Im Kino

Siedlung mit Waldrand

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Ekkehard Knörer
27.04.2011. Zwei Debütfilme von Regisseurinnen: Geraldine Bajard lässt in ihrem schwer ausrechenbaren Erstling "La Lisiere" einen Arzt in eine Gemeinschaft eindringen: Das löst manch Verheerendes aus. Einfach nur gemeinsam Geduld mit ihren zwei männlichen Protagonisten Mithat und Ali hat Pelin Esmer in "10 vor 11".


Es beginnt ein wenig wie in Franz Kafkas "Schloss": Ein Mann kommt, wie gerufen und doch als Eindringling, in eine ihm fremde Welt, in der ihm die Menschen zugleich sofort zu nahe sind und sehr unverständlich bleiben in ihrem Tun. Die fremde Welt kennt freilich kein Schloss und also ein großes unerreichbares Anderes, ist nur eine Siedlung, nicht einmal Dorf, keine Stadt, nicht einmal eine Vorstadt, nur eine Ansammlung von Menschen in Häusern. Eine Gemeinschaft, die auf einer Grenzziehung zu gründen scheint zwischen der Natur und der Zivilisation. Ein Schein, der trügt, eine Grenze, die sich im Lauf des Films dann als reichlich prekär erweist. "Ballard" ist ein Stichwort, das der Film selbst in einer früh gelegenen Dialogszene gibt, nicht zu unrecht: ein "Crash" wird eine Rolle spielen und ein ins Grüne verlegter "High Rise" ist "La Lisiere" vielleicht auch, also Bauen auf dem Stand der zeitgenössischen Dinge, hinter dem Atavistisches dann hervorbricht.

La Lisiere, der Titel, ist keine Orts-, sondern eine Raumangabe: der Waldrand, und als solche von der Wortherkunft eine Metapher aus der Textilwelt (die Webkante), die so und so eine Grenze bezeichnet. In der Raumanordnung, die Geraldine Bajard entwirft, scheint diese Webkante der sozialen Textur zunächst seltsam zwar, aber fest und klar: die Jugend mit ihren merkwürdigen erotischen Spielen im Wald in der Nacht, die Erwachsenen und ihr Unausgesprochenes in Häusern am hellichten Tag. Allerdings tragen die Haustypen selbst Baumnamen, da sind die Dinge früh schon im Rutschen. Was zur Katastrophe gerade noch fehlt, ist eine Figur, die Verbindungen herstellt zwischen dem, was vorher getrennt war.

Diese Figur ist der Mann, der in diese Welt kommt - nicht Landvermesser, sondern Arzt, hier allerdings als Körpervermesser in seelisch prekärem Gelände. Sogleich sieht er sich erotisch belagert von Müttern und Töchtern. Francois ist sein Name, gespielt von Melvil Popaud, der bei Rohmer und Ruiz und Ozon zu sehen war. Er kommt aus der Stadt, seine Freundin lebt da, besucht ihn in der zweiten Hälfte des Films, will vielleicht bleiben. Francois ist ein noch etwas jungenhafter Mann, der nicht Stop sagt, ist einer, der nur schwach Widerstand leistet, halb neugierig, halb erschrocken, halb suchend, halb sich ziehen lassend: ist, kurz gesagt, selbst eine perforierbare Übergangszone zwischen Wollen und Hinnehmen, zwischen Lassen und Tun.



Rasch ist er von Frauen umstellt, die etwas von ihm wollen, möglicherweise. Gleich zu Beginn die Frau, die ihn durch sein neues Haus führt (es ist alt, keiner der Baumnamen-Neubauten der Siedlung), sie gibt sich vage aufgeknöpft. Später kommt Francois eines der Mädchen aus der Jugendgang, die im Wald und am Waldrand die erwähnt seltsamen Dinge treibt, nahe und näher. Wie es überhaupt den Mädchen ein Spaß ist, den Arzt unter Vorwänden in ihre Betten zu rufen, wo er sie unterm Blick der Eltern untersucht, ohne die Grenzen zu überschreiten, die die Regeln der Kunst und des Anstands ihm setzen.

Melvil Popaud spielt diesen Mann stets etwas erdhörnchenhaft, immer aufmerksam fluchtbereit: Man sieht ihm an, dass er auch ohne Stethoskop jeden erotischen Zwischenton hört. Er scheint verführbar, ohne dass es zum Äußersten kommt. Francois weiß sich womöglich keinen Rat, aber sucht ihn in merkwürdiger Unentschiedenheit auch eher nicht. Ein Jugendlicher, Cedric (Phenix Brossard), ist Francois? Gegenfigur: als erotischer Rivale, der sich herausgefordert fühlt, als Aggressor, als einer, der nicht viel sagen muss, um gefährlich zu wirken. Francois wird als passiver Eindringling (und doch nicht ohne sein Zutun) zum neuen Objekt der Begierde und bringt das Zirkulieren der erotischen Energien so durcheinander, dass Cedric zum Gegenschlag schreiten muss. Es kommt zum Knall und zum Crash, der freilich nichts klärt.

Auf für einen Debütfilm erstaunlich selbstgewisse Weise setzt Geraldine Bajard - die an der Ecole Normale Superieure und an der Berliner dffb studiert und bei Valeska Grisebach und Angela Schanelec assistiert hat - von Anfang an einen eigenen Ton. Ein Schlinge, die man nicht sieht, zieht sich spürbar doch zu. Man erkennt einerseits die abstrakten Züge (die Grenzlagen, das Schematische der Raumanordnung, die Schematik noch ihrer Auflösung), jedoch verfährt die Kamera oft impressionistisch und zeigt in erratischen Lichtkegeln sich verfolgende und knäuelnde Körper im Dunkeln. Immer wieder baut "La Lisiere" nahe am Horror. Die Außenräume erscheinen eher als Projektionen psychischer Innenräume und die Referenz der Beschreibung ist nicht konkrete Baupolitik, sondern die Besiedlung des Realen mit dem Imaginären. Daraus resultiert wohl auch das Auflösungsproblem, das der Film hat. Unter beträchtlichem Spannungsverlust werden die Dinge zu einem Ende gebracht. Was dabei als real ausgefällt wird, erscheint dann aber doch fast zu banal.

Ekkehard Knörer

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Zwei einsame Männer in zwei Wohungen. Herr Mithat, ein Rentner, bewohnt alleine eine kleine Wohnung in einem Mietshaus, außer gelegentlichen besorgten Anrufen und Pflichtbesuchen von Verwandten pflegt er wenig sozialen Kontakt. Ali, der Hausmeister des Gebäudes, ist in der feuchten Kellerwohnung untergekommen, seine Tochter ist dort krank geworden und mit ihrer Mutter zurückgekehrt aufs Dorf, zu den Schwiegereltern.

Mithats Wohnung ist vollgestopft mit dem, was er seine Sammlung nennt; seine wenigen Besucher sehen darin eher ein Krankheitsbild: Zeitungsstapel bis fast unter die Decke, kistenweise Bücher, Alltagsgegenstände jeder Sorte und Form, teilweise jahrzehntealte Tonbandaufnahmen. Jeder Gegenstand hat seinen Ort und seine Geschichte, zumindest letztere vergisst Mithat nie. Wenn die Sammlung das erste mal im Film auftaucht, wird sie von einer langsamen, tastenden Steady-cam-Fahrt erschlossen. Wenn Mithat dann später aber inmitten seiner Sammlung sitzt, umgeben von Materie, Zeichen und Tönen der Vergangenheit, hat die Kamera Geduld (gemeinsam) mit ihm, sie bewegt sich nicht mehr.

Als ein geschäftstüchtiger Herr Ruhin das Haus abreißen lassen will, damit an seiner Stelle ein moderner Appartmentkomplex entstehen kann und deswegen Unterschriften der Mieter sammelt, ist Mithat der einzige, der sich wehrt. Ali, der in seiner karg eingerichteten Wohnung nur von Zeichen und Tönen der Gegenwart und der Abwesenheit seiner Liebsten umgeben ist und mit dem die Kamera ebenfalls (gemeinsam) Geduld hat, wird für eine Weile Mithats Helfer und Verbündeter: im neuen Appartment wäre er nicht mehr gebraucht und somit arbeitslos, jetzt hilft er dem Alten dabei, dessen Sammlung aufrecht zu erhalten und wenn möglich zu erweitern. Ali erwirbt Zeitungen, lässt alte Uhren reparieren, begibt sich auf die schier endlose Suche nach Band 11 einer vergriffenen Istanbul-Enzyklopädie.

"10 vor 11" ist der erste lange Spielfilm Pelin Esmers, einer jungen Filmemacherin, die vorher hauptsächlich dokumentarisch arbeitete. Im aktuellen Film meint man von den älteren Werken der Regisseurin noch einiges erkennen zu können. Nicht nur zeigt sich ein dokumentarischer Impetus in kleinen, geduldigen, für die Handlung nicht unmittelbar relevanten Beobachtungen, wie beispielsweise der eines Flaschensammlers, der den Müll vor dem Mietshaus durchsucht, auch die Hauptfigur kann man als einen Dokumentaristen beschreiben, freilich als einen, dem das Sammeln und Ordnen alles ist, der an einer Darstellung und damit an einer Rückkopplung des Materials an Leben und Kommunikation aber nicht interessiert ist. Das Material allerdings lässt sich auf Dauer nicht bändigen, zumindest nicht von einem Einzelnen, die Entropie ist zu stark, zwangsläufig entstehen, sobald der Druck auf Mithat wächst, erste Lücken in der Sammlung, sie desintegriert hin auf die Umwelt, die sie in ihrem Anspruch auf Totalität eigentlich ersetzen wollte.



Das Schöne an dem Film ist, dass es ihm genügt, eine Situation zu beschreiben, dass er über diese Situation dann aber kein Urteil fällt, dass er keine Vorwürfe macht: nicht Mithat, dessen Sammelleidenschaft einst sogar seine Ehe zerstörte; nicht Ali, der dem Alten selbstverständlich nicht ganz selbstlos hilft und der durch den Kontakt mit der Sammlung in ein komplexes Tauschverhältnis eintritt und schließlich in ihr sogar ein Karrieresprungbrett findet; auch nicht den Nachbarn, die gute Gründe haben, in einem erdbebengefährdeten Gebiet ein modernes Wohnhaus beziehen zu wollen. Stoisch, dabei aber nie aufdringlich, rahmt Esmer die Menschen, in den Außenszenen gibt es gelegentlich ein wenig Bewegung (und Raum für Überraschendes, für Zufallsbegegnungen), in den Wohnungen aber bleibt die Kamera fast immer starr und sie hält Abstand, der Bildraum wird in seiner Gänze zum Lebensraum.

"10 vor 11" ist ein kleiner Film, der nicht viel mehr will, als zwei Männern ein Stück weit auf ihrem Lebensweg zu folgen. In mancher Hinsicht teilen die beiden Hauptfiguren mit dem Film ihren leisen Eigensinn, ihre Skepsis gegenüber beflissener Gesellschaftlichkeit. Ali und Mithat schotten sich nicht ab, aber sie legen wert darauf, von niemandem abhängig zu sein. Mihats geliebte Magnet-Taschenlampe, die ohne Batterien Licht nur durch den Druck der Hand zu erzeugen vermag, ist in diesem Sinne vielleicht das heimliche Zentrum des Films.

Lukas Foerster

La Lisiere - Am Waldrand. Frankreich / Deutschland 2010 - Originaltitel: La Lisiere - Regie: Geraldine Bajard - Darsteller: Melvil Poupaud, Audrey Marnay, Hippolyte Girardot, Phenix Brossard, Alice de Jode, Delphine Chuillot, Elias Borst-Schumann

10 vor 11. Türkei / Frankreich / Deutschland 2009 - Originaltitel: 11'e 10 kala - Regie: Pelin Esmer - Darsteller: Nejat Isler, Mithat Esmer, Lacin Ceylan, Tayanc Ayaydin, Savas Akova