Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
04.10.2005. Die New York Review of Books besucht die Leiterin der Abteilung für Ideologiefragen in Venezuela. Im Express erklärt Salman Rushdie, warum ihn indische linke Intellektuelle im Kaschmirkonflikt als islamistischen Sektierer beschimpfen. Holmi feiert Janos Tereys Drama "Wohnkomplex Nibelung". Der Dramatiker Tom Stoppard besuchte für den Guardian Kollegen in Weißrussland und es öffnete sich ein Abgrund zwischen Form und Inhalt. In Literaturen bekennt Michael Frayn seine Lesefaulheit. Der Economist hofft auf ein Plisch und Plum in der deutschen Politik. In Ästhetik und Kommunikation erscheint die Bonner Republik in erstaunlich mildem Licht.

New York Review of Books (USA), 20.10.2005

Große Wissenschaftler sind entweder Füchse oder Igel, erklärt uns Freeman Dyson in seinem Ruhmesgesang auf seinen Lehrer, den Physiker Richard Feynman, dessen Briefe "Perfectly Reasonable Deviations from the Beaten Track" er wärmstens empfiehlt. "Füchse sind an vielem interessiert und bewegen sich locker von einem Problem zum anderen. Igel kümmern sich nur um wenige Probleme, die sie für fundamental halten, und an denen bleiben sie für Dekaden kleben. Die meisten der großen Entdeckungen werden von Igeln gemacht, die meisten kleinen von Füchsen. Die Wissenschaft braucht aber beide, Igel und Füchse für ihr Voranschreiten - Igel, um sich tief in die Natur der Dinge zu versenken, Füchse um die komplizierten Details unseres wunderbaren Universums zu erkunden. Albert Einstein war ein Igel, Richard Feynman ein Fuchs." Und was macht aus einem großen Wissenschaftler eine Ikone? "Feynman war nicht nur ein berühmter Komiker und ein berühmtes Genie, sondern auch ein weiser Mensch, dessen Antworten auf ernsthafte Fragen wirklich Sinn ergaben."

Im zweiten Teil (hier der erste) ihrer Reportage aus dem Venezuela des Hugo Chavez besucht Alma Guillermoprieto das Armenviertel Petare, eine Hochburg des Präsidenten: "Geführt wurde ich von Maria Milagros Reyes, einer resoluten, enthusiastischen Frau von den oberen Hügeln des Barrios. Reyes leitet die Abteilung für Ideologiefragen beim Kommando Maisanta in Petare, einer Organisation, die im vorigen Jahr gegründet wurde, um Stimmen für das Referendum über Chavez' Verbleib im Amt zu sammeln. Reyes nimmt einen recht hohen Rang ein und ich war besorgt, dass in ihrer Anwesenheit die Leute vielleicht nicht die Zweifel und Vorbehalte gegenüber Chavez äußern würden, die ich bei den Mittelschichten selbst unter Chavez-Anhängern mitbekommen habe. Aber in Petare schien überhaupt niemand irgendwelche Zweifel zu hegen - weder der junge Mann, der in einem von der Regierung mit fünf Computern ausgestatteten Geschäft kostenlos beigebracht bekam, wie man mit dem Internet umgeht und online-Bewerbungen abschickt, noch die arbeitenden Frauen, die in einem kleinen Büro anstanden, um ihre Kinder in chavistischen Betreuungskooperativen unterzubringen."

Weiteres: Ergriffen schreibt John Leonard zu Joan Didions Buch über den Tod ihres Mannes, die Krankheit ihrer Tochter und ihren eigenen Wahnsinn "The Year of Magical Thinking": "Ich kann mir nicht vorstellen ohne dieses Buch zu sterben." (Hier ein Vorabdruck aus dem Guardian.) Sträflich versagt, meint Ronald Dworkin, hat der Justizausschuss des Senats bei seiner Anhörung zu John Roberts' Nominierung zum Obersten Richter. Viel genauer hätte Roberts Versprechen auf den Zahn gefühlt werden müssen, in seinem neuen Amt keine Politik zu betreiben. Außerdem besprochen werden zwei Bücher über den leidigen Streit zwischen Darwinisten und Kreationisten sowie Cormac McCarthys Roman "No Country for Old Men" (mehr hier).

Express (Frankreich), 03.10.2005

In einem Interview spricht Salman Rushdie (mehr) über sein neues Buch "Shalimar the Clown", den er seinen aus Kaschmir stammenden Großeltern gewidmet hat. Über die aktuelle Situation Kaschmirs sowie die Rolle Pakistans und Indiens für die Konflikte des Landes sagt er: "Die gegenwärtige Tragödie besteht darin, dass sich beide Seiten sehr schlecht verhalten und damit die Gräueltaten noch vermehren. Meine Sympathie gehört Indien, aber ich habe vor Ort die Feindseligkeit der Bevölkerung gegenüber jenen gespürt, die als indische Besatzung betrachtet werden. Dennoch weigern sich selbst die linken Intellektuellen Indiens, diese Wahrheit zu hören. Weil ich sie vertrete, werde ich als islamistischer Sektierer beschimpft. Der kaschmirische Islam ist im Wesentlichen sufistisch, mystisch, nicht doktrinär und gutmütig. Das plötzliche Auftauchen der Pakistani hat es den Djihadisten ermöglicht, die Bewohner so lange zu terrorisieren, bis sie diese extreme Spielart des Islam akzeptierten."
Archiv: Express
Stichwörter: Rushdie, Salman, Clowns, Kaschmir

Holmi (Ungarn), 01.07.2005

Deutsche Verlage aufgepasst! Die ungarische Literaturkritik feiert mit ungebrochener Begeisterung das Drama "Wohnkomplex Nibelung. Fantasie nach Richard Wagner" des jungen Autors Janos Terey (mehr über ihn hier auf Englisch). Der Schriftsteller Laszlo Marton analysiert die Bezüge des Dramas zu Richard Wagner: "Aufgrund seiner Erfahrungen mit der Revolution führt Wagner sein deutsches, (groß- und weniger groß-)bürgerliches Publikum der Gründerzeit nach Walhalla sowie ins germanische Wildnis am Rhein, um sich vom Gründen auszuruhen, sich den Fantasien über das Mysterium von Blut und Liebe hinzugeben, über die Unheil verkündenden Lichter der Gottes-Dämmerung zu schaudern.... Auch Terey, Augenzeuge der Jahrtausendwende mit indirekten, aber außerordentlich intensiven Erfahrungen über die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, führt seine Leser in ein mythisches Gebiet, ins Herz der EU - nach Worms am Rhein, das eigentlich für Frankfurt am Main steht." In dieser mythischen Landschaft zeigt er die Spitzenunternehmer unserer Zeit.
Archiv: Holmi

Outlook India (Indien), 10.10.2005

Outlook India übernimmt online einen bedeutenden Essay des indischen Autors Amit Chaudhuri über das neueste Amartya Sens aus dem TLS, der dort aber nicht online stand. Sen - Nobelpreisträger für Wirtschaft und einer der wichtigsten "Public intellectuals" Indiens - begibt sich in seinem neuesten Buch "The Argumentative Indian" auf die Suche nach den Ursprüngen der indischen Moderne und Demokratie, und er wendet sich gegen romantisierende Indien-Bilder sowohl aus dem Westen als auch aus hindu-nationalistischer Perspektive: "Sen will zeigen, dass Demokratie und weltliches Erbe, die wir im heutigen Indien so schätzen, kein Zufall und keineswegs auch nur eine Gabe aus dem Westen sind. Und darum sind sie auch keine Strömung, vor der eine idealisierte Hindu-Identität Schutz suchen müsste."

Weitere Artikel: Amir Mir beklagt anti-indische Propaganda in pakistanischen Schulbüchern. Namrata Joshi konstatiert, dass das Jahr 2005 nach Anflügen von Krise wieder ein glänzendes Jahr für Bollywood war: "Ironischer Weise geht's in dem Moment wieder aufwärts, wo Big Brother Hollywood ein Jahr der schlechtesten Kritiken und Einnahmen verzeichnen muss."
Archiv: Outlook India

Guardian (UK), 02.10.2005

Der Dramatiker Tom Stoppard ist für die Sonntagsbeilage Guardian Review nach Weißrussland gereist, um Kollegen zu besuchen. Seine Eindrücke aus der letzten Diktatur Europas sind deprimierend. Auch die von ihm wiedergegebenen Diskussionen über Ästhetik und Inhalt von Theaterstücken sind interessant. Stoppard macht formale Ansprüche geltend, aber in der Situation Weißrusslands mögen ihm die Kollegen nicht folgen: "Ein junger Mannn wandte ein: 'Ich hatte zehn Freunde in der Schule. Heute sind noch drei am Leben. Der Rest starb an Überdosen. Soll ich nicht darüber schreiben?' Später sagte er noch: 'Ich höre Ihnen zu und stelle eine tiefe Kluft fest. Meine Mutter ist 51, mein Vater 52. Sie haben das Land nie verlassen und werden es wahrscheinlich niemals tun. Sie leben von 100 Dollar im Monat. Alles was sie verdienen, muss in die Ernährung geteckt werden. Sie gehen nicht ins Theater oder ins Kino. Sie haben ihr ganzes Leben gearbeitet, um sich selbst und die Kinder zu ernähren. Ich wollte ihr Leben beschreiben."

Außerdem wirft das Mozart-Jahr seine Schatten voraus: Simon Callow preist Jane Glovers Buch "Mozart's Women - His Family, His Friends, His Music".
Archiv: Guardian

Literaturen (Deutschland), 01.10.2005

Um das Lesen, oder genauer, um "das große Lesen" dreht sich alles in dieser Geburtstagsausgabe von Literaturen. Unter dem Motto "Mein Lese-Leben" erzählen 22 Autoren aus aller Welt ihre Lese-Biografie, die erwartungsgemäß recht unterschiedlich ausfallen. Während etwa Peter Esterhazy das Hohelied des Lesens anstimmt und keine Lesegelegenheit auszulassen vermag ("wenn die erste Schwalbe auftaucht, am Mittwoch, um halb zwei, um halb drei, halb vier, zu Weihnachten"?), kokettiert Michael Frayn mit seiner Lesefaulheit. "Sie bitten mich um einen Kommentar über etwas, das Sie 'meine Liebesaffäre mit dem Lesen' nennen. Ich muss gleich vorausschicken, dass dies eine Unterstellung und vollkommen unwahr ist. Das Lesen und ich sind nur gute Freunde."

Weitere Artikel: "Ist mein Bewusstsein noch rein, oder hat Axel Springer längst mein Hirn gekapert?" Aram Lintzel hat sich in den bildblog verliebt, der die Berichterstattung der Bild-Zeitung einer täglichen und rigorosen Prüfung unterzieht, und dem unlängst der "Grimme Online Award Information" verliehen wurde. Denn "was heute in der 'Bild'-Zeitung steht, steht morgen überall." (Nun wünschen wir uns noch eine Überprüfung der übrigen Presse!)

Im Kriminal taucht Franz Schuh bei der Lektüre von Colin Harrisons "Havana Room" in den bösen Fiebertraum eines gefallenen Anwalts ein. Aus Moskau berichtet Irina Prochorowa von der optischen Täuschung des Moskauer Kulturlebens: Hinter der Fülle von Veröffentlichungen und Veranstaltungen lauert der kulturprovinzielle Ungeist (überraschende Ausnahme ist dabei die niveauvolle Glamour-Presse). Und Manuela Reichart gratuliert David Cronenberg zu seiner Comic-Verfilmung "A History of Violence", mit der ihm eine "verwirrende Eloge auf Kleinstadtidylle und Familienwerte" gelungen ist.
Archiv: Literaturen

New Yorker (USA), 10.10.2005

Malcolm Gladwell rezensiert eine "bemerkenswerte" Studie des Soziologen Jerome Karabel, der in "The Chosen" (Houghton Mifflin) die soziale Logik der Aufnahmebedingungen für die amerikanischen Eliteuniversitäten beschreibt. Gladwell, ein Kanadier, beginnt seinen Artikel mit der Beschreibung des gänzlich anders bewerteten kanadischen Universitätssystems und seine "Verwirrung", als er in den USA zum ersten Mal jemanden traf, der in Harvard studiert hatte. "Da war zunächst mal dieser anfänglich seltsame Widerwille, überhaupt über die Uni zu sprechen - ein gesenkter Blick, ein Scharren mit den Füßen, eine gemurmelte Bemerkung über Cambridge. 'Sie waren also in Harvard?', fragte ich. Ich war gerade in die Vereinigten Staaten gekommen und kannte die Regeln nicht. Es folgte ein unbehagliches Nicken. Bewerten Sie mich nicht nach meiner Universität, schien es zu bedeuten, was implizierte, dass die Universität sehr wohl eine Bewertung darstellte. Und natürlich tat sie das. Wo immer ich einen Harvard-Absolventen traf, lungerte im Hintergrund ein weiterer herum, jederzeit bereit, Geschichten über lange Nächte auszutauschen, von den Kompliziertheiten des Aufnahme-Essays zu erzählen oder sich lauthals zu fragen, was wohl aus Prinz Soundso geworden sei, der am Ende des Flurs gewohnt hatte und dessen Eltern ein wirklich unglaubliches Haus in Südfrankreich besessen hätten."

Weiteres: Evan Ratliff schreibt über den Kampf gegen Internet-Gauner und -erpresser. Nick Paumgarten porträtiert eine eigentümliche New Yorker Institution: den Doorman; und Christopher Buckley glossiert ein aktuelles Internet-Video, das Al-Qaida zugeschrieben wird. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Early Music" von Jeffrey Eugenides.

Die Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem einer Biografie des amerikanischen Historikers, Geschichtsphilosophen und Essayisten Henry Adams. Vince Aletti führt durch eine Ausstellung spiritistischer Fotografie im Metropolitan Museum of Art, die zwischen 1860 und 1930 ihre Blüten trieb. Sasha Frere-Jones porträtiert die Sängerin Fiona Apple und ihr neues Album "Extraordinary Machine". Hilton Als stellt die Theaterinszenierungen "Colder Than Here" von Laura Wade und "Fran?s Bed" von James Lapine vor. Und David Denby sah im Kino die biografische Studie "Capote" von Bennett Miller, die sich fast ausschließlich auf die fünf Jahre konzentriert, in denen Truman Capote sein Buch "Kaltblütig" schrieb, und den Film über einen mutigen Radioreporter während der McCarthy-Ära, "Good Night, and Good Luck" von George Clooney.

Nur in der Printausgabe: ein Artikel über chronische Schmerzen, ein Bericht über die finanzielle Zukunft der Los Angeles Times, der zweite Teil einer Reportage über den Transport von Kohle aus den Powder River Minen und Lyrik von Charles Simic, Mary Oliver und Wislawa Szymborska.
Archiv: New Yorker

London Review of Books (UK), 06.10.2005

Ganz und gar hingerissen verfolgt Frank Kermode die Spur, die von Zadie Smiths neuem Roman "On Beauty" zu E. M. Forsters "Howards End" führt. Auch wenn dem auf Anhieb nicht so scheinen mag: "Zadie Smith ist bereits bekannt dafür, mit beiden Beinen in der Welt zu stehen, deren Vielfalt zu kennen und zu lieben. Ihre Figuren sind bodenständig: Sie sind ungehobelt, fett, glatzköpfig, kurzsichtig, haben schiefe Zähne; sie sprechen ihre eigene Sprache und sind, um es kurz zu sagen, menschlich. Sie leben soviel sie können, weil es das einzige ist, was sie haben. Doch Smith befindet sich dennoch in Forsters Nähe, weil sie sich etwas aus Religion, Prophezeiung und Philosophie macht. Die größte Ähnlichkeit zwischen beiden Büchern geht weit hinaus über die Anspielungen innerhalb der Handlung, über die alle reden. Was beiden zugrunde liegt, ist die Vorstellung des Romans als das, was Lawrence das eine, strahlende Buch des Lebens nannte - eine Quelle der Wahrheit, der Jenseitigkeit und der Prophezeiung."

Weitere Artikel: Andrew O'Hagan liefert eine spannende und skurrile Reportage über Terry und Sam, die spontan im Truck von North Carolina in das vom Wirbelsturm Katrina verwüstete New Orleans gefahren sind, um zu helfen. Schlecht abgeschnitten hat bei Theo Tait Salman Rushdies neuer Roman "Shalimar the Clown": Er tue "viele verschiedene Dinge, in vielen verschiedenen Stilen, und letztlich nur wenige davon gut". Der Ökonom John Christensen kann Raymond Baker nur zustimmen wenn dieser in "Capitalism's Achilles Heel: Dirty Money and How to Renew the Free-Market System" darlegt, dass Auslandsmachenschaften großer Firmen nicht erst mit Enron, Worldcom und Parmalat, sondern schon zu Kolonialzeiten ihren Anfang genommen haben. In den Short Cuts labt sich Paul Laity an Worst-Case-Szenarien. Und Peter Campbell konnte am Tag des Offenen Hauses den langersehnten Blick hinter die Fassade des Gibbs Building in London werfen.

Gazeta Wyborcza (Polen), 01.10.2005

Soli Özel, Professor für Internationale Beziehungen an der Bilgi Universität in Istanbul, ist sich sicher: "Auch wenn kein vernünftiger Mensch in der Türkei heute sagen würde, dass wir zum EU-Beitritt bereit sind, werden wir uns schnell ändern und rechtzeitig bereit dafür sein." Im Interview erklärt Özel auch, wie die Beitrittsperspektive die Veränderungen im Land beschleunigt hat: "Es gab einen inneren Druck in Richtung Veränderung des Systems, ähnlich wie in Polen mit der 'Solidarnosc'. So gesehen war dann die EU-Perspektive unser Gorbatschow - der Impuls von außen, der die Reformen erst möglich gemacht hat." Er warnt auch: "Die EU und die Türkei haben ein gemeinsames Interesse an der Integration. Wenn dieser Prozess unterbrochen werden würde, würde niemand profitieren und die Folgen könnten katastrophal sein."

Für eine menschenfreundlichere, linke Version der Globalisierung plädiert der amerikanische Politologe Benjamin R. Barber. "Sowohl in Europa als auch in den USA ist der Niedergang der demokratischen Linken auf das Demokratiedeifizit der harten, globalisierten Realität zurückzuführen. Die Linke ist nicht im Stande, eine demokratische Antwort auf die Globalisierung zu formulieren. Die vorhandene Alternative: Xenophobie und Protektionismus oder Ungleichheit und Ultraliberalismus, liefert nicht die Antwort."
Archiv: Gazeta Wyborcza

Ästhetik & Kommunikation (Deutschland), 01.10.2005

Diese Zeitschrift hat ja schon vor über 20 Jahren historische Hefte über den "Mythos Berlin" und über "Deutsche Mythen" herausgebracht. Nun also der "Mythos Bundesrepublik", ein Heft, das schon deshalb auf Interesse stoßen wird, weil sich hier eine jüngere Generation von Essayisten, Publizisten und angehenden Lehrstuhlinhabern artikuliert. Ihr Blick auf die Bonner Republik ist erstaunlich mild - aggressiv angegangen wird nur die Figur des Renegaten Götz Aly. Im Editorial der Herausgeber Alexander Cammann, Jens Hacke und Stefan Schlak heißt es: "Jenes kleine Land, dem Links und Rechts gern unaufhörlich seine Hässlichkeit und Langweiligkeit vorhielten, nimmt mit der Zeit überraschend schön Gestalt an. Die gegenwärtige Krisenbeschwörung ruft eine Westalgie auf den Plan, mit deren Hilfe die wohlfeile Erfolgsgeschichte der Jahre zwischen 1945 und 1989 komponiert wird. Das 'Wirtschaftswunder', die 'Ankunft im Westen', die 'Fundamentalliberalisierung' und 'Umgründung der Republik' im mythischen Jahr 1968 - diese Triumphgeschichten werden heute vor allem von denjenigen mit Bekennbrust propagiert, die lange Zeit gegen die f.d.G.O. fochten."

Als pdfs sind unter anderem das Editorial, ein Essay von Jens Hacke über "Kanzlermythen", ein Essay Stefan Schlaks über die Promotionen der deutschen Mythenbegründer Habermas, Marquard und Koselleck und ein Essay von Alexander Cammann über die "Gruppe 47" zu lesen.

Spectator (UK), 30.09.2005

Andrew Gilmour, UN-Berater für Westafrika, antwortet auf Mark Steyns Polemik gegen die Vereinten Nationen, diese "Abwasserkanäle des Transnationalismus" (Steyn). Gilmour verteidigt die Errungenschaften der jüngsten Reformrunde. "In einer der radikalsten Aussagen des vergangenen Jahrhunderts zum internationalen Recht haben alle Mitglieder einer Erklärung zugestimmt, die ein Recht der Weltgemeinschaft festhält, militärisch gegen Staaten vorzugehen, die es versäumen, ihre Bevölkerung vor Genozid, Kriegsverbrechen und ethnischen Säuberungen zu schützen. Premierminister Tony Blair hatte recht, als er sagte 'Zum ersten Mal auf diesem Treffen sind wir übereingekommen, dass Staaten innerhalb ihrer Grenzen nicht tun und lassen können, was sie wollen.' (...) Das ist eine recht grundlegende Reform. Kein Wunder dass Steyn tobt und verlangt, dass die USA aus den Vereinten Nationen austreten."
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HVG (Ungarn), 01.10.2005

Anlässlich der Konferenz "RE:activism" der Central European University in Budapest analysiert der Publizist Tamas Vajna den Strukturwandel der Öffentlichkeit, die das Internet auslöste. Im Netz entstehen politische Interessengemeinschaften oft an den traditionellen Medien vorbei: "Die Neuen Medien widerlegten die Theorie der Schweigespirale, die Elisabeth Noelle-Neumann in den 1970er Jahren schuf. ... Heute artikulieren die verschiedensten Bewegungen ihre Meinung im Internet: Homosexuelle, radikale Globalisierungsgegner, Umweltschützer, Feministen, Gegner der Abtreibung oder der Tierexperimente - durch die kostengünstige Präsenz im Internet wird es möglich. (...) Die Online-Autoren unterscheiden sich nicht nur in der Art und Weise der Meinungsverbreitung, sondern auch in den Inhalten von den traditionellen Medien. Sie schreiben gegen den Mainstream, gegen die Online-Mutationen der guten alten Printmedienwelt oder die im virtuellen Raum aufgebauten Bollwerke des Staates, der Kirchen oder der Wissenschaft."
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Economist (UK), 30.09.2005

Aus der Ferne sieht man's gelassen - an einer großen Koalition in Deutschland hat der Economist nichts auszusetzen, zumal ein Blick in die Geschichte eher versöhnlich stimmt. "Vieles wird davon abhängen, ob die Chemie zwischen den Koalitionsführern stimmt. Denn dass die erste große Koalition zumindest teilweise ein Erfolg war, verdankte sich hauptsächlich der guten Beziehung zwischen dem SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller und dem CSU-Finanzminister Franz-Josef Strauss, die ihnen im Volksmund den Spitznamen 'Plisch und Plum' einbrachte - nach den zwei Hunden eines berühmten Gedichts."

Weitere Artikel: Als zukünftigen Klassiker rühmt der Economist Kevin Starrs (mehr hier) elegante und humorvolle Geschichte des Bundestaates Kalifornien (Auszug), der durch eine schicksalhafte Kombination von großen Menschen, großen Ideen und großen Projekten zu "einem der Prismen" wurde, "durch die das amerikanische Volk schon immer - im Guten wie im Schlechten - einen Blick auf ihre Zukunft erhaschen konnten". Ursprünglich sollte sich der EU-Gipfel im englischen Hampton Court nicht um die Globalisierung, sondern um die europäische Sozialpolitik drehen. Schade, denn gerade über dieses heikle Thema besteht Diskussionsbedarf, findet der Economist und beschreibt die verschiedenen Modelle der sozialen Sicherung, die in Europa praktiziert werden. Im Nachruf porträtiert der Economist den puertorikanischen Unabhängigkeitskämpfer Filiberto Ojeda Rios, der bei einer Schießerei mit dem FBI ums Leben kam. Und schließlich fragt sich der Economist, ob die zunehmenden Massenproteste in China für politische Instabilität sorgen könnten.
Archiv: Economist

New York Times (USA), 03.10.2005

1936 konnte Max Schmeling seinen Erzrivalen Joe Louis noch auf die Bretter schicken, 1938 musste er nach nur 122 Sekunden und drei Niederschlägen selbst aufgeben. David Margolicks historische Reportage "Beyond Glory" zu den beiden Kämpfen bejubelt Joye Carol Oates als Schwergewicht von einem Buch, das wahrscheinlich definitive Werk zu einem sportlichen und politischen Weltereignis. "Als der zweite Kampf im Juni 1938 im Yankee Stadion ausgetragen wurde, in dem der 24 jährige amerikanische Schwarze und Titelverteidiger Louis gegen den 32-jährigen Schmeling, Starsportler der Nazis, antrat, ging es ebenso um die Auseinandersetzung zwischen den Vereinigten Staaten und Nazideutschland wie um den Kampf zwischen zwei begnadeten Athleten. Fast 70.000 Zuschauer und geschätzte 100 Millionen Menschen, die das Ereignis vor dem Radio verfolgten: 'das größte Publikum, das es jemals gab.'" Zur Einstimmung die beiden Originalartikel zu den Kämpfen 1936 und 1938 aus der New York Times.

"Alles deutet darauf hin, dass Michelangelo Merisi, Schläger, Gangmitglied, Mörder und großartiger Maler, bekannt als Caravaggio, leicht zu verärgern war", schließt Christopher Benfy aus Francine Proses "flotter" Biografie des italienischen Barockkünstlers ("Caravaggio"). "Es gibt da die kleine Geschichte von dem entgleisten Tennisspiel. Wir wissen alle, dass Tennis frustrierend sein kann, aber Caravaggios Match endete mit dem Mord an seinem Gegenspieler."

Weitere Besprechungen: In J.M. Coetzees Werk fühlt sich Ward Just wie in einer romanischen Kirche an einem Novembertag. Der neue Roman "Slow Man" stehe nun den Vorgängern in Exaktheit und Kühle in nichts nach, aber diesmal glaubt Just, "ein Banjo im Chor zu hören". Rick Moodys "The Diviners" (erstes Kapitel) beschreibt den Entstehungsprozess einer Fernsehserie, in der die ewige Suche des Menschen nach Trinkwasser dargestellt werden soll. Hört sich nach nicht viel an. Aber wenn es wie hier darum geht, "ein Figurenensemble in den Fängen einer angenehmen Hysterie zu schildern", ist Moody in seinem Talent, bezeugt zumindest Stephen Metcalf.


New York ist das wahre politische Gravitationszentrum der USA, behauptet das New York Times Magazine und belegt dies in einer Reihe von Artikeln. Sam Tanenhaus sieht die denkwürdige Bürgermeisterkandidatur von William F. Buckley 1965 als Wendepunkt der amerikanischen Politik. "Es war seltsam genug, dass Buckley, Autor, Chefredakteur der National Review, Kolumnist, Redner und Störenfried - bar jeglicher Erfahrung in praktischer Politik - sich um diesen undankbarsten aller Jobs bemühte. Noch merkwürdiger war, dass sein Wahlkampfstil zu Vergleichen mit Oscar Wilde, Evelyn Waugh, Noel Coward und Mort Sahl einlud. Aber wirklich verrückt war die Tatsache, dass er ernst genommen wurde."

Weiteres: Russell Shorto beharrt darauf, dass der Liberalismus - zumindest die amerikanische Variante - in Manhattan erfunden wurde. Matt Bai warnt die bisher fehlerfreie Hillary Clinton vor neuen Fallstricken in der demokratischen Politik. James Traub vergleicht den Stil des gegenwärtigen Bürgermeisters Michael Bloomberg mit dem seines demokratischen Herausforderers Fernando Ferrer. Auf den Funny Pages wartet der dritte Teil von Elmore Leonards Fortsetzungserzählung "Comfort to the Enemy".
Archiv: New York Times