Im Kino

Gemälde der Macht

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Ekkehard Knörer
27.10.2010. Vom Eis der Tradition befreit sich im Lauf von Luca Guadagninos großer Kameraoper "I Am Love" die großartige Tilda Swinton - hier, weil ihr nichts unmöglich ist, als russlandstämmige Italienerin. Und in "Jackass 3D" kommen die Darsteller bei ihren Körperexperimenten dem Zuschauer sehr viel näher, als diesem lieb sein kann.

Mailand im Winter, draußen. In erstarrten, fast farblosen Einstellungen nähert der Film sich seinem zentralen Schauplatz: einer riesigen, fast schlossartigen Villa, und seinen Protagonisten: einer Industriellenfamilie, in der alles Sieg und Sitzordnung und Einhaltung strenger Regeln ist. Eine feudalistische Spätzeit, Kapital in alteuropäisch-faschistischer Traditionslinie. Ein Umbruch steht unmittelbar bevor: der Patriarch ist auf den Tod krank, über die Nachfolge gilt es zu entscheiden. Eine Szenerie ist das wie gemalt und gemacht für den Einbruch, die Einbrüche, von denen "I Am Love" dann erzählt.

Das zentrale Störmoment im Gemälde der Macht erkennt der geübte Betrachter sofort: Tilda Swinton, und dass was nicht stimmt, merkt man spätestens dann, wenn sie spricht - Italienisch nämlich mit russischem Akzent. Russische Seele, in Mailand schockgefroren, dahinter lauern die schottischen Highlands. Dennoch: Es bedarf, für den Ausbruch der Liebe, von der der Titel schon kündet, eines Einbruchs. Zu dem kommt es prompt. Ein junger Mann, Antonio, Freund des Sohns, der einzige, der ihn je im Wettbewerb hinter sich ließ, Koch der avancierteren Art, sinnlich. Blicke fallen, fabelhafte Speisen werden zubereitet und gegessen.

Das so Bodenlose wie Faszinierende und recht eigentlich eben faszinierend Bodenlose an Luca Guadagninos Film: Er inszeniert diese im Grunde triviale Geschichte als ganz großes Drama, mit aller Konsequenz. Einerseits auf der Inhaltsebene - da ist es freilich im Grunde nur Pilcher mit entsprechend simplen Oppositionen: die Häuser aus Eis beim Mahl in der Stadt und die Betten aus Gras beim Sex auf dem Land. Andererseits, und da wird es dann doch auf die Dauer seltsam großartig, als Überführung einer schlichten Geschichte in große Kameraoper. Oper auch musikalisch: Hinter die Bilder wuchtet Guadagnino immer wieder das Minimal-Music-Pathos des Komponisten John Adams. Erstaunlicherweise tragen die Bilder das, obwohl sie nicht unbedingt danach aussehen.


Die Kamera nämlich spielt ziemlich verrückt. Nach den in Eis gehauenen Anfängen löst sie zusehens jede Stabilität auf. Sie sprengt jeden Rahmen, indem sie wie besinnungslos im Bildinneren herumzufuhrwerken beginnt: ständige Fokuswechsel, extreme Close-Ups vor allem von Oberflächen, in Bewegung immerzu, als geriete sie - ganz wie die Tilda Swinton als Hauptfigur - immer weiter außer Kontrolle. Zuständig dafür ist der französische Kameramann Yorick Le Seaux, der auch für die (bei aller Virtuosität deutlich kontrollierteren) Bilder von Olivier Assayas? nächste Woche anlaufendem Terrorismusfilm "Carlos" verantwortlich zeichnet. Am ehesten erinnert, was im, am, mit dem Bild passiert, ihm zustößt und widerfährt, an die Abwege, auf die die Kamera in Alain Resnais? jüngstem Film "Les herbes folles" so zielsicher geriet. Da übrigens war, nebenbei, Eric Gautier der Verantwortliche, der andere regelmäßig für Assayas tätige Kameramann.

Auflösung in mehr als einem Sinn also ist das, was an "I Am Love" fasziniert. Auflösung eines Szenarios der kompletten Erstarrung in Szenen der Flucht, in der Eröffnung einer anderen Welt, Zug um Zug, in schwankender Bildgestalt. Auflösung auch - im technischen Sinn - jeder einzelnen Szene in Einstellungen, in denen kein Stein auf dem anderen bleibt. Stattdessen Texturen, Oberflächen, das Licht, das Gras, die Zubereitung und das Genießen von Speisen. "I Am Love" ist ein in jeder Hinsicht ganz und gar oberflächlicher Film. Nur will er es sein und ist darum auf seine bei Licht besehen erstaunlich unraffinierte Weise faszinierend idiosynkratisch.

Ekkehard Knörer

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Ein mit Hundescheiße gefülltes Dixieklo zum Bungeejumping, frisch einer Männerkimme entnommener Schweiß, ein an einen Pimmel gebundenes Smartphone für die Ego-Perspektive beim Andere-Leute-Anpissen und jede Menge Schläge auf die Kronjuwelen: Nicht viel Neues, also sehr viel Abstoßendes in Jackass County. Diesmal allerdings in 3D, was für die Crew allemal ein Grund ist, nach vier Jahren Pause auf die Leinwand zurückzukehren: Schon allein, weil man dann einen riesigen Dildo in Richtung Zuschauer abfeuern kann.

Um einen richtigen Kriegsfilm zu drehen, sagte Sam Fuller einmal, müsste man schon von der Leinwand ins Publikum schießen. In "Jackass 3D" führen die Stuntleute rund um Johnny Knoxville Krieg nicht nur gegen den eigenen Körper, sondern auch gegen ihr Publikum. Das amüsiert sich zuweilen ganz ausgelassen bei den Kapriolen, um sich dann doch nur wieder schlagartig zu verkrampfen: Phantomschmerzen allenthalben. Mit der (allerdings nur selten voll in der mise en scene ausgekosteten) 3D-Technologie im Rücken wird Film nun endgültig zum Übergriff auf den Zuschauer: Was bei "Avatar" direkt im Bild als Tor in eine andere Welt, bei Burtons "Alice im Wunderland" als Sturz durch den Hasenbau visualisiert wurde, schlägt bei "Jackass 3D" nun direkt zurück. Die vollkommene Immersion, die die 3D-Technologie verheißungsvoll verspricht, wird hier zur Emersion: Nicht der Zuschauer betritt die Filmwelt, die Filmwelt betritt die des Zuschauers - und schmeißt dabei noch gleich mit Scheiße um sich.


Zwischen all den pubertären Exzessen - Johnny Knoxville freilich geht stramm auf die 40 zu - finden sich dann aber doch zuweilen brillante Momente absurder Poesie: Wenn sich da einer zu den Klängen vom Ritt der Walküren auf ein Sofa fläzt und gegen den Druck aus einer auf vollen Touren laufenden Jetturbine ankämpft, fühlt man sich für einen Moment lang an den Wahnwitz aus den Filmen von Werner Herzog erinnert. Überhaupt ist Knoxvilles sadistisch debiles Lachen in Verbindung mit seinem stieren Blick mittlerweile in einem entrückten Stadium angelangt, das ihn für eine Hauptrolle in einem der nächsten Filme des Regisseurs unbedingt prädestiniert.

Am Ende ist Raum für etwas Nostalgie: Zu Feel-Good-Punkrock zeigt der Abspann da nach formvollendeter Zerstörung einer ganzen Inneneinrichtung in 3D-Superzeitlupe Kinder- und Jugendbilder der Stuntleute, die sich seit gut zehn Jahren schon stramm dem eigenen Fäkal- und Kastrationshumor ergeben. Die Ahnung von Rückblick und Abschied liegt in der Luft: Es war wahrlich keine schöne Zeit mit Euch, Jungs. Trotzdem gut, dass sie jetzt vorbei ist.

Thomas Groh

I Am Love. Italien 2009 - Originaltitel: Io sono l'amore - Regie: Luca Guadagnino - Darsteller: Tilda Swinton, Edoardo Gabbriellini, Gabriele Ferzetti, Pippo Delbono, Alba Rohrwacher, Marisa Berenson, Diane Fleri, Maria Paiato, Waris Ahluwalia

Jackass 3D. USA 2010 - Regie: Jeff Tremaine - Darsteller: (Mitwirkende) Johnny Knoxville, Bam Margera, Steve-O, Ryan Dunn, Chris Pontius, Preston Lacy, Jason Acuna, Dave England, Ehren McGhehey, John Taylor