Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.02.2005. Die taz vermisst einen Aufstand der Anständigen nach dem "Ehrenmord" an einer türkischstämmigen Berlinerin. Die NZZ beklagt künstlerische Ermattung der Berliner Opernhäuser. Die Welt meldet, dass Imre Kertesz den Suhrkamp Verlag verlässt und wieder zu Rowohlt zurückkehrt. Die SZ beschreibt die Zuspitzung des Machtkampfs an der Mailänder Scala. Die FAZ fragt sich, warum die Polen plötzlich nach ihren Stasispitzeln suchen.

TAZ, 22.02.2005

Nach dem Mord an einer türkischstämmigen Berlinerin durch ihre Brüder begrüßt Martin Reichert in tazzwei, dass sich endlich Protest gegen diese angeblichen Ehrenmorde regt: "Würden Rechtsradikale eine 23-jährige Deutsche türkischer Herkunft auf offener Straße erschießen, wäre ganz schön was los. Wenn eine 23-jährige Deutsche türkischer Herkunft auf offener Straße von ihren eigenen Brüdern erschossen wird, ist nicht wirklich was los. Kein Aufstand der Anständigen, keine Sondersendung, keine Lichterketten: Die Reflexe engagierter Bürger versagen, auch weil das Täter-Opfer-Bild plötzlich schief hängt."

In einem Interview lotet Christiane Fetscher von der Friedrich Christian Flick Stiftung im Kulturteil Auftrag und Grenzen von deren Bestimmung aus, Jugendliche in den neuen Bundesländern vor dem Abgleiten in eine rechtsextreme Jugendszene zu bewahren. Gleichermaßen bescheiden wie realitätstüchtig befindet sie: "Der Staat hat immer weniger Mittel zur Verfügung, Stiftungen können zwar ausgleichend wirken. Aber in der Fläche gibt es dieses Beratungsangebot nicht, und wenn sich da ein Rechtsradikaler an die Spitze setzt und sagt: Okay, ich seh schick aus, ich mach einen guten Eindruck, ich fahr die Türen ab und biete eine konkrete Hilfe bei den Fragen, die den Leuten auf den Nägeln brennen, Arbeitslosigkeit, Wohngeld, dann sehen wir alt aus."

Weiteres: Henning Kober berichtet über den Streit um Terminal 5 des finnischen Architekten Eero Saarinen auf dem New Yorker Flughafen JFK, der zuletzt Schauplatz einer einminütigen Kunstausstellung gewesen ist. Christian Broecking stellt den "hippsten Club Europas" in Wien, das Birdland, vor. Auf den Tagesthemenseiten lesen wir einen Nachruf auf den Erfinder des so genannten Gonzo-Journalimus - "schnell, subjektiv, berauscht, böse" - Hunter S. Thompson. Der "Außenseiter, Waffennarr, Alkohol- und Drogenkonsument" hat sich, 67-jährig, auf seiner Farm in Colorado erschossen. (mehr hier und hier) Und in tazzwei erklärt Christian Semler die symbolische Bedeutung der Sicherheitsvorkehrungen für George W. Bushs Besuch in Europa.

Besprochen wird das "grandios gescheiterte" Projekt "Hans im Glück oder Das Theater der Ökonomie" in Freiburg nach Textvorlagen von sieben Autoren, darunter Moritz Rinke, Felicia Zeller, Tom Peuckert und Alexander Müller-Elmau.

Und hier Tom.

NZZ, 22.02.2005

"Was ist in Berlin nur mit der Oper los?" fragt Peter Hagmann nach dem Besuch von Monteverdis "Ulisse" und Janaceks "Totenhaus" und beantwortet sich die Frage selbst: gar nichts. "Die Haushalts- und Strukturkrise ist evident, von einer Lösung aber weit entfernt; und ob die neue Stiftung, welche die drei Häuser unter einem Dach zusammenfassen soll, mit Michael Schindhelm an der Spitze in der Lage sein wird, etwas in Bewegung zu setzen, steht in den Sternen. Die Lage ist darum bedauerlich, weil sie in hohem Maß Kräfte bindet und Energien zerstört - und das schlägt auf den einzelnen Abend durch. Vor allem in den beiden großen Häusern, der Staatsoper Unter den Linden mit Peter Mussbach als Intendanten und der seit dieser Saison von Kirsten Harms geleiteten Deutschen Oper in Charlottenburg, scheinen im Künstlerischen Ermattung und Resignation zu herrschen."

Roman Hollenstein singt ein Loblied auf den bedeutendsten ägyptischen Baukünstler Hassan Fathy, der die moderne Architektur mit der traditionellen ägyptischen Lehmbautechnik verband und dessen "Traumbilder der Architektur" derzeit im Frankfurter Architektur-Museum ausgestellt sind.

Besprochen werden ansonsten Johan Simons' Stück "Die Zehn Gebote" nach Krzysztof Kieslowski an den Münchner Kammerspielen sowie Bücher, darunter Orhan Pamuks (Porträt) Roman "Schnee", der jetzt auf Deutsch vorliegt, sowie ein Buch über Leibniz' "Theater der Natur und Kunst" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 22.02.2005

Der Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz wird den Suhrkampf Verlag verlassen und zu Rowohlt zurückkehren, meldet Manuel Brug. Dort wird auch sein autobiografisches Buch "Dossier K." erscheinen. Nach der "kapitalen Niederlage" mit Christoph Heins Roman "In seiner frühen Kindheit ein Garten" und dem "unausgegorenen" Opus "Kirillow" von Andreas Meier sei dies die dritte Pleite in Folge, meint Brug: "Wie gern würde man einmal positiv über die Entwicklungen im Hause Suhrkamp schreiben, zumal der charismatischen neuen Chefin, Ursula Unseld-Berkewicz, seit ihrem Amtsantritt nach dem Tod von Siegfried Unseld von vielen Kollegen unfair und hämisch mitgespielt wurde. Doch die Verhältnisse sind leider nicht danach."

FR, 22.02.2005

Michael Tetzlaff verabschiedet den amerikanischen Journalisten, Schriftstellers und Gesellschaftskritikers Hunter Stockton Thompson, den Erfinder des "Gonzo-Journalismus". Die stilprägende Mischung aus Fakten und subjektiver Sicht begründete er in einem Interview mit dem Playboy: "Ich hatte mir das Hirn ausgeblasen, ich konnte nicht arbeiten. Also begann ich, Seiten aus meinem Notizbuch zu reißen, sie zu nummerieren und schickte sie dem Redakteur. Ich war mir sicher, dass es der letzte Artikel war, den ich je für jemanden gemacht hatte." Tetzlaff hält fest: "Thompsons Notizen erschienen unter der Überschrift ,Das Kentucky Derby ist dekadent und entartet? - und es war mitnichten sein letzter Artikel."

Weiteres: Michael Rüsenberg informiert über die Karlsruher Tagung des ZKM "trans_canada" über akusmatische Musik, worunter ein "Subgenre" elektronischer Musik aus Kanada zu verstehen ist. Und in Times mager geißelt Markus Brauck den Papst für seinen Vergleich von Holocaust und Abtreibung in dessen jüngstem Buch "Erinnerung und Identität - Gespräche an der Schwelle zwischen den Jahrtausenden".

Ansonsten heute großes Besprechungs-Feuilleton. Gewürdigt werden die buchstäbliche Schlammschlacht des spanischen Künstlers Santiago Sierra in der Kestnergesellschaft Hannover, die "mitreißenden" Choreografien der drei jungen Choreografen Matjash Mrozewski, Marc Spradling und Marco Goecke am Stuttgarter Staatstheater, der "Triumph" von Michael Maertens in der Inszenierung von Oscar Wildes "Bunburry" nach der Übersetzung von Elfriede Jelinek am Akademietheater Wien, sowie zwei Opernpremieren in Berlin: Volker Schlöndorff inszenierte an der Deutschen Oper Janaceks "Aus einem Totenhaus" und Sasha Waltz an der Staatsoper Unter den Linden die "Semi-Opera" "Dido und Äneas" von Henry Purcell.

Besprochen werden schließlich Bücher, darunter ein Band mit 33 Erlebnisberichten ausländischer Autoren in Nazideutschland und der vierte Band einer Schriftenreihe des Kulturwissenschaftlers Stuart Hall (mehr) zu den Themen Repräsentation und Multikulturalismus (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 22.02.2005

Henning Klüver berichtet knapp und spannend über die Zuspitzung des Machtkampfes an der Mailänder Scala. Aufdröseln lässt sich das hier nicht, nur das Personal wollen wir kurz vorstellen. Es spielen mit: ein weltberühmter Dirigent, zwei Intendanten, ein Richter, der ein Privatdossier über einen der Intendanten angelegt hat, eine zwielichtige Künstler-Agentur, Mailands Bürgermeister Gabriele Albertini, ein Manager von Pirelli und natürlich Berlusconi und seine Forza Italia. Fehlt nur noch eine Leiche.

In seinem Nachruf auf Hunter S. Thompson würdigt Willi Winkler den Erfinder des Gonzo-Journalismus als "unerreichtes Vorbild" und hebt das Glas auf ihn: "Niemand hat so beharrlich und so siegesgewiss den steinigen Weg der Politikverachtung beschritten. Ein Weg, der schnurstracks in die ewige Seeligkeit führt."

Weiteres: Andrian Kreye berichtet über die zunehmende satirische Ausschlachtung des Gate-Projekts von Christo und Jean-Claude in New York. Thomas Steinfeld bezweifelt die Übertragungsfähigkeit des vom SSW für Schleswig-Holstein befürworteten Gesamtschulmodells skandinavischer Prägung auf die deutsche Gesellschaft. Volker Breidenbecker beschreibt, wie die Sicherheitsvorkehrungen für den Besuch von George W. Bush in Mainz eine ganze Region lahm legen. In der "Zwischenzeit" betreibt Wolfgang Schreiber nach eigenen Angaben eine "feuilletonistische Endauswertung der Publikumsbefragung in Sachen tote Sprache". alex räsoniert über Auktionserlöse von Musikerdevotionalien. Zu lesen ist schließlich ein kurzer Nachruf auf Hollywoods "ewigen Teenager" Sandra Dee.

Besprochen werden das neue Album "Nahaufnahme" von Marius Müller-Westernhagen ("Prima. Gut. Völlig in Ordnung. Streckenweise, nein meistens, etwas zäh, etwas nullig", findet Joachim Lottmann), das Autorenprojekt "Hans im Glück oder Das Theater der Ökonomie" am Freiburger Theater, Katharina Wagners Inszenierung von Lortzings "Waffenschmied" am Münchner Gärtnerplatztheater ("Der Abend ... scheitert, weil die Umsetzung der plumpen Grundthese ästhetisch ähnlich plump vorgenommen wird", schreibt Reinhard J. Brembeck), eine Ausstellung über italienische "Aeropittura" in der Estorick Collection in London und das "herzzerreißende" Kinostück "Das Haus aus Sand und Nebel" von Vadim Perelman mit Ben Kingsley.

Außerdem Bücher, darunter Chang-rae Lees Roman "Turbulenzen", eine Studie über die Grabkapelle für Bartolomeo Colleoni in Bergamo, George W. Bushs derzeitiges Reisegepäck, die "Freiheitsfibel" von Natan Sharansky "The Case for Democracy. Power of Freedom to Overcome Tyranny and Terror", eine Untersuchung über "alliierte Militärmissionen in Deutschland" und eine Studie über CIA und KGB in den letzten Tagen des Kalten Krieges. (siehe dazu unsere Bücherschau ab 14 Uhr)

FAZ, 22.02.2005

Konrad Schuller stellt sich ein historisches Rätsel. Warum stürmen die Polen, nachdem sie längst einen Schlussstrich unter die kommunistische Vergangenheit gezogen hatten, plötzlich das "Institut der Nationalen Erinnerung", um herauszufinden, ob sie vor 1989 bespitzelt wurden? Einerseits hat es mit der im Internet veröffentlichten "Wildstein-Liste" zu tun, die ehemalige Spitzel (aber auch nur "Angefragte") aufführt. Andererseits erkennt Schuller in diesem neuen Interesse eine zweite Phase der Demokratisierung, die sich in Zweifeln an den neuen Eliten äußert: "Die Arrangements der Wende haben sich aufgebraucht, die zweite Welle der Demokratisierung steht an. Der Bazillus ist von Serbien über Georgien in die Ukraine gewandert, und überall ging es darum, den Oligarchenfilz der wieder fett gewordenen Funktionäre loszuwerden. Ein solche zweite Welle kündigt sich jetzt auch in Polen an."

Michael Carlo Klepsch zitiert unbekannte Dokumente aus dem Nachlass des Verlegers Peter Suhrkamp, der während der Nazizeit den Fischer-Verlag leitete und dem Widerstand des 20. Juli nahestand. Er erklärte nach dem Krieg, dass seine Rettung aus dem KZ allein Arno Breker zu verdanken sei: "'Ich verdanke Arno Breker mein Leben', hieß es in einer eidesstattlichen Erklärung des Verlegers an die Spruchkammer Donauwörth vom 21.August 1946, die sich in den Entnazifizierungsakten Arno Brekers im Staatsarchiv München findet: 'Die befohlene Exekution an mir wurde nicht vollzogen, weil Breker nicht abließ, jede Phase in dem Verfahren gegen mich bei den höchsten Parteistellen, bei Himmler und Kaltenbrunner selbst, zu kritisieren.'"

Weitere Artikel: Lorenz Jäger zitiert aus einem Interview, das Rolf Hochhuth der rechten Zeitschrift Junge Freiheit gab und wo er den Holocaustleugnenden Historiker David Irving in höchsten Tönen lobt. Aufmacher ist die erste Lektion von Herwig Birgs "Grundkurs Demografie" über die Alterung der deutschen Gesellschaft. Andreas Platthaus notiert, was er beim Fernsehabend von den Landtagswahlen in Kiel erlebte. Das gleiche tun Edo Reents in der Leitglosse und Michael Hanfeld auf der Medienseite. Joachim Nettelbeck, Generalsekretär des Wissenschaftskollegs zu Berlin, plädiert für das Genre der Regionalwissenschaften, die im Zeitalter der Globalisierung Aufschluss über ferne Kulturen geben sollen. Jordan Mejias schreibt zum Tod des Journalisten Hunter S. Thompson. Und Michael Althen würdigt die Schauspielerin Sandra Dee, die im Alter von 62 Jahren gestorben ist.

Auf der Medienseite schildert Nina Rehfeld, wie der CNN-Journalist Eason Jordan von rechten Bloggern verfolgt wurde, weil er unterstellte, dass die amerikanische Armee Mitschuld am Tod einiger Journalisten im Irak trug. Und Michael Hanfeld empfiehlt den Fernsehfilm "Kein Himmel über Afrika" mit Veronica Ferres, der morgen in der ARD läuft.

Auf der letzten Seite liest Tilman Spreckelsen einige Romane James Fenimore Coopers, die in Deutschland spielen und sich mit dem "Alten Europa" im Gegensatz zum modernen Amerika auseinandersetzen. Und Gerhard Stadelmaier berichtet, dass Peter Zadek mit seinen achtzig Jahren eine unabhängige Theatergesellschaft ("My way productions") gründet, um eigenständige und sich selbst tragende Produktionen auf die Bühne zu bringen.

Besprochen werden Albert Lortzings Komische Oper "Der Waffenschmied" in der Regie der designierten Bayreuth-Nachfolgerin Katharina Wagner (die laut Julia Spinola das Kunststück fertigbringen muss "bieder und revolutionär zugleich" zu sein, um ihre Qualifikation für den Grünen Hügel zu erweisen), ein Konzert der Sängerin Milva in Frankfurt, Vadim Perelmans Film "Haus aus Sand und Nebel", ein "Wozzeck" in Tel Aviv und Iwan Wyrypajews Stück "Sauerstoff" in Dresden.