Im Kino

Werde du Selbst!

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky
20.06.2012. In David Wains Komödie "Wanderlust" entkommen zwei gestresste New Yorker der koffeinbetriebenen Großstadtmühle und landen in einer "intentional community". Die Reise, auf die Bradley Parkers Debütfilm "Chernobyl Diaries" sechs junge Touristen schickt, hat einen weniger heimeligen Zielpunkt.

David Wain, das Mastermind hinter der Webserie "Wainy Days" und als Spielfilmregisseur zuletzt mit den äußerst lustigen "Role Models" (2008) aufgefallen, hat eine Komödie über zwei gestresste New Yorker gedreht, die es - Zeitangabe: "in this recession" - in eine Hippiekommune irgendwo im Bundesstaat Georgia verschlägt. "Wanderlust" heißt Wains neuer Film, die Wanderung von George (Paul Rudd) und Linda (Jennifer Aniston) ist aber vor allen Dingen eine metaphorische, aus der koffeinbetriebenen und nur mehr noch mit Schlaftabletten zu suspendierenden Großstadtmühle hinaus ins Offene, dem Versprechen alternativer Lebensentwürfe und einer gesteigerten Lebendigkeit hinterher. (Immer wieder wird sich Streit entzünden an dem feinen Unterschied zwischen dem wörtlichen und dem übertragenen Sinn dieser Wanderung: "Money buys you nothing", aber bestimmte Sachen eben doch; "I believe I can fly", aber noch der stärkste Glaube lässt keine Flügel wachsen.)

Bevor George und Linda sich dem Kommunenleben verschreiben, erleben wir sie in ihrem natürlichen Habitat. In der Ausgestaltung dieser Welt zwischen micro-loft und HBO-pitch - Linda promotet ihren Dokumentarfilm über Pinguine mit menschenverschuldetem Hodenkrebs, nach eigenem Bekunden eine Mischung aus "An Inconvenient Truth" und "March of the Penguins" - erzielt "Wanderlust" die meisten Treffer. Auch der suburbane Flachbildfernseherkomfort von Georges Bruder Rick (ein sprechender Name: rich dick) ist die reine, zum Schreien komische Hölle. Dass es das falsche Leben ist, dem George und Linda zu entfliehen suchen, daran lässt der Film keinen Zweifel. Aber auch in der ländlichen Abschottung der "intentional community", wie Oberguru Seth (Justin Theroux) die Lebensform der Kommunarden betitelt, erweist sich das richtige Leben als flüchtiges Gut. Immerhin existiert es dort als Utopie; die Komik resultiert nicht selten aus der voreiligen Gleichsetzung von Begriff und Wirklichkeit.


In der letzten Spex (Mai/Juni 2012) weist Wibke Wetzer auf die Rehabilitierung der Figur des Hippie in der amerikanischen Gegenwartskomödie hin, anhand von Titeln wie "Our Idiot Brother", "Portlandia" oder "Enlightened". Aus europäischer Sicht mag dies zunächst überraschen, haben wir doch gerade erst den letzten Anti-68er-Backlash hinter uns gebracht. Was mit dem Hippie oder an ihm rehabilitiert wird, sind jedoch nur jene Aspekte, die kompatibel sind mit dem postfordistischen Selbstverwirklichungsimperativ: Werde du selbst! Wie "Wanderlust" sich zu dieser Problemlage stellt, ist nicht leicht zu bestimmen. Betrachtet man das nackte Narrativ, abzüglich all der überschüssigen und ausschweifenden Momente, die den Film eigentlich ausmachen, stellt er sich als kleinbürgerliche Variante der bürgerlichen remarriage comedy dar, nur dass diesmal nicht zwei Liebende erneut einander wählen müssen, sondern zwei Individuen jeweils sich selbst. Am Ende steht dann folgerichtig nicht die Wiederverheiratung, sondern die Unternehmensgründung - den spoiler alert habe ich mir an dieser Stelle gespart, weil man auf diese Abart des happy ending inzwischen so oft stößt, dass einem gar nicht mehr auffällt, wie falsch sie ist.

Gegen meine humorlose Ideologiekritik stellt David Wain seine sehr eigentümlichen Humorexperimente. Ist das noch - oder schon wieder - lustig? Und wenn ja, bleibt es lustig, wenn ich es zig mal wiederhole, zerdehne etc.? Diese und ähnliche Fragestellungen werden hier abgearbeitet in einer modularen Form, die man um noch einige solcher Versuchsanordnungen erweitern könnte, ohne dass die nebenher und irgendwie gleichgültig ablaufende Erzählung etwas davon mitkriegen würde. Das ist nicht immer unterhaltsam, will es auch gar nicht sein. Faszinierend ist es, wie schon Wains großes Humorforschungsprojekt "Wainy Days", genau deswegen. Produziert wurde "Wanderlust" von niemand geringerem als Judd Apatow; so richtig gut zu vertragen scheint sich dessen, bei aller Liebe zum formalen Exzess dennoch figurenzentrierte Auffassung der Filmkomödie allerdings nicht mit dem unsteten Temperament des mad scientist David Wain.

Nikolaus Perneczky

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Es beginnt mit einem verwackelten Europabilderbuch: Das Colloseum in Rom, der Tower of London, davor herumalbernd und in die Kamera grüßend vier junge, mittelschichtsuniformierte amerikanische Touristen, zwei junge Männer, zwei junge Frauen. An allen Ecken und Enden des Genrekinos stößt man derzeit auf solche Bilder: das Heimvideo ist drauf und dran, zum neuen ästhetischen Standart zumindest kleinerer Horror- und Thrillerproduktionen zu werden. Man kann sie medientheoretisch interessant finden und als Abbild der unaufhaltsamen Vermehrung hochauflösender Videobilder im gesellschaftlichen Raum eignet ihnen vielleicht sogar ein Moment von Realismus - filmisch machen die meisten dieser niedrig budgetierten "found-footage"-Produktionen trotzdem keine gute Figur; zuviel scheint auf die Dauer verloren zu gehen, wenn die Kamera ihr Privileg der Unsichtbarkeit aufgibt. Glücklicherweise lässt der von Oren Peli (dem Regisseur von "Paranormal Activity", einem der wenigen wirklich gelungenen "found-footage"-Horrorfilme) produzierte und vom Debütanten Bradley Parker inszenierte "Chernobyl Diaries" - wie zuletzt auch der spanische Zombiefilm "Rec 3" - nach dem Prolog die consumer-video-Ästhetik hinter sich: Der Film scheint regelrecht aus einem Smartphone herauszuspringen, emanzipiert sich von der fingiert subjektiven Perspektive und schreibt seinen Vorspann um zum technisch vermittelten Erinnerungsbild.

Nun, da der Film seine Freiheit wiedergefunden hat, macht er sich daran, seine Protagonisten mit sanfter Hand ihrem Untergang entgegen zu führen. In seiner Exposition erzählt der Film vielleicht etwas über sich selbst, über sein Selbstverständnis als ein Stück Unterhaltungskino alter Schule: Seine Figuren werden nicht, wie die Jungs in Eli Roths nur auf den ersten Blick sehr ähnlichem "Hostel", von finsteren Bösewichten geködert, sie gehen aus freien Stücken; sie haben eigentlich nicht den geringsten Grund, da zu sein, wo sie sind, sie sind fast so zufällig in der Ukraine gelandet, wie man als Kinogänger im Multiplex an einem Tag Karten für eine Komödie und zwei Wochen später der Abwechslung halber für einen Horrorfilm löst. Wie auch immer, die vier Amerikaner - verwandtschaftlich, romantisch und freundschaftlich untereinander verbunden: die Brüder Paul und Chris, Chris' longtime girlfirend Natalie und deren beste Freundin Amanda (die Namen der Darsteller sind bislang nicht geläufig; auch für die Zukunft muss man sie sich wohl eher nicht merken) - sind inzwischen jedenfalls weiter nach Osten vorgestoßen. In der Ukraine stolpern sie etwas verloren durch die Gegend und landen schließlich im Büro des voluminösen und muskulösen Extremtourismus-Kleinunternehmers Uri ("I work alone"). Der sammelt noch Michael und Zoe, ein etwas weniger mainstreamiges australisches Pärchen auf Hochzeitsreise, ein und macht sich mit den sechs auf gen Prypiat: eine Siedlung, in der bis zum Reaktorunglück im April 1986 die Belegschaft des Kernkraftwerks Tschernobyl angesiedelt war und die seither komplett leer steht. Oder leer stehen sollte.

Schön ist die Fahrt nach Prypiat, die neugierigen Blicke aus dem Fenster, die ersten kleinen Irritationen (Kugelwellen auf der Wasseroberfläche eines Teichs, darunter ein paar geheimnisvolle Schatten), noch schöner die erste Besichtigung der von auf halbem Weg zwischen Tristesse und Größenwahn stecken gebliebener realsozialistischer Architektur geprägten Geisterstadt: Verloren stehen die sieben zwischen den verlassenen Betonriesen, die Stille stürzt auf sie ein und modelliert das kleinste Rascheln zum unheimlichen Geräuschereignis. Im Hintergrund sieht man die Türme des Kraftwerks (ein trick shot: gedreht wurde nicht in der Ukraine, sondern in Serbien und Ungarn). In einem der Hochhäuser kommt ihnen, eine erste echte Warnung, ein ausgewachsener Bär entgegen gerannt. Als sie zu Uris Kleinbus zurückkehren, springt der nicht mehr an. Und als es dunkel wird, kommt, was natürlich von Anfang an kommen musste in einem Horrorfilm namens "Chernobyl Diaries": erst blutrünstige Hunde, dann andere, bösartigere, mehr oder weniger verstrahlte Geschöpfe, wilde Hetzjagden, hysterisches Kreischen, rettesichwerkann, aber lasstmichnichtblutendalleinimvanzurück.


Wenn - ziemlich genau in der Mitte des Films - diese Hetzjagd beginnt, wird der vorher sympathisch ungeformt anmutende "Chernobyl Diaries" dann doch deutlich schwächer. Die vorher auf eine angenehme Halbdistanz zu den Figuren eingestellte Kamera, der es durchaus gelungen war, die zögernd-ziellose, genuin touristische Unbefangenheit der Jungs und Mädels filmisch zu übersetzen, verliert die Kontrolle, hastet zunehmend desorientiert durch einen Schauplatz, der für sich selbst hundertmal furchteinflößender ist als die Heerscharen von Unholden, die sich auf die Abenteurer stürzen, der sich aber leider immer mehr in ein beliebiges, notorisch schlecht ausgeleuchtetes Grusellabyrinth verwandelt. Die letzte Wendung am Ende, andererseits, die hat dann doch einen guten punch.

Lukas Foerster

Wanderlust - USA 2011 - Regie: David Wain - Darsteller: Paul Rudd, Jennifer Aniston, Justin Theroux, Malin Akerman, Kathryn Hahn, Lauren Ambrose, Ken Marino, Alan Alda, Joe Lo Truglio - Länge: 98 min.

Chernobyl Diaries - USA 2012 - Regie: Bradley Parker -Darsteller: Devin Kelley, Jonathan Sadowski, Ingrid Bolsø Berdal, Olivia Taylor Dudley, Jesse McCartney, Nathan Phillips, Dimitri Diatchenko, Milos Timotijevic, Milutin Milosevic - Länge: 85 min.
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