopher Meloni, Richard C. Sarafian - Laufzeit: 109 Minuten. "Bound" ist bei Capelight in einer Media-Book-Edition als BluRay erschienen. Streamingmöglichkeiten finden sich über Justwatch.