Im Kino

Tanz aus Gesten und Blicken

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Sebastian Markt
09.03.2017. "Moonlight" von Barry Jenkins ist spätestens seit der Oscarverleihung der Film der Stunde; es lohnt sich, seinem Eigensinn nachzuspüren. Baran bo Odars "Sleepless" begnügt sich dagegen mit routiniert ausformulierter Genremechanik.


Schwer zu sagen, was "Moonlight" gewesen sein wird, in zehn oder fünfzehn Jahren. Die Position, die der Film heute einnimmt, scheint vielfach überdeterminiert. Seit seiner herbstlichen Premiere in Telluride und Toronto ist er Gegenstand beständig anschwellender Bewunderung und - ja - eines Hypes, der erst mit dem Oscarrumoren so richtig über den Atlantik geschwappt ist. Ein Zweitfilm eines Regisseurs, der nach seinem Debut neun Jahre lang darum gerungen hat, einen weiteren Film zu machen, der dann, als niedrigstbudgetierter Film aller Zeiten einen Oscar für den besten Film gewinnt, wobei der Oscar in einer schillernden und ausdeutungsanfälligen Fehlleistung erst mal an den falschen Film vergeben wird. Ein Film eines schwarzen Regisseurs, mit ausschließlich schwarzem Personal, der im Jahr nach #OscarsSoWhite 8-fach nominiert und 3-fach ausgezeichnet wird. Ein Film über eine schwule, schwarze und sozial marginalisierte Jugend, der in einem prekären politischen Moment zum Knotenpunkt in einem diskursiven Dickicht um Ethnizität, Gewalt und Sexualität wird.

"Moonlight" wird Anlass geben zu einer Reihe von mit subjektiver Erfahrung gesättigten Texten, die in dem Film ein glorreiches Moment des Aufscheinens eines wiedererkennbaren Undargestellten sehen. (Oder er liefert dazu die Coda, wie in diesem fantastischen Essay von Wesley Morris, einer tiefschürfenden und ebenfalls auf die eigene Körpererfahrung rekurrierenden Reflexion über die Repräsentation männlicher schwarzer Sexualität). Als kulturelle Erscheinungen werden Filme, denen solche Rezeption widerfährt, von den - auf die eine oder andere Art politischen - Debatten nicht einfach verstellt oder überlagert, sondern mitgeformt, Wahrnehmungssituationen werden geschaffen, Lesarten werden produziert. Müssig deshalb der Versuch - oder vermessen die Geste -, sie von vermeintlich überfrachteten Kontextualisierungen befreien zu wollen, den eigentlichen Film gegen die Zusammenhänge, in denen er nunmal steht, verteidigen zu wollen. Was freilich kein Grund ist, von dem Versuch zu lassen, den Eigensinn eines Films nachzuzeichnen. Und an Eigensinn mangelt es "Moonlight" nicht; einem Eigensinn, der einen, je nach Lesart, in Begeisterung versetzen kann, oder eben nicht. In meinem Fall: unbedingt.

Schon Jenkins' Erstlingswerk "Medicine for Melancholy" war geprägt von einem feinen Gespür für soziale Räume: Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, beide schwarz, kommen nach einem One Night Stand nicht so recht voneinander los, verbringen den Tag miteinander, die Nacht, dann noch einen Tag und noch einen, wandern durch ein mit kleiner Kamera in denaturierten Farben eingefangenes San Francisco. Dabei werden sie von ihren unterschiedlichen Perspektiven darauf angestoßen, was es heißen mag, in dieser Stadt, in diesem Leben, schwarz zu sein. Wo "Medicine for Melancholy" seine Handlung auf eine Hand voll Tage verdichtet, vermisst "Moonlight" elliptisch gut zwei Dekaden im Leben seiner Hauptfigur, dem jungen Chiron, der in Liberty City lebt, einem Viertel Miamis, am Ozean gelegen, der ein wiederkehrendes und zentrales Motiv der Erzählung werden wird.

Das Drehbuch zu "Moonlight" basiert auf einem unveröffentlichten, autobiografisch grundierten, dramatischen Text von Tarell Alvin McCraney, der, wie auch Jenkins, in Liberty City aufgewachsen ist. Von seiner Hauptfigur erzählt der Film in einem Triptychon, in drei Momentaufnahmen, in denen Chiron von jeweils anderen Darstellern verkörpert wird. Das verminte Terrain einer Kindheit, in einer noch namenlosen, aber Spott und Aggression auf sich ziehenden Andersheit (Little: Alex Hilbert), eine Jugend, in der Begehren wie auch die gegen sie gewandte Gewalt eine Form finden (Chiron: Ashton Sanders) und ein Erwachsensein, das noch mitten drin ist, die eigenen Widersprüche auszuloten, die teilweise die Widersprüche der Welt - einer, dieser Welt - sind (Black: Trevante Rhodes).

Chiron ist ein schmächtiger Junge mit tiefem, begründetem Misstrauen gegen die Welt. Der Film findet ihn mit den Augen von Juan, einem von Mahershala Ali gespielten Dealer, in einem versiegelten Abbruchhaus, wohin Little sich vor einer ihn hetzenden Meute geflüchtet hat. Der Dealer, der zuvor, in der ersten Szene des Films, mit selbstsicherer Hand die von ihm installierte Ordnung in dem Block überwacht, in dem er Crack verkaufen lässt, wird für Little, zusammen mit seiner Freundin Teresa, eine Art Wahlfamilie werden. Little lebt bei seiner Mutter (Naomi Harris), deren Fürsorge zwischen insistierender, beschützender Liebe und cracksüchtiger Destruktion schwankt. Juan ist es auch, der Little, dessen Anderssein ihm selbst nur eine Ahnung ist, und ihn doch zur Zielscheibe macht, einen Ort in der Welt eröffnet. In der letzten Szene der ersten Episode, nach langsamer Annäherung ohne allzu viele Worte, fragt Little Juan am Essenstisch: Was ist eine Schwuchtel? Und Juan antwortet: Ein Wort, um schwule Menschen zu verletzten. Little schiebt, mit der gleichen verhaltenen Dringlichkeit noch eine zweite Frage hinterher: Verkaufst Du Drogen? Die Welt erhält Ordnung, und eine Kindheit geht zu Ende.



Der Film findet Chiron als Jugendlichen wieder, der seinen unfreiwilligen Spitznamen ablegen möchte, schlacksig jetzt, und immer noch auf der Suche nach einer Art, in der Welt zu sein. Eines Abends zufluchtslos am Meer gelandet, begegnet er Kevin, der in Kindheitstagen sein einziger Freund zu sein schien. In dem selbstsicheren, sexuell ambivalenten Gleichaltrigen begegnet Chiron zum ersten Mal eine Zärtlichkeit, von der er sich erkannt fühlt. Die Drangsalierung, die Chiron erfährt, verdichtet sich derweil in Gestalt einer Nemesis, die ihm unerbittlich nachsetzt. In Chirons Unsicherheit findet dieser Gleichaltrige eine Lücke, um seine eigene Maskulinität zu behaupten, und in einem grausamen Spiel macht er ausgerechnet Kevin zum Vehikel der Demütigung. Bis Chirons aufgestaute Spannung sich in einem destruktiven Akt der Selbstbehauptung entlädt. Aus dem letzten Bild wird Chiron in Handschellen abgeführt. Die Welt hat einen Riss, und eine Jugend geht zu Ende.

Black nennt Chiron sich in der dritten und letzten Episode, die ihn Atlanta findet; so hatte ihn Kevin genannt, Jahre zuvor. Er saß eine Zeit lang im Knast, ist jetzt selbst im Drogengeschäft. Eine muskulöse Statur aus hart gewordener Männlichkeit. Er besucht seine Mutter - eine Begegnung, in der sich Schmerz über das was war, und die Zuneigung aus dem, was auch gewesen wäre, die Waage halten. Ein Anruf von Kevin kommt aus dem Nichts, nach Jahren, und er lässt ihn spontan aufbrechen, zurück nach Miami, in ein Diner, in dem Kevin als Koch einen Platz gefunden hat. Es ist eine Wiedersehensszene von atemberaubender Romantik, in der sich das Gewicht von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, Gesagtem und Ungesagtem in einem langsamen Tanz aus Gesten und Blicken, Stück für Stück entlädt.

Es wäre vorschnell, den Film ob seiner Präzision in der Ausgestaltung einer sozialen Situation, die zeitlich wie räumlich genau verortet ist, einem sozialen Realismus zuzuschlagen. "Moonlight" arbeitet mit einer Poetik, die immer wieder in symbolisch aufgeladenen und verdichteten Tableaus Momente schafft, die etwas sichtbar machen von einem Zusammenhang aus Begehren und Bedingungen, von Welt, die sich in Körper einschreibt, in Zärtlichkeit und Gewalt, in Liebe und Aggression. Als Coming of Age-Film erzählt er kein lineares Zu-Sich-Kommen. Das vermeintliche Spiel der Identitäten, Varianten des Selbst, das "Moonlight" in seiner Form, in seiner Erzählung in Szene setzt, ist mehr als ein Reigen von Rollen, die sich einem authentischen Kern annähern, oder ihn verhüllen. Es ist eine Suche mit offenem Ausgang, eine Bewegung zwischen Selbstentwürfen und einer Umwelt, die manches zulässt und anderes nicht.

Immer wieder Blicke, die zwei Charaktere einander zuwerfen, einander suchend, nicht hinter den Fassaden, sondern in einem Augenblick, der neu bestimmt werden muss. Blicke, die manchmal fast ins Publikum zu fallen scheinen, die das Bild für einen kurzen Moment zum Porträt festfrieren und gleichzeitig die Eindeutigkeit der Figuren auflösen. Seine größte lyrische Kraft, wie auch seine eindringlichsten politischen Momente findet der Film dort, wo er die Körper zur Leinwand macht, an denen die Zumutungen einer konkreten gesellschaftlichen Situation genauso aufscheinen, wie die Widerstände und das Begehren, die als Manifestationen des Selbst dagegen halten. Und die Körper, die im Licht von "Moonlight" scheinen, sind nicht wahr oder falsch, sondern wandelbare Welt, Schauplätze von Erfahrung, Schöpfung und Sehnsucht; und in entscheidenden Momenten, die alles zu ändern vermögen, von geteiltem Glück.

Sebastian Markt

Moonlight - USA 2016 - Regie: Barry Jenkins - Darsteller: Mahershala Ali, Ashton Sanders, André Holland, Trevante Rhodes, Janelle Monáe, Naomie Harris - Laufzeit: 111 Minuten.

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Sucht man im Internet nach Besprechungen von "Sleepless", dem Hollywood-Debüt des Schweizer Regisseurs Baran bo Odar, so stößt man auf den immer wiederkehrenden Vorwurf, der Film sei nicht "realistisch" genug, stolpere von einem "Logikloch" ins andere. Dass dem eine ebenso erzkonservative wie engstirnige Vorstellung von filmischem Erzählen zugrunde liegt, das sich schließlich zu realen Gegebenheiten autonom verhalten darf und soll, eher eigenen Regeln zu folgen hat als dem Diktat der sogenannten Realität (und was ist ein Genre, wenn nicht eine Art Regelkatalog, den gute Genrefilme nicht einfach erfüllen und abarbeiten, sondern mit dem sie spielen und den sie im besten Fall auch transzendieren können?) versteht sich für diesen Text von selbst.

Praktisch heißt das: "Sleepless" vorzuhalten, dass der Polizist Vincent (Jamie Foxx) zu Beginn von den Gangstern, die seinen Sohn entführen, einen Messerstich in den Bauch kassiert, und dennoch in den nächsten 90 Minuten Erzählzeit, die einer Nacht erzählter Zeit entsprechen, weiter kräftig einzustecken und auch auszuteilen, ist kindisch. Es geht darum, die in jeder Hinsicht prekäre Situation des Protagonisten, der in einer zerrütteten Familie lebt und den ganzen Film über ein Spiel treibt, dessen Einsatz nicht nur das eigene Leben ist, sondern auch das seines Sohnes, direkt auf seinen Körper einzuschreiben. Wenn daran etwas verwerflich ist, dann höchstens die Überdeutlichkeit, prinzipiell handelt es sich um eine der generischen Zuspitzungen, mit denen dieser Film bewusst arbeitet, und die sich schon in der extremen Verdichtung des Plots offenbaren. Wir haben es mit einer Art von Reduktion zu tun, die mir als großem Fan generischer Kammerspiele (in der Tradition von Carpenters "Assault on Precinct 13") das cinephile Herz höher schlagen lässt.

Also die Zutaten: Ein Cop, männlich, der mit seinem Partner eine Ladung Drogen klaut, die viel größer ist als angenommen. Ist Vincent so korrupt wie sein Partner Sean (T.I.)? Oder auf streng geheimer Undercover-Mission? Ein Cop, weiblich: Jennifer Bryant (Michelle Monaghan). Die jagt im Auftrag der Internal Affairs-Abteilung nach korrupten Bullen. Eine Stadt: Las Vegas. Ein Hauptschauplatz, den der Film kaum jemals verlässt: ein Casino. Eine Nacht. 25 Kilo Kokain. Ein Haufen Verbrecher, die den Stoff wollen und zwar schnell.



Die offen ausgestellte Konstruiertheit des Plots könnte eine Stärke des Films sein. Letztendlich geht es darum, wie alle Figuren sich in einem dicht geknüpften Netz der Abhängigkeiten verstricken, weshalb "Sleepless" an keinem Ort besser aufgehoben ist als eben in einem Casino in der (Spiel-)Suchtmetropole Las Vegas. Der kaltblütige Casinoboss Rubino (Dermont Mulroney), der selbst vor der Entführung Minderjähriger als Druckmittel nicht zurückschreckt, steht in der Bringschuld gegenüber dem skrupellosen Gangster Novak (Scott McNairy), den man, soviel beeilt sich das Drehbuch von Andrea Barloff klarzustellen, lieber nicht enttäuscht oder hintergeht. Novak wiederum ist seinem Vater Rechenschaft schuldig. Es ist bezeichnend, dass der bigotte Oberschurke im Film gar nicht erst auftaucht, eine Leerstelle bleibt.

Bald wird klar, dass Vincent kein dirty cop ist, sondern ein Mann mit einer Mission, ähnlich wie Bryant, was der Film mit seinem ausgiebigen Hang zum symbolischen Auserklären durch eine Blessur verdeutlicht, die beide unter dem Auge tragen. Dass sich die beiden ziemlich ähnlich sind, wird auch dadurch unterstrichen, dass sie bald anfängt, an seiner Schuld zu zweifeln. Freilich: Wo man sich nicht nur mit der Befreiung seines Sohnes, sondern auch mit dem Vertuschen von dessen Entführung vor der zunehmend besorgten Mutter herumschlagen muss, es also einmal mehr für den Actionhelden auch um die Rettung bzw. den Erhalt der bürgerlichen Kleinfamilie geht, kämpft frau auf ihrem Posten immer noch erbittert um Anerkennung; ihre männlichen Kollegen glauben, dass sie erst einmal zur Psychiaterin müsse, wenn sie bei einem Einsatz wie andere Polizisten auch mal was auf die Fresse bekommt.

Woran genau es liegt, dass "Sleepless" erst einmal vieles richtig macht, sich letztlich aber doch schal anfühlt, ist keine einfache Frage. Es bleibt das Gefühl von einem Film, der seine Genremechanik routiniert von einem Schieß- und Prügel-set piece zum nächsten herunter spult.

Nicolai Bühnemann

Sleepless - USA 2017 - Regie: Baran bo Odar - Darsteller: Jamie Foxx, Michelle Monaghan, T.I., Scott McNairy, Dermont Mulroney - Laufzeit: 95 Minuten.