Im Kino

Reine Kinowesen

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky
05.10.2011. Lars von Triers "Melancholia" zerstört ein weiteres Mal die Welt und das Kino. Immerhin stehen dem Dänen dafür diesmal hollywoodtaugliche Spezialeffekte zur Verfügung. Radu Munteans "Tuesday, after Christmas" zieht in das Rumänien der Gegenwart Rahmungen und Distanzen ein.

Kirsten Dunst schlägt die Augen auf, in der weichgezeichneten Großaufnahme sieht das aus wie eine Geburt. Hinter ihr stürzen Vögel vom Himmel. Dann eine Aufnahme des Parks vor der Villa, in der der gesamte Film spielt: eine kahle Wiese, gesäumt von zwei Reihen niedriger Bäume, im Vordergrund eine Sonnenuhr, das Bild scheint, wie viele andere in diesen ersten Minuten, rein digital berechnet zu sein und wirkt nicht nur deshalb sonderbar abstrakt, ohne Anker in der Welt. Uhr und Bäume werfen, das ist eine weitere Irritation, die sich dann aber schnell aufklärt, ihre Schatten in zwei unterschiedliche Richtungen. Kirsten Dunst schwebt im Hochzeitskleid in Zeitlupe über den Rasen. Und dann schieben sich Himmelskörper über-, schließlich ineinander, dazu die ganze Zeit auf der Tonspur die Ouvertüre von Wagners "Tristan und Isolde". - Wie der Vorgänger "Antichrist" beginnt "Melancholia" mit einem hoch artifiziellen, extrem stilisierten Prolog, der bereits den gesamten Film in sich zu enthalten scheint und in mancher Hinsicht alles, was nach ihm kommt, als bloßen Nachhall, vielleicht als Verkomplizierung, vielleicht auch nur als Beschmutzung dieser perfekten, allzu perfekten ersten Bilder kennzeichnet.

Angenehm low-key ist dann der hingekritzelte Titelschriftzug "Lars von Trier Melancholia" und auch die nächste Szene, in der Kirsten Dunst im Hochzeitskleid in einer endlosen weißen Limousine auf einem kurvigen, viel zu engen Feldweg stecken bleibt, scheint darauf angelegt, den Film zu "erden". Die erste Filmhälfte heißt nach Dunsts Rolle "Justine" und spielt auf deren Hochzeitsfeier. Die Braut ist depressiv und schließt sich in ihrem Zimmer ein, alles gute Zureden ist vergebens, Eklat folgt auf Eklat. Diese Sequenzen führen zurück zu den frühen Dogma-Filmen, insbesondere zu Thomas Vinterbergs "Festen": Eine großbürgerliche Familienzusammenkunft, gehässige Festreden, bösartige Verwandtschaft (insbesondere eine Mutter aus der Hölle), Nervenzusammenbrüche, der Abgrund hinter der Fassade. Alexander Skarsgard gibt den nichtssagenden, leicht ersetzbaren Bräutigam, Charlotte Gainsborough die besorgte Schwester Claire, Kiefer Sutherland deren vernunftsgesteuerten, moderierenden Ehemann, Udo Kier einen in seiner Ehre gekränkten Hochzeitsplaner.

Spätestens, wenn eine Gruppe todernst dreinblickender alter Männer Claire darüber aufklärt, wie viele Bohnen sich in einer Vase befinden, die als Partyspaß im Eingangsbereich aufgestellt ist, dürfte man erkennen, dass von Trier mit dieser Hochzeitsfeier nicht in erster Linie ein soziales Milieu lächerlich machen möchte, sondern eher eine bestimmte Art, Filme zu machen. Eine, die noch daran glaubt, dass man individuelle und soziale Pathologien kommunikativ aufarbeiten und kurieren kann. Schon in der ersten Hälfte bricht der angestrengt anmutende psychologische Realismus wiederholt auf. Draußen, vor der Villa, im sonderbaren Park, lauert ein anderer Film; kaum tritt Justine vor die Tür, um auf den Rasen zu urinieren, schleichen sich die Wagner-Klänge an.


Was hat es nun mit Justines Depression auf sich? Der skandalträchtigen Vorgänger "Antichrist" war, Lars von Triers eigener Aussage und auch einigen Kritiken zufolge, Ergebnis und vielleicht auch eine Art Überwindung einer depressiven Episode des Regisseurs. Den Nachfolger würde nun also die Krankheit in den filmischen Text verschieben. Ich glaube nicht so recht daran, dass man "Melancholia" (oder auch "Antichrist") auf dieser Ebene zu fassen bekommt. Nicht nur, weil es allgemein fragwürdig erscheint, Filme als Symptome oder auch nur als Repräsentationen pathologischer psychischer Zustände aufzufassen. Sondern auch, weil da versucht zu werden scheint, dem postmodernen europäischen Autorenfilm wieder das zu injizieren, was ihm in den letzten drei Jahrzehnten gründlich abhanden gekommen ist, dass Referenzialität, Weltbezug und ein Programm vermutet werden, wo Zitat, Selbstbezug und Stil längst gesiegt haben.

Natürlich kann man sich fragen, was Lars von Trier, dem Boss of it All des spätironischen Arthauskinos, überhaupt noch für Optionen bleiben, wenn selbst seine eigene (Mit-)Erfindung Dogma nur noch als schlechter Witz taugt. Schlimmstenfalls scheint daraus so etwas zu resultieren wie sein Flirt mit dem Antisemitismus auf der unsäglichen Cannes-Pressekonferenz nach der Weltpremiere. Und im besten Fall so etwas wie die zweite Hälfte von "Melancholia": nicht unbedingt wahnsinnig relevant anmutendes, aber immerhin wunderschönes Starkino der Attraktionen, keine Menschen mit Handlungsmacht mehr, sondern nur noch die Wucht des Himmlischen und ihr Abdruck im Irdischen; mit Spezialeffekten, die sich hinter Hollywood nicht zu verstecken brauchen.

"A Red Star Is Missing from Scorpio". So beginnt dieser zweite Abschnitt. "Claire" ist er betitelt, nach Justines Schwester. Der Stern, der aus dem Sternbild des Skorpion verschwunden ist, trägt den Namen des Films und schickt sich an, mit der Erde zu kollidieren. Schon aus dem Prolog weiß man, dass er am Ende ernst machen wird. In und noch öfter vor der absurden Villa, die aus der Geschichte, wenn nicht aus der Welt gefallen zu sein scheint - am ehesten noch ist sie Relikt einer feudalen Vergangenheit, zum nächsten Dorf gelangt man auf dem Pferderücken - warten dann vier mit sich einsame Gestalten, ein Kind und die drei internationalen Filmstars Dunst, Gainsborough und Sutherland auf das Ende der Welt. Die panische, hyperventilierende Claire, auf die der Film zunehmend fokussiert, die immer außerweltlicher anmutende Justine (ein Moment von supreme cheesiness: die nackte Kirsten Dunst räkelt sich im Licht der Melancholie), der hilflose John, dessen Schutzmechanismen einer nach dem anderen kollabieren, während er mit eigentümlich veraltetem wissenschaftlichen Gerät hantiert: Drei reine Kinowesen, ganz aufs Absolute bezogen und damit als Fetischkörper den genießenden Blicken freigestellt, die Welt, das Konkrete ist weit weg (irgendwo versteckt im Internet, vielleicht, gelegentlich wird ein bisschen gegooglet). Am Ende eine lange, laute Klimax, die Welt und das Kino sind ein weiteres Mal zerstört. Business as usual.

Lukas Foerster

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Dass das rumänische Kino seit einigen Jahren auf Filmfestivals von sich Reden macht, ist bis an den deutschen Programmkinobetrieb vorgedrungen. Mit "Marti, dupa craciun" (Tuesday, After Christmas) stellt sich nun aber ausgerechnet einer der am wenigsten profilierten Autoren der neuen rumänischen Welle dem Berliner Publikum vor. Radu Munteans Filme sind nicht ganz so reduziert wie Corneliu Porumboius "Politist, adjectiv" (Police, Adjective), nicht halb so bitter wie Cristi Puius "Mortea domnului Lazarescu" (The Death of Mr. Lazarescu), nicht annähernd so drastisch wie Christian Mungius "4 luni, 3 saptamani si 2 zile" (4 Months, 3 Weeks & 2 Days), und haben auch mit der geschichtsmächtigen Ambition von Constantin Popescus "Portretul luptatorului la tinerete" (Portrait of the Fighter as a Young Man) wenig gemein. Munteans Rumänien ist nicht der graue, randständige und verzweifelte Ort, den diese Regisseure bei aller Verschiedenheit übereinstimmend vorfinden, sondern ein Land der mittelständischen Mittdreissiger, die mit ungefähr denselben Nöten, Ängsten und Inneneinrichtungen geschlagen sind wie ihre westeuropäischen Pendants.

Trotzdem ist es interessanter, einen Film von Radu Muntean zu sehen, als in der Neon zu blättern, was mit den leisen Echos der rumänischen Vergangenheit zu tun haben mag, die aus den ansonsten eigenschaftslosen Milieus jäh herausragen. Munteans "Hirtia va fi albastra" von 2006 ist ein Geschichtsfilm (über die Wirren der Revolutionsnacht vom 22. auf den 23. Dezember 1989), aber einer, der über seine Figuren mit der Gegenwart verbunden ist: Überdeutlich steht jedem der jungen (vor allem) Männer die Frage ins Gesicht geschrieben, wie sich ihre heutigen Altergenossen in derselben Situation verhalten hätten. Sein zwei Jahre darauf fertiggestellter Film "Boogie" übernimmt den Darsteller Dragos Bucur aus der Geschichtsfiktion und versetzt ihn folgerichtig in ein gegenwärtiges Szenario, auf das die Last der Geschichte drückt. In Munteans neuem Film "Marti, dupa craciun" nun scheint diese doppelte Sicht aufgegeben zugunsten einer in sich abgeschlossenen Jetztzeit ohne historische Tiefe - also doch irgendwie wie Neon oder eigentlich, da Kinder im Spiel sind, wie das Elternmagazin Nido aus demselben Verlagshaus, aber ohne Nabelschau oder Wehleidigkeit -, inszeniert aus einer gewissen Distanz (die Distanz der halbnahen und amerikanischen Einstellung), die hier aber nicht kühl wirkt, sondern wohltemperiert und sogar höflich. Die Besetzung: ein Banker, eine Zahnärztin und eine Rechtsanwältin, in unglücklicher amouröser Verstrickung.


Ein typisches Bild in "Marti, dupa craciun" umfasst eine oder zwei Personen von der Taille aufwärts, die dann gerade genug Raum und Zeit zur Verfügung haben, um ein bisschen mehr als das Notwendige zu sagen: elliptisch aneinander gereihte, entdramatisierte Beziehungsminiaturen, die sich unmerklich zu einem Narrativ fügen. Die Mise-en-scene macht subtilen, aber effektiven Gebrauch von Schärfeverlagerungen und Figurenbewegungen, dem entspricht die präzise Arbeit von Munteans Kameramann Tudor Lucaciu. Unbewegte, lang gehaltene Einstellungen, die zwar manchmal vermittels eines sachten Schwenks ihre Aufmerksamkeit verlagern, dabei aber eine eigentümliche Autonomie bewahren gegenüber dem, was in einer gegebenen Situation am ehesten Ereignischarakter beanspruchen kann. Stattdessen verpflichtet sich das Bild den Figuren, gleichgültig ob diese an der Welt teilhaben oder ihr abgeneigt sind. Das macht mitunter einen etwas angestrengten Eindruck, verleiht der Rahmung aber zugleich eine besondere Prägnanz: So und nicht anders sollen wir diesen Ort, diesen Menschen, diese Geste sehen. Es wird indes nicht immer deutlich, weshalb wir uns für das solcherart Ausgezeichnete interessieren sollen. Ist es wirklich Grund genug, dass es solche Orte, Menschen und Gesten wirklich gibt? Vielleicht muss man es Muntean zugute halten, dass es ihm gelungen ist, in das gesellschaftliche Mittel des neuen Europa Rahmungen und Distanzen einzuziehen und so etwas verfügbar zu machen, das sich sonst, als Normalfall, der Wahrnehmung entzieht.

Nikolaus Perneczky

Melancholia - Dänemark / Schweden / Frankreich / Deutschland 2011 - Regie: Lars von Trier -Darsteller: Kirsten Dunst, Charlotte Gainsbourg, Kiefer Sutherland, John Hurt, Charlotte Rampling, Alexander Skarsgard - Länge: 136 min.

Tuesday, after Christmas - Rumänien 2010 - Originaltitel: Marti, dupa craciun - Regie: Radu Muntean - Darsteller: Mimi Branescu, Mirela Oprisor, Maria Popistasu, Dragos Bucur, Sasa Paul-Szel, Victor Rebengiuc, Dana Dembinski - FSK: ab 6 - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 99 min.