Magazinrundschau

Nicht einmal primär sexuell

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
15.12.2009. Vanity Fair sucht den Superpartner. Elet es Irodalom liest neue Essays von Imre Kertesz. Outlook India beklagt die Korruption im Journalismus. Der New Yorker liest eine neue Koestler-Biografie. Die nächste Revolution bricht in Frankreich aus, glaubt Nepszabadsag. Der Spectator begegnet auf einer Kostümparty einer Vagina dentata. In The New Republic feiert Moshe Halberthal die sublime Bescheidenheit Amartya Sens.

Vanity Fair (USA), 01.01.2010

Kurt Andersen hat das Genfer CERN besucht, sich genau erklären lassen, wie es im vorigen Jahr zum Crash des Large Hadron Colliders kam und was alles von dieser größten Maschine der Welt abhängt: "Wenn dieser neue Collider nicht grundlegend neue Entdeckungen bringt, wird die Teilchenphysik für die nächste Generation in einer Sackgasse stecken. Die Theoretiker würden weiter theoretisieren. Aber ohne verlässliche experimentelle Daten, sagt Jim Virdee, ein in Kenia geborener britisch-indischer Physiker am LHC, 'wird aus der ganzen Teilchenphysik Metaphysik'... Abgesehen von der Entdeckung der Higgs-Teilchen bestehen die besten Chancen eines Eurekas für die Entdeckung der Supersymmetrie. 'Wir haben eine Religion', bekennt der amerikanische Physiker und Cern-Lebenslängliche Steven Goldfarb, 'und das ist die Symmetrie.' Wie Yin und Yang, Christ und Antichrist zusammengehören, so hat auch die Materie ihre Antimaterie, und sie löschen sich bei Kontakt aus - gemäß den Prinzipien der Symmetrie hätten sich beim Urknall Materie und Antimaterie gegenseitig aufheben müssen. Dies ist nicht nur nicht passiert, 14 Milliarden Jahre später gibt es auch viel mehr Materie im Universum als Antimaterie. Dieses mysteriöse Ungleichgewicht muss erklärt werden, und dies geht am besten mit Supersymmetrie, der Idee, dass es für jedes bekannte Teilchen einen noch nicht entdeckten Superpartner gibt - und dass die dunkle Materie aus diesen Superpartnern besteht. Die Chancen stehen gut, dass die Protonen-Kollisionen einige dieser Ur-Teilchen erzeugen werden - vielleicht nächstes Jahr, sagt Jim Virdee, 'wenn die Natur es gut meint'."

Heillos genervt zeigt sich Christopher Hitchens von Stieg Larrsons Thriller-Trilogie, die sich feministisch gerieren und dabei gerade die Gewalt gegen Frauen extrem sadistisch ausmalen: "Seine beste Ausrede für seine eigene Lüsternheit ist, dass diese Serienmörder und Folterfreunde irgendeine Art Kapitalismus praktizieren und dass ihre Gaunereien von einer pornografisch-faschistischen Allianz gedeckt werden, wobei die niederen Ränge von widerlichen Bikern und Drogendealern besetzt sind. Hier geht es nicht um Sex and Crime, hier geht es um Politk!"
Archiv: Vanity Fair

Elet es Irodalom (Ungarn), 04.12.2009

Kürzlich ist in Ungarn "A megfogalmazas kalandja" (Das Abenteuer der Formulierung) erschienen, der neue Essayband von Imre Kertesz, über den der Schriftsteller Csaba Bathori schreibt: Kertesz' "Denken steuert unser Denken in die Richtung von Schlussfolgerungen, an deren geistigen Mut wir uns noch nicht gewöhnt haben. Aufgrund fehlender nationaler Selbstkritik verharrt unser öffentliches Denken bis heute in dem Irrglauben, dass öffentliche Selbstkritik schädlich und unmoralisch ist. Dabei sind es in größeren Kulturkreisen vielleicht gerade die widerspenstigen Autoren, die durch ihr hartnäckiges Zweifeln die Trugbilder ihrer Nation ändern und die Schnörkel des hochmütigen, pathetischen Nationalbewusstseins zurechtstutzen. [...] Wozu uns die Essays von Imre Kertesz vor allem ermahnen: Wir sollten unsere nationale Identität im Lichte der europäischen Erfahrung betrachten und unsere gesamte Wahrnehmung aus dem Aspekt einer breiter gefassten Menschlichkeit abwägen, ändern und vor allem auf eine höhere Stufe heben."

Qantara (Deutschland), 12.12.2009

"Wem soll man die Schuld dafür geben", dass die Schweizer gegen Minarette gestimmt haben, fragt Tariq Ramadan. "Ich sage den Muslimen seit Jahren, dass sie in ihren jeweiligen westlichen Gesellschaften positiv in Erscheinung treten, aktiv sein und Initiative zeigen müssen. In der Schweiz haben sich die Muslime in den zurückliegenden Monaten bemüht, im Verborgenen zu bleiben, um eine Konfrontation zu vermeiden. Es wäre sinnvoller gewesen, neue Allianzen mit all jenen Schweizer Organisationen und Parteien zu schmieden, die gegen die Initiative waren. Die Muslime in der Schweiz tragen also einen Teil der Verantwortung, doch muss man hinzufügen, dass sich die politischen Parteien in Europa wie in der Schweiz haben einschüchtern lassen und vor einer couragierten Politik zugunsten eines religiösen und kulturellen Pluralismus zurückscheuen."

Die Kuratorin Almut Sh. Bruckstein Coruh erklärt im Interview, was in der Ausstellung "Taswir - Islamische Bildwelten und Moderne" im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen ist: Keine Geschichte der islamischen Kunst, gezeigt wird vielmehr "eine poetische Assoziation von künstlerischen Positionen, klassischen wie zeitgenössischen, die nach gewissen Fragen geordnet sind. Es sind die Fragen - zum Beispiel die nach der Zeichnung als einer Spur des Abwesenden -, die eine persische Miniatur zu den Sandalen des Propheten aus dem 16. Jahrhundert mit der Arbeit einer Rebecca Horn 'Waiting for Absence' verbinden. Es sind Zeit- und ortsübergreifende Fragen, man könnte sagen: menschliche Fragen - Fragen, die Aby Warburg vielleicht 'Pathosformeln' genannt hätte."
Archiv: Qantara

Outlook India (Indien), 20.12.2009

Medienkrise auch in Indien. Vinod Mehta ist sehr besorgt, denn immer öfter wird redaktioneller Raum verkauft. "Das System institutionalisiert sich schnell, Fernsehsender und Zeitungen nähern sich Politikern, vor allem während der Wahlen, mit einem 'Paket', dass interessanterweise verhandelbar ist. (...) Outlook (wie andere auch) steckt bis zum Hals in diesem Schlamassel. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, ist das Outlook-Feature 'Spotlight' gesponsort, der Kunde hatte prakisch volle redaktionelle Kontrolle. Der einzige ausgleichende Aspekt daran ist, dass der Leser das leicht bemerkt, weil es auf der Seite deutlich hervorgehoben ist. Bei gekauften Nachrichten ist das nicht der Fall. Dahinter steckt die Absicht, gesponsorte Nachrichten als professionell erstellte Nachrichten auszugeben."

Anuradha Raman belegt diesen Trend mit Beispielen aus verschiedenen Zeitungen und Fernsehsendern. So erzählt beispielsweise ein Politiker, dass während eines Wahlkampfs in seinem Bezirk praktisch keine Information über seine Kandidatur in der Presse stand. Er rief bei einer Zeitung in seinem Bezirk an und wurde "'höflich darüber informiert, dass ich auch Platz bekommen würde, wenn ich wie die anderen Kandidaten dafür bezahle', erinnert er sich. 'Ich befürchtete, dass die Leser nicht einmal bemerken würden, dass ich kandidiere. Also rief ich einen Reporter an und zahlte 50.000 Rs. Ich wurde prompt belohnt mit drei halbseitigen farbigen Features an drei aufeinanderfolgenden Tagen, die meinen Wert als Politiker und meine guten Aussichten, die Wahl zu gewinnen, hervorhoben.'"
Archiv: Outlook India
Stichwörter: Medienkrise

Polityka (Polen), 11.12.2009

Eine junge Generation von Schriftstellern und Filmemachern erzählt die Geschichte vom Leben im Kommunismus neu: Die "weihevollen Regeln des Martyriums" werden verworfen, es gibt keine Helden und keine Bösewichter mehr, man sucht den Anschluss an das moderne amerikanische Kino, berichtet Zdzislaw Pietrasik. "'In Polen hat man sich daran gewöhnt, dass jeder historische Film unterschwellig gleich ein Nationalepos sein muss', sagt [der Animationsfilmer Tomasz] Baginski in einem Interview für die Zeitschrift Film. 'Ich träume von einem historischen Film, in dem die Geschichte nebensächlich ist, von einem modernen und eindrucksvollen Film. Denn wen interessiert es denn heute, wenn sich krankhaft an Fakten gehalten wird? Man darf den Zuschauer nicht wie einen Banausen behandeln. Wenn ihm Informationen fehlen, dann holt er sie sich, liest nach. Im Kino aber werden Emotionen gemacht.' Das kann man beinahe als Manifest der jungen polnischen Künstler verstehen, die auf der Suche nach historischen Themen sind.
Archiv: Polityka

New Yorker (USA), 28.12.2009

Louis Menand ist schwer beeindruckt von Michael Scammells 720 Seiten fetter Koestler-Biografie. "Allein die Karteikarten zu sortieren, wäre auch für Herkules eine Herausforderung gewesen, wenn Herkules hätte lesen können", meint er angesichts von Koestlers Vielsprachigkeit, Polyglottheit und Vernetztheit. "'Koestler' wirkt wie ein Wunder an Recherche in vielen Sprachen und ein gewissenhaftes Stück unvoreingenommener Verteidigung." Zwei Probleme allerdings merke man dem Buch an. "Um Koestler biografisch zu erfassen, muss man nicht nur die Vielzahl der Personen und internen Details der organisatorischen Intrigen beschreiben, die diese Buch bewundernswert methodisch füllen, man muss auch ein Gefühl für die Geschichte haben, das moralische und ideologische Wetter, den existenziellen Anteil. Es gibt zwei Schwierigkeiten. Die erste ist die Anforderungen, die das Material an die Erzähltechnik stellt. Scammell ist ein klar schreibender Autor, aber kein dramatischer. Koestler war beides in herausragender Hinsicht. Und das ist die zweite Schwierigkeit: Der beste Biograf der ersten Hälfte, der abenteuerlichen Hälfte von Koestlers Leben ist Koestler. Scammell ist oft in der unglücklichen Positition, Ereignisse beschreiben zu müssen, über die Koestler selbst brillant und packend geschrieben hat."

Außerdem: Evan Osnos schildert die Anstrengungen Chinas, die Führung in der Energietechnologie zu übernehmen und ein Crash-Programm für saubere Energie aufzulegen. Peter Schjeldahl führt durch eine Ausstellung von Gabriel Orozco im MoMA. Und Anthony Lane sah im Kino das Musical "Nine" von Rob Marshall, das auf Fellinis Film "8 ½ " basiert, den Fantasyfilm "The Imaginarium of Dr. Parnassus" von Terry Gilliam, den britischen Kostümfilm "The Young Victoria" von Jean-Marc Vallee und das Regiedebüt "A Single Man" des ehemaligen Modedesigners Tom Ford.

Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Diary of an Interesting Year" von Helen Simpson und Lyrik von Bill Manhire, Roger Angell und Jonathan Aaron.
Archiv: New Yorker

London Review of Books (UK), 17.12.2009

Taylor Branch hat fast ein Jahrzehnt lang immer wieder Gespräche mit dem Präsidenten (dann Ex-Präsidenten) Bill Clinton geführt. Die Transkripte sind noch unter Verschluss, aus seinen eigenen Aufzeichnungen rekonstruiert Branch in seinem nun erschienenen 700-Seiten-Buch "The Clinton Tapes" jetzt die Begegnungen. Für den Rezensenten David Runciman ergibt sich daraus das faszinierende und nicht unbedingt schmeichelhafte Bild eines informationssüchtigen und in vieler Hinsicht - nicht einmal primär sexuell - promisken Mannes mit gelegentlich obsessiven Zügen: "Er liebt es, wenn Leute ihm ihre Lebensgeschichten erzählen, und liebt es ebenso, über ihre tieferen Gefühle zu spekulieren, wie ihr demografisches Profil zu analysieren. Er möchte wissen, wie du tickst, egal wer du bist und woher du kommst. Warum trinkt Boris Jelzin so viel? (Bei einem denkwürdigen Besuch im Weißen Haus endet Jelzin in Unterhosen auf der Pennsylvania Avenue und versucht ein Taxi herauszuwinken, das ihn in eine Pizzeria fahren soll.) Clinton überlegt, Jelzin zu einem vertraulichen, ja vielleicht sogar therapeutischen Gespräch zu sich zu rufen. Man gewinnt den Eindruck, dass er nichts lieber täte, als Jelzins Kindheit zu durchforsten, Ursachen zu finden, und die Geschichten über die Trunksüchtigen in Arkansas zu erzählen, darunter sein eigener Stiefvater."

Nepszabadsag (Ungarn), 12.12.2009

Für Gabor Balazs ist Frankreich das Beispiel für den Zerfall der Sozialdemokratie und die daraus entstehenden Sumpfblüten der Ultra-LInken: "Die Ultra-Linke erscheint stets nach den großen Niederlagen und der ideologischen Entleerung der Linken beziehungsweise der institutionellen Arbeiterbewegung, wenn nicht nur die Ohnmacht des Reformflügels der Bewegung zu Tage tritt, sondern auch die der 'klassischen' Sozialisten, die auf den Fortbestand des Sozialstaats beharren (und ihre Ziele ausschließlich mit politschen Mitteln verwirklichen wollen)." Gänzlich abgewandt hätten sich die Ultra-Linken von der Arbeiterbewegung. Sie wurde "von einer Schar Plebejer abgelöst, die sich derzeit noch in einem recht diffusen Zustand befindet und die wirklich nichts außer ihrer Ketten zu verlieren hat. Noch ist es ruhig am Horizont, das Geräusch der Ultra-Linken, der 'handelnden Minderheit' ist noch kaum zu hören. Aber auch den Bund der Kommunisten bildeten nur einige Dutzend Menschen, die dann ein Manifest veröffentlichten..."
Archiv: Nepszabadsag

Prospect (UK), 14.12.2009

Alle Welt sieht das Internet im Bund mit den Dissidenten der Welt, nicht den Diktatoren. Evgeny Morozov ist da in der Prospect-Titelgeschichte (die jetzt online gestellt wurde) ganz anderer Ansicht. Nach seinen Erfahrungen in Weißrussland spielt das Internet sehr viel eher dem Regime in die Hände: "Nach dem ersten Flash Mob begannen die zuständigen Stellen By_mob zu beobachten, die LiveJournal-Community, in der die Aktivitäten angekündigt wurden. Die Polizei war dann sofort präsent bei den Ereignissen, oft sogar noch vor den Flashmobbern. Sie verhaftete Teilnehmer und fotografiert außerdem. Diese Fotos - gemeinsam mit denen, die die Protestierenden selbst ins Netz gestellt hatten - nutzten sie zur Identifizierung der Unruhestifter, die in der Folge vom KGB verhört, mit dem Ausschluss von der Universität oder Schlimmerem bedroht wurden."

Morozovs Artikel bleibt freilich nicht unwidersprochen. Der von Morozov ausdrücklich angegriffene "Medienguru" Clay Shirky akzeptiert zwar den Vorwurf der Einseitigkeit, möchte aber doch festhalten: "Je leichter es den Bürgern wird, sich zusammenzutun, desto einfacher wird es für sie, Untaten zu dokumentieren. Und das selbstschädigende Verhalten von Staaten - etwa das Abschalten der Handynetze - wird zu einem Nettogewinn für die Aufständischen innerhalb autoritärer Regime führen. Das heißt noch lange nicht, dass das Internet allein ausreicht - ich sehe deshalb dennoch die Balance zwischen Bürgern und Staat deutlich optimistischer als Morozov."
Archiv: Prospect

Rue89 (Frankreich), 12.12.2009

Im Online-Magazin regt sich Jerome Godard sehr amüsant über die Verschwendung französischer Steuergelder auf, die in diesem Fall in Form einer dämlichen Meinungsumfrage zum Fenster rausgeworfen wurden. Das nationale Agrarforschungsinstitut Inra interessierte sich demnach für die Beurteilung der Herkunft von Garnelen, dafür versuchte man mit einiger Penetranz, das ökologische Gewissen der Probanden zu mobilisieren, und nervte sie mit einem ebenso "tendenziösen wie nutzlosen" Fragebogen, der auf Nachfrage aber immerhin "europäischen Normen" entsprach. Godards Fazit: "Ich bin nicht stolz darauf, mich zum Komplizen dieses erbärmlichen Mummenschanzes gemacht zu haben. Die 15 Euro dafür behalte ich trotzdem. Ich werde mir davon Garnelen aus der Dritten Welt kaufen, die von umweltverpestenden Garnelenhändlern unter empörenden und entwürdigenden Bedingungen gezüchtet wurden. Und mit dem Geld von Inra könnte ich mir als Dreingabe sogar einen Klacks Mayonnaise leisten."
Archiv: Rue89

Spectator (UK), 12.12.2009

Leah McLaren war noch nicht lange in London, als sie auf eine Party eingeladen wurde. Bedingung: ausgefallene Kleidung. Für die Kanadierin bedeutete das ein schickes Cocktailkleid. An der Haustür des Gastgebers erlebte sie dann einen Clash of Civilizations aus nächster Nähe, als eine Frau öffnete, deren bloße Brüste als Zielscheibe dekoriert waren. "Als ich mich wieder gefangen hatte, schaffte ich es tatsächlich, mich auf der Party zu amüsieren, obwohl ich mich wie eine Schuldirektorin in Sodom und Gomorrha fühlte. Der Abend, der von Kunst- und Medientypen aus dem Westen Londons bevölkert war, sprudelte über vor Nazis, Dominas, Pornstars, unzähligen Männer in Drag-Outfit, Frauen in Reizwäsche, einem Model mit Bikini und Jesusbart und einem Pärchen (es zu erklären, wäre zu kompliziert), das sich gemeinsam als 'Vagina dentata' verkleidet hatte. Es war ein Mordsspaß. Es wurde schnell klar, dass das Gebot zur 'ausgefallenen' Kleidung von allen mit größtem Aufwand befolgt wurde, abgesehen von mir, der tumben Kanadierin. Denn wie schon A. A. Gill sagt: 'Ausgefallene-Kleider-Parties sind im Gegensatz zu emotionaler Offenheit, Kinderbetreuung und Pediküren eine jener inkonsequenten und nebulösen kleinen Sachen, denen sich der Engländer mit einer unendlichen, verbissenen, Alles-oder-Nichts-Attitüde widmet.' Die Frage ist: warum?"
Archiv: Spectator

Espresso (Italien), 11.12.2009

In Italien geht es hoch her, Umberto Eco muss gar nichts mehr erfinden, um seine Bustina di Minerva zu füllen. Silvio Berlusconi wurde mit einer Miniaturausgabe des Mailänder Doms die Nase gebrochen, während sein Minister für öffentliche Verwaltung, Renato Brunetta, allen Moderatoren der öffentlich-rechtlichen Sender künftig nur noch ein Einheitsgehalt bezahlen will. Eco erinnert das an Stalin, Lenin und Pol Pot gleichzeitig. Was würde passieren? "Die Rai würde alle gleich bezahlen und natürlich würde der Sender auf Grund laufen. Mit den abgewürgten Gehältern bei Rai könnte auch Mediaset seine Löhne senken, dabei aber immer noch einen ausreichenden Abstand einhalten, damit keiner der besseren Moderatoren in die Versuchung gerät, zu Rai zu wechseln. Die erfolgreicheren Moderatoren von Rai dagegen haben allen Grund, mit wehenden Fahnen zu Mediaset überzulaufen. Bei der Rai bleiben nur die weniger beliebten. Und genau an diesem Punkt würde ich, falls ich Berlusconiu wäre, Brunetta seine Datscha spendieren, denn sein Plan zur Vernichtung von Rai ist bewundernswert und und virtuos. Ach was, zwei Datschen!"
Archiv: Espresso

Nouvel Observateur (Frankreich), 10.12.2009

In einem Interview spricht die in den USA lehrende iranische Literaturwissenschaftlerin Azar Nafisi ("Lolita lesen in Teheran"), deren Familienerinnerungen "Memoires captives" jetzt in Frankreich erscheinen, über den Kampf von Jugendlichen und Intellektuellen gegen die islamistische Diktatur. "Wir haben im Iran die religiöse Tradition des ketman, das ist das Recht zu lügen, um seinen wahren Glauben zu schützen, sobald er bedroht ist. Das hat eine außergewöhnlich erstickende Atmosphäre geschaffen. Die Schriftsteller dagegen lügen nicht ... Im Iran gibt es neben einer sehr dunklen Seite, einer hasserfüllten Gewalt der Ultras gegenüber dem Volk, auch eine helle, aufgeklärte. Die verkörpern Millionen junger Menschen, die mit unglaublicher Willenskraft zu einer Welt gehören wollen, die man ihnen verbieten will. Dafür setzten sie alle Waffen ein: Poesie, Humor, Literatur. Die Kultur, auch die von anderswo, ist eine Droge geworden. Der Wissensdurst ist unstillbar."

Zu lesen ist außerdem ein Gespräch mit dem albanischen Schriftsteller Ismail Kadare über den Stalinismus in seiner alten Heimat, Obama und den Nobelpreis, für den er so oft nominiert war, den er bisher aber nie bekam.

New Republic (USA), 12.12.2009

Als "magnificent book" feiert der Philosoph Moshe Halberthal das neue Werk des sehr produktiven Ökonomen und Philosophen Amartya Sen mit dem zunächst recht unbescheiden klingenden Titel "The Idea of Justice" (Auszug). Aber Bescheidenheit, so Halberthal, ist gerade die sublimste Eigenschaft von Sens Werk, das offensichtlich recht deutlich zeigt, dass jede abstrakte Theorie der Gerechtigkeit, und sei sie nur wie bei John Rawls als Denkmodell gedacht, ein Irrweg ist. Sen plädiert für ein pragmatisches Denken: "Nach Sen sollte sich ein durchdachtes und vernünftiges Nachdenken über Gerechtigkeit auf einen ergebnisorientierten komparativen Ansatz konzentrieren, einen Vergleich verschiedener Bedingungen, statt philosophische Bedingungen für eine vollkommen gerechte Welt zu formulieren. Es ist leicht für uns festzustellen, dass eine Gesellschaft, die Sklaverei verbietet, gerechter ist als eine Gesellschaft, die sie gestattet. Solch ein einfacher Vergleich ist möglich ohne eine vollständig ausformulierte Theorie perfekter Gerechtigkeit. Denn Ungerechtigkeiten sind leichter zu definieren als Bedingungen vollkommener Gerechtigkeit."
Archiv: New Republic