Magazinrundschau

Der Mensch ist ein depressives Tier

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
15.01.2008. Im Nouvel Obs sieht der algerische Schriftsteller Boualem Sansal nur eine dünne Grenze zwischen Islamismus und Nazismus. Solange es in Indonesien kurze Röcke gibt, muss man den Islamismus nicht fürchten, erklärt der Economist. Nueva Sociedad tritt eine Odyssee durch Mexiko City an. Henri Bergson als "Gegengift zur Depression" empfiehlt der Philosoph Frederic Worms in Le Point. In der New York Times macht sich Steven Pinker Gedanken über Moral und Lebensstil.

Nouvel Observateur (Frankreich), 10.01.2008

"Was er sagt, ist furchterregend", leitet der Nouvel Obs sein Interview mit dem algerischen Schriftsteller Boualem Sansal (mehr hier und hier) ein. Dessen neuer Roman "Le Village de l'Allemand ou le journal des freres Schiller" (Gallimard) erzählt, wie zwei in einer Pariser Banlieue lebende Brüder herausfinden, dass ihr Vater, ein Held der algerischen Befreiungsbewegung FLN, einst SS-Offizier war. Für den Nouvel Obs ist der Roman ein "Schlag ins Kontor unserer Illusionen". Über die Situation in Algerien meint Sansal im Interview: "Wir leben unter einem national-islamistischen Regime und einer von Terrorismus geprägten Umgebung, und wir sehen sehr wohl, dass die Grenze zwischen Islamismus und Nazismus dünn ist. Algerien wird von seiner Jugend als 'Gefängnis unter freiem Himmel' wahrgenommen, so die einen, und von den anderen, die in den Städten langsam zu Grunde gehen, als 'Konzentrationslager'. Sie fühlen sich nicht nur als Gefangene von Mauern und abgeschotteten Grenzen, sondern einer finsteren und gewalttätigen Ordnung, die ihnen noch nicht einmal Raum zum Träumen lässt."

Im Anschluss an das Interview findet sich online übrigens eine Vielzahl interessanter, zum größten Teil anonymer Reaktionen von Lesern.

Nueva Sociedad (Argentinien), 13.01.2008

"Lateinamerika ist heute der am stärksten urbanisierte Teil der Dritten Welt", heißt es im Editorial der Nueva Sociedad. Den Megacities Südamerikas ist deshalb auch die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift gewidmet. Einen besonders lesenwerten Beitrag über seine Heimatstadt Mexico City hat Juan Villoro verfasst (pdf): "Walter Benjamins Empfehlung, sich 'in einer Stadt zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt', war seinerzeit gar nicht so einfach nachzukommen: Die städtische Landschaft verfügte noch stets über Bezugspunkte, die ein völliges in die Irre gehen unmöglich machten. In einer Metropole wie der mexikanischen Hauptstadt dagegen ist an die Stelle der Figur des Flaneurs, der spazieren geht, um sich zu verlaufen, längst die des Deportierten getreten, der ängstlich bestrebt ist, den Weg nach Hause zu finden. Die Odyssee ist unser täglich Brot, die größte Herausforderung besteht darin, heil an den Ausgangspunkt zurück zu gelangen. Unterwegs stößt man vielleicht plötzlich auf eine Waschmaschine randvoll mit Puppenköpfen. Stünde sie auf der Documenta oder der Biennale von Venedig, würde man sie der Konzeptkunst zurechnen. Hier hat sie eine andere Bedeutung, auch deshalb, weil die ganze Stadt dieser Installation überaus ähnlich ist."

Alejandro Encinas Rodriguez, langjähriger Präsident des Hauptstadtbezirks, informiert derweil unter anderem darüber, dass die fast vier Millionen Autos von Mexico City täglich 24 Millionen Liter verbrannten Treibstoffs in die Luft pusten.
Archiv: Nueva Sociedad

ResetDoc (Italien), 14.01.2008

Nach der Debatte um die Linke und den Islam startet resetdoc eine neue Debatte über den Demokratiebegriff von westlichen Denkern - hier äußern sich der Politologe Carlo Galli aus Bologna und sein New Yorker Kollege Andrew Arato - und dem Kairoer Philosophen Hassan Hanafi. Keiner der drei stützt einen auf dem Individuum fundierenden Begriff der Demokratie. Gallio schlägt einen Demokratiebegriff vor, der eine Koexistenz der Kulturen ermöglicht. Arato kritisiert den Missbrauch des Demokratiebegriffs zu imperialistischen Zwecken und nennt hier den Irak-Krieg als Beispiel, und ähnlich sieht es Hassan Hanafi: "Demokraten und Republikaner in den USA teilen die gleiche Ideologie der Hegemonie, der Invasion im Irak und Unterstützung für Israel. Demokratie wird hier als ein Werkzeug genutzt, im liberale Wirtschaften zu installieren und nicht als ein Wert in sich. Der Begriff ist sogar eine Tarnung, um Ausbeutung und Hegemoniestreben zu kaschieren."
Archiv: ResetDoc
Stichwörter: Bologna, Hegemonie, Irak, Ausbeutung

New Yorker (USA), 21.01.2008

Ryan Lizza analysiert die Vorwahlen in New Hampshire. Für Barack Obama sieht er vor allem einen gefährlichen Trend aufscheinen: die Rassenfrage. "Meinungsforscher versuchen festzustellen, ob er einem sogenannten Bradley-Effekt zum Opfer gefallen ist. 1982, als der afroamerikanische Bürgermeister von Los Angeles, Tom Bradley, für den Gouverneursposten kandidierte, zeigte ihn in den letzten Umfragen mit 8 Prozentpunkten klar in Führung vor seinem weißen republikanischen Rivalen George Deukmejian. Und doch gewann Deukmejian - mit einem Prozentpunkt. Ein ähnliches Phänomen erlebte 1989 in Virginia L. Douglas Wilder, als er für den Gouverneursposten gegen den weißen Marshall Coleman kandidierte. Wilder lag zehn Prozentpunkte in Führung, gewann am Ende aber mit weniger als einem Prozentpunkt. In beiden Fällen waren weiße Wähler gewillter, den Meinungsforschern zu erzählen, sie würden einen schwarzen Kandidaten unterstützen, als es tatsächlich zu tun."

Weitere Artikel: Lauren Collins schildert einen Fall, in dem ein böser Scherz auf MySpace zum Selbstmord einer Dreizehnjährigen führte. Zu lesen sind die Erzählung "Ash Monday" von T. Coraghessan Boyle und Lyrik von Adam Zagajewski und Robert Mezey.

Adam Gopnik rezensiert zwei Neuerscheinungen über den amerikanischen Sezessionskrieg ("This Republic of Suffering: Death and the American Civil War", Knopf; "Awaiting the Heavenly Country: The Civil War and America?s Culture of Death", Cornell). Und David Denby sah im Kino das 2006 in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnete Drama "Still Life" von Jia Zhang-ke, "Summer Palace" von Lou Ye und Woody Allens "ärgerlichen" neuen Film "Cassandra?s Dream" mit Ewan McGregor.
Archiv: New Yorker

Gazeta Wyborcza (Polen), 12.01.2008

Wenn in Polen im vergangenen Jahr über Architektur diskutiert wurde, ging es fast immer um den Umgang mit dem realsozialistischen Erbe, insbesondere dem Warschauer Kulturpalast, und den Neubau des Museums für Zeitgenössische Kunst gegenüber. In einem Gespräch äußert sich der Architekt des letzteren, Christian Kerez, zu beidem: "Warschau braucht Gebäude, die nur hier stehen können. Das ist seine Chance. Das ist leicht gesagt, und ich weiß auch nicht, wie sie aussehen sollten, aber man darf keine fertigen Produkte kaufen oder historische Stile nachahmen. Um zu einer außergewöhnlichen Architektur zu kommen, muss man die eigene Vergangenheit akzeptieren, und sie als Ausgangspunkt nehmen - auch wenn sie Fehler hat."

Peinlich und zugleich oft bewundernswert findet Jacek Szczerba historische Fernsehserien aus den 70er und 80-er Jahren, die letztens auf einer DVD erschienen sind. "Die sozialistische und nationalistische Ideologie ist sichtbar, aber sie bedeutet heute nicht mehr viel. Sie stört sogar nicht besonders, denn etwas Anderes fällt auf: interessante Helden und gute Einfälle im Plot. Leider werden aus finanziellen Gründen heute in Polen keine historischen Serien mehr gedreht. Schade".
Archiv: Gazeta Wyborcza
Stichwörter: Fernsehserien, 1970er

Elet es Irodalom (Ungarn), 11.01.2008

Tamas Majsai, Dekan an der Theologischen Hochschule John Wesley in Budapest, ist bestürzt, wie passiv sich die Kirchen bei einem Aufmarsch der ungarischen Garde zum Schutz vor angeblicher "Zigeunerkriminalität" (mehr hier) - verhalten haben. Majsai hätte sich gewünscht, dass man sich ein Beispiel am Prager Erzbischof Miloslav Vlk nimmt, der neulich bei einem Aufmarsch von Neonazis in der tschechischen Hauptstadt den jüdischen Friedhof höchstpersönlich beschützt hatte: "Die Ombudsmänner haben den Staatspräsidenten, andere Würdenträger der Öffentlichkeit sowie die politische Elite dazu aufgerufen, in der Garden-Angelegenheit klar und deutlich zu werden. An unsere Kirchen haben sie nicht gedacht. Würden diese aber das rassistische Affentheater nur ein einziges Mal und mit vereintem Willen zur Sünde erklären, gäbe es kaum jemanden, der diesen teuflischen Verkündungen Beifall klatschte. Auch würde die Mitgliedschaft in der Garde zu einer Schande. Aber die Kirchen reagieren nicht." (Majsai hatte im Oktober 07 auch einen Aufruf an die Reformierte Kirche Ungarns mitinitiiert, sich von den antisemitischen Äußerungen des Pfarrers Lorant Hegedüs jun. zu distanzieren.)
Stichwörter: Wesley, John, Neonazis

Economist (UK), 11.01.2008

Für einen oberflächlichen Blick sieht es so aus, als müsste man sich um eine islamische Radikalisierung Indonesiens Sorgen machen. Islamistengruppen verüben Anschläge und wollen nicht nur Einheimischen das Tragen von Bikinis verbieten. Auf den zweiten Blick aber stellt sich, wie der Economist versichert, alles weit weniger dramatisch dar: "Indonesien ist ein riesiges und komplexes Land mit vielen internen Unterschieden, und die Radikalen sind, auch wenn sie eine halb-offizielle Plattform haben, eine kleine und nicht sehr einflussreiche Minderheit. Sehr vieles deutet darauf hin, dass sie keinen Erfolg haben werden: Nicht nur die Radikalen, sondern auch die Liberalen haben Durchsetzungsvermögen. Sie haben gerade die Schlacht um ein 'Pornografie'-Gesetz gewonnen, das die Islamisten 2006 einbrachten. Es hätte nicht nur Bikinis und kurze Röcke - auch für nicht-muslimische Frauen - verboten, sondern auch die traditionellen Tänze der Hindu-Minorität..."

Weitere Artikel: Wir erfahren, wie es um die Musikindustrie steht und welche Transformationen noch zu erwarten sind. Mit ein wenig Verspätung wird die Kündigung des Vertrags von Stefan Aust beim Spiegel geschildert. David Anderegg hat ein Buch über Nerds geschrieben - Untertitel: "Wer sie sind und warum wir mehr von ihnen brauchen" - und beklagt ihr schlechtes Image, das nämlich dazu führt, "dass immer weniger Amerikaner Naturwissenschaften studieren". Besprochen werden die Übersetzung von Bernhard Schlinks Roman "Die Heimkehr" (der als "verführerisch undurchsichtig" gelobt wird), zwei Bücher zur amerikanischen Geschichte und Roberto Savianos Camorra-Reportage "Gomorrah". Ein Nachruf würdigt den im angelsächsischen Sprachraum äußerst populären Autor George Macdonald Fraser, der dem fiktionalen, das 19. Jahrhundert unsicher machenden Abenteurer Flashman in vielen Romanen Leben verlieh.

Die Titelgeschichte mit der Schlagzeile "Noch völlig offen" ist dem US-PräsidentschaftskandidatInnen-Wahlkampf gewidmet. Mehrere weitere Artikel beleuchten das Ereignis unter Gesichtspunkten wie "Obamamania", "Das Comeback-Kid, Teil 2" oder "The Mac is Back".
Archiv: Economist

Europa (Polen), 12.01.2008

Große Wissensdefizite konstatiert im Gespräch der Historiker Karl Schlögel in Bezug auf Deutschlands Bild von Osteuropa. Der einst einheitliche "Ostblock" ist zwar dem Bewusstsein von der Existenz einzelner Länder mit ihren Eigenheiten gewichen, aber was diese ausmachen, scheine erst bei den jüngeren Generationen anzukommen: "Die heutigen Warschauer und Berliner verfügen über Räume der gemeinsamen Erfahrung, das Lebenstempo ist das gleiche, sie nutzen die gleichen Geräte. Diese Art von Kosmopolitismus ist vielleicht weniger spektakulär als die Vernetzung vor hundert Jahren, die mich seit Jahren fasziniert, aber sie ist großen Menschenmassen zueigen. Dadurch werden wir immun gegen nationalistische Verführungen."

Haben Sie sich mal gefragt, warum eigentlich in Polen zwei konservative Parteien das politische Feld dominieren? Der Historiker Andrzej Mencwel hat eine Antwort parat: "Weil die Linke die Lage nicht ernsthaft definieren kann, das heißt, sie kann nicht sagen, was das Hauptproblem unserer Zeit ist, wie man es zivilisatorisch benennen kann, was die sozialen Konflikte ausmacht."
Archiv: Europa

Point (Frankreich), 10.01.2008

Als "Gegengift zur Depression" empfiehlt der Philosoph Frederic Worms die (Wieder)Lektüre des Philosophen Henri Bergson. Worms, Herausgeber einer kritischen Neuausgabe von Bergsons Schriften bei PUF, hält dessen Analysen des Bewusstseins und eines schöpferischen Lebens für aktuell und sehr nützlich: "Das Paradox des Menschen ist, dass seine Intelligenz, der schönste Erfolg seines Lebens, ihn dem Leben auch entfremdet. Die Intelligenz ist ihrem Wesen nach depressiv, weil sie sich die Risiken vergegenwärtigt, den Tod... Der Mensch ist daher ein depressives Tier. Nicht zufällig ist die Depression, ebenso wie die freudsche Neurose, die Krankheit des Jahrhunderts. Zum Leben zurückzukehren heißt gleichermaßen, dessen Zwängen und Ungewissheiten, aber auch seinen Neuerungen, seiner Kreativität und seinen Freuden zu wiederzubegegnen. Gerade diese Polarität unseres Lebens und Denkens ist aktuell. Man findet sie bei Freud wieder. Freud ermöglicht uns, die inneren Konflikte zu verstehen, Bergson dagegen hilft uns, uns selbst wiederzuerlangen."
Archiv: Point

Internationale Politik (Deutschland), 01.01.2008

"Die Hochzeit des Stacheldrahts, der Mauern und Zäune hat erst richtig begonnen", greift nun auch Carlos Widmann das Thema der weltweit wachsenden Mauern auf. Zum Beispiel in Ceuta und Melilla, den beiden spanischen Exklaven an der Mittelmeerküste Marokkos: "Nur an diesen beiden Stellen grenzt das Hoheitsgebiet der Europäischen Union direkt an das Territorium eines afrikanischen Landes. Und das merkt man auch sofort, besonders nachts: Beleuchtungstürme tauchen den neun Kilometer langen Doppelzaun zwischen der spanischen Exklave und dem Königreich Marokko in diffuses, gelbes Licht. Die Zäune von Ceuta und Melilla, die mit EU-Zuschüssen von 60 Millionen Euro verbessert und zuletzt auf fast un-überwindliche sieben Meter erhöht wurden, sind von einem Dickicht aus schärfstem Stacheldraht überwachsen und gespickt mit gepanzerten Wachtürmen in freundlichem Weiß-Blau. Zweifellos eine Grenzsperre von DDR-Format, um nicht zu sagen: Weltniveau. Nur einen Schießbefehl gibt es nicht."

Weiteres: Christoph Reuter schätzt die Lage im Irak als nur oberflächlich befriedet ein. Christoph Bertram betrachtet die neue Ohnmacht der entzauberten Weltmacht USA. Und Bruno Schoch und Matthias Dembinski glauben nicht an eine rosige Zukunft eines unabhängigen Kosovos.

New York Times (USA), 14.01.2008

"Moralisch zu urteilen ist ein psychologischer Zustand, der an- und ausgeschaltet werden kann", erklärt der Psychologe Steven Pinker in einem ebenso unterhaltsamen wie lehrreichen Artikel im Magazin über die Funktionsweise der Moral. "Aber ob eine Handlung unsere mentalen Schalter in den moralische Modus setzt, richtet sich nicht nur danach, wieviel Schaden sie anrichtet. Einem Mann, der die Batterien seines Rauchmelders nicht auswechselt oder mit seiner Familie im Auto in den Urlaub fährt, zeigen wir unsere Missbilligung nicht, obwohl beides das Risiko eines tödlichen Unfalls erhöht. Einen spritfressenden Hummer zu fahren, ist verwerflich, nicht aber, einen spritfressenden alten Volvo. Einen BigMac zu essen ist verantwortungslos, aber nicht importierten Käse oder Creme brulee. Die Gründe für diesen doppelten Standard sind offensichtlich: Menschen neigen dazu, ihre moralische Anschauungen ihrem Lebensstil anzupassen."

In der Sunday Book Review empfiehlt Andrew Rosen Anthony Lewis' Buch "Freedom for the Thought That We Hate", einer Biografie des ersten amerikanischen Verfassungszusatzes, die den Mut vor allem der Richterschaft feiert, die freie Meinung auch dann zu schützen, wenn sie sehr weh tut. Timothy Noah liest Jacob Heilbrunns Studie über den Aufstieg der Neocons "They Knew They Were Rights". Und Liesl Schillinger liest Bernhard Schlinks und Paul Merciers nun ins Englische übersetzte Vergangenheitsbewältigungsromane "Die Heimkehr" und "Nachtzug nach Lissabon".
Archiv: New York Times