Spätaffäre - Archiv

Für Sinn und Verstand

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Spätaffäre vom 23.04.2014 - Für Sinn und Verstand

Elf Jahre nach dem Zweiten Irakkrieg und knapp drei Jahre, nachdem die letzten US-Truppen abzogen, zeichnet Dexter Filkins im New Yorker ein düsteres Bild der gegenwärtigen Lage im Land. Nicht nur sieht die Infrastruktur im Land aus, als seien die Amerikaner nie dagewesen, auch religiösen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind heftig wie eh und je und erhalten durch die überwiegend schiitische Regierung von Premier Nuri al-Maliki neuen Zunder. Und der islamistische Extremismus kocht gerade hoch. Droht ein neuer Bürgerkrieg? "Die Auferstehung der Schiiten ist die größte Hinterlassenschaft der amerikanischen Invasion. Sie hat die sunnitische Herrschaft durch eine schiitische ersetzt, erstmals seit dem 18. Jahrhundert. Acht Jahre nach Malikis Amtseinführung spüren die Iraker die Konsequenzen. Die Grüne Zone vermittelt noch immer das Gefühl einer anderen Welt - ein friedlicher, gepflegter Posten in einem Dschungel aus Problemen, eine Bastion schiitischer Macht, durchkreuzt von zornigen Sunniten. Politiker hasten von einem Meeting zum nächsten, aber verlassen fast nie die Zone. Als ich einen Parmalentarier zum Kaffee treffen möchte, winkt er ab. Er will die Grüne Zone lieber nicht verlassen." Ryan Crocker, ehemaliger US-Diplomat in Bagdad und jetziger Botschafter in Afghanistan fasst es so zusammen: "Der Staat mit Verfassung, Wahlen etc., den wir geschaffen haben, funktioniert nicht ohne uns."

Außerdem: Louis Menand bespricht Adam Begleys biografischen Essay über John Updike. Und Alex Ross schreibt über zwei Liederzyklen der australischen Komponistin Liza Lim.

Die neue Ausgabe des britischen Literaturmagazins Granta ist Japan gewidmet. Online lesen dürfen wir eine Geschichte von Eric Ozawa über einen Mann, dessen Frau einem Mord (oder einer Entführung? So ganz wird das nicht klar) zum Opfer fällt. Kennengelernt haben sie sich in einem französischen Café in Tokio, dem Aux Bacchanales. Dort beginnt die Geschichte: "Das erste Mal sah ich Noémi an der Bar des Aux Bacchanales stehen. Den Ort selbst gibt es nicht mehr: das Gebäude in Harajuku wurde abgerissen und ein beinahe identisches französisches Café in einem anderen Teil von Tokio rekonstruiert. Es gibt mehr davon in Japan, alle mehr oder weniger gleich. In jenen Tagen wurde die Uniformen der Kellner aus Paris importiert, die Köche hatten in Lyon gelernt und die Kickertische waren in einem Bistro in Marseille gekauft worden. Noémi sagte, dass die Akzente der Kellner unberechenbar seien, aber sonst war der Ort eine fast perfekte Imitation des Originals. Viele der Stammgäste waren Franzosen. Die anderen waren zum größten Teil japanische Frauen, die Frankreich liebten. Der Ort hatte nichts dionysisches, nichts war irrational oder mystisch, außer dieser einvernehmlichen Lust, sich exotisch zu finden."

Online lesen kann man außerdem zwei Texte, von Tash Aw und von Rana Dasgupta, über einen Gegenstand aus Japan, den sie besitzen.

Spätaffäre vom 22.04.2014 - Für Sinn und Verstand

Höchst aktuell liest sich Pádraig Murphys gelehrter, aber gut zu lesender Hintergrundartikel in der Dublin Review of Books zur Geschichte des russischen Expansionsstrebens, des Panslawismus und des Eurasismus, als dessen heutigen Ideologen er Alexander Geljewitsch Dugin benennt, der schon bei mancher Reise im Tross Putins mitreiste. "Dugin ist ein Anhänger Sir Halford Mackinders (1861-1947), also jenes Geopolitikers, der den Begriff des 'Heartlands' oder der 'Welt-Insel' einführte, worunter er die eurasische Landmasse verstand: 'Wer über die Welt-Insel herrscht, herrscht über die Welt.' Er kontrastierte diesen Begriff mit dem 'Seeland', also mit jenen geopolitischen Sektoren, die von Seemächten wie Großbritannien und später den USA beherrscht wurden. Dugin sieht Russland als Beherrscher des 'Herzlandes' und benutzt diesen Begriff fortwährend. Er greift dabei stets auf die Slawophilen zurück, die seiner Ansicht nach stets einen Begriff des 'Herzlandes' hatten, anders als die Westler." Das Dumme ist dabei, so Murphy, dass das "Herzland" weit größer ist als das heutige Russland.

In Amerika ist erstmals wieder der Heroinkonsum deutlich gestiegen, berichtet David Amsden im Rolling Stone. Und nicht nur in New York oder anderen großen Städten, sondern auch in so dünn besiedelten und relativ wohlhabenden Staaten wie Vermont. Hier werden jede Woche für zwei Millionen Dollar Opiate verkauft, bei 626.000 Einwohnern. Inzwischen kennt fast jeder jemanden, der an der Nadel hängt. Einer der Gründe, so Amsden in seiner Reportage, ist die bis vor kurzem noch fast unkontrollierte Verschreibung von Schmerzmitteln. So geriet auch die junge Eve, die Probleme hatte mit Eltern und Lehrern, an die Nadel: "Ihr Großvater war gerade an einem Hirntumor gestorben, er hinterließ einen Medizinschrank voll mit dem starken Opiat OxyContin, eine Substanz, die nach Eves Verständnis von den Ärzten verschrieben wurde, 'um den Schmerz zu vertreiben'. Sie schluckte eine Pille. Die Sensation, die sie fühlte, war verführerischer als alles, was sie jemals gefühlt hatte. Zu Hause, dachte sie. Das ist zu Hause. 'Ich konnte mit mir allein sein', sagte sie, 'ohne auszuflippen.'" Einige Zeit später lernte sie einen Jungen kennen, der Heroin spritzte. "Junkies, dachte sie, sind Leute die an Orten leben wie der Bronx oder Baltimore, nicht mitten in Vermont. Aber bald kannte sie mehr Leute, die spritzten und Eves Schock verwandelte sich in Neugier. Die ätzende Reputation des Heroins schrumpfte durch die Tatsache, dass jeder es mit einer Droge verglich, die sie schon ausprobiert hatte: 'Es ist wie Oxys', hörte sie immer wieder, 'nur billiger.'"

Spätaffäre vom 17.04.2014 - Für Sinn und Verstand

Barry Schwabsky ist in einer großen Doppelbesprechung für The Nation nur mäßig begeistert von den künstlerischen Hervorbringungen des italienischen Futurismus, dem gerade eine große Ausstellung im New Yorker Guggenheim-Museum gewidmet ist. Im zweiten Teil seines Artikels wendet er sich darum der jüngsten Whitney Biennale zu, die viele früh verstorbene Künstler der jüngsten Vergangeheit zeigt und Schwabsky zu einer tiefsinnnigen Bemerkung veranlasst: Stellt er zu Beginn seines Artikels fest, dass sich junge Kunsthistoriker immer weniger für die Kunst der Vergangenheit interessieren, "so haben sich Künstler immer eifriger in Historiker verwandelt, ja in Archivare und sogar Sammler. Stilistisch hat die neueste Kunst ihr Auge fest auf die Vergangenheit geheftet und ist darum nicht schlechter. Dawoud Beys Schwarzweißporträts über die Zeit der Bombenattentate in Birmingham, Alabama, 1963 haben den nüchternen und doch empathischen Blick August Sanders; Alma Allens biomorphe Skulpturen blicken zurück zu Arp und Brancusi."

Christoph Cadenbach sucht für eine Reportage des SZ Magazins nach den Personen, die 2004 auf den Skandalfotos aus Abu Ghraib zu sehen waren - Täter und Opfer. Zum Beispiel Janis Karpinski, damals Kommandierende von Abu Ghraib "und damit verantwortlich für den Skandal. So stand es auch im offiziellen Bericht des Militärs, in dem ihr 'schwacher Führungsstil' vorgeworfen wird: Karpinski habe sich nicht dafür interessiert, ob sich ihre Soldaten an die Regeln und Prinzipien der Armee halten. ... 'Sie brauchten einen Sündenbock', sagt Karpinski im Bahnhofsrestaurant. Sie trägt einen flauschigen weißen Wollpullover, Lippenstift, die Haare hat sie noch immer fest zu einem Pferdeschwanz gebunden, ansonsten wirkt die 60-Jährige gar nicht mehr streng, eher aufgebracht. Sie spricht so laut, dass die Gäste an den Nachbartischen sich umdrehen."

Spätaffäre vom 16.04.2014 - Für Sinn und Verstand

Osteuropa widmet sein neues Heft ganz dem Ersten Weltkrieg. Der Historiker Jörg Baberowski beschreibt sehr eindringlich, welche Umwälzungen der Krieg für das zaristische Russland bedeutete. Unter einer inkompetenten Militärführung und einem kopflosen Zaren brach das dreihundertjährige Vielvölkerreich wie ein Kartenhaus zusammen: "Der Krieg hatte das Zarenreich in Chaos und Anarchie gestürzt, Millionen waren entwurzelt, aus ihrer Heimat vertrieben und getötet worden, Flüchtlinge waren überall. Der Flüchtling war der Repräsentant der neuen Zeit. Mit ihm kamen Ressentiments, Hass, Elend und Epidemien in das Zentrum des Imperiums. Überall, wo Menschen einander unter solchen Bedingungen begegnen müssen, entstehen Konflikte. So war es auch in Russland. Die Revolution war ein großer Pogrom, der die europäische Elite und ihren Staat für immer aus der Welt schaffte. Sie verwandelte das Imperium in einen unkontrollierbaren Gewaltraum, der von verrohten Soldaten und Offizieren und ihren Waffen dominiert wurde."

In einem sehr lehrreichen Artikel beschreibt außerdem der Historiker Egbert Jahn, wie der Erste Weltkrieg als Katalysator für die Nationenbildung wirkte, die von den liberalen Demokratien, von Sozialdemokraten und Kommunisten vorangetrieben wurde: "Alle drei gesellschaftspolitischen Kräfte befürworteten das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Faktisch wurde bereits die amerikanische Unabhängigkeit mit ihm begründet, auch wenn diese sprachliche Formel noch nicht gebraucht wurde."

Im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca folgt Burkhard Bilger für den New Yorker Extremkletterern und -tauchern in das Chevé-System, die tiefsten Höhlen der Welt, zweieinhalb Kilometer unter Tage. Woher kommt die Faszination an der feuchten Finsternis? Ein Instinkt? "Einer der Kletterer erinnerte sich daran, wie er als Kind begeistert war von der Struktur eines Brotes, den Luftblasen unter der Kruste. Da wollte er hineinkriechen." Vielleicht hat es auch mit Schönheit zu tun: "Das Wasser da unten war von einem leuchtenden Türkis, darunter schneeweißer Sand. Der Kalkstein war von Ocker und Rost durchzogen. Durch das Wasser zu gleiten, war wie Fliegen … Die Gefahren des Höhlentauchens sind von seinem Reiz nicht zu trennen. Weite Gänge können zu einem Labyrinth werden, weißer Sand kann aufwirbeln und die Sicht blockieren. Du glaubst, du findest den Weg heraus, aber plötzlich bist du in einer Sackgasse ohne Luft … Höhlenklettern ist prinzipiell ohne Ende. Jeder Tiefenrekord ist vorläufig, jedes Höhlensystem ist ein Puzzle im Dunkeln. Anders als den Bergsteiger erwartet den Höhlenkletterer kein schöner Ausblick. Bloß blanke Wände oder ein unpassierbarer Schacht und das Wissen, dass es immer so weitergeht, Höhle über Höhle. Etwas anderes gibt es nicht da unten."

Für einen besseren Eindruck bringt das Magazin auch ein Video.

Spätaffäre vom 15.04.2014 - Für Sinn und Verstand

In The New Republic singt der britische Autor Adam Thirlwell eine Hymne auf Gottfried Benn, von dem Michael Hofmann gerade eine Auswahl von Gedichten ins Englische übersetzt hat, 24 Gedichte aus der Zeit von 1912-47 und 48 Gedichte aus der Zeit von 1949-55. Thirlwell ist mit diesem Schwerpunkt auf die letzten Jahre von ganzem Herzen einverstanden: Denn hier zeigt sich die Ausgeschlossenheit Benns, der von den Nazis wegen seiner expressionistischen Gedichte und von den Demokraten nach 45 wegen seiner frühen Sympathien für die Nazis verachtet wurde. "Das Wort 'ausgeschlossen' ist der Schlüssel zu Benns spätem Stil. Dies ist es, was Benn so ungewöhnlich macht und so notwendig in dieser munteren Neonära. Dies ist nicht die Zeit für eine ernste Sprache - für peinliche, anstößige moralische Begriffe wie 'Feigheit' und 'Korruption'. Und doch kann man auf solche Begriffe nicht verzichten, trotz allem. Und es ist Benn, der aus dieser moralischen Grauzone heraus spricht. Er gibt der Schande eine ästhetische Form. Er erfuhr das Leben als totale Niederlage und in dieser Schande entdeckte er eine Art nihilistischer Weisheit. In Benns Poesie war die wirkliche Bedeutung von Schande nicht Reue. Nein, ihre wirkliche Bedeutung war Isolation. In der Schande lebend erfuhr er, wie leicht man von jeder Gemeinschaft getrennt werden kann. Diese Isolation führte für ihn zu absoluter Desillusionierung. Die einzige Wahrheit, an die er glauben konnte, war die Wahrheit, auf die er immer vertraut hatte: das wimmelnde, isolierte Ich."

Michel Houellebecq ist derzeit allgegenwärtig: Gerade hat er den Arte-Film "„L'Enlèvement de Michel Houellebecq“" (Die Entführung von Michel Houellebecq) abgedreht, in dem er sich selbst spielt, und jetzt werden seine Texte auch noch gesungen. In einem Gespräch zwischen dem Sänger Jean-Louis Aubert und Houellebecq erzählt der Musiker in Le Point, wo er auf Houellebecqs Buch gestoßen ist: in einem Tabakladen. Houellebecq meint folgerichtig zu dem Musikprojekt: "„Das ist doch was, das ein totalitärer oder vielmehr größenwahnsinniger Geist wie ich nur hinreißend finden kann: Die Vorstellung, dass jemand, ohne es vorgehabt zu haben, das Buch kauft und sich meinen Text zu Herzen nimmt, erheitert mich zutiefst. Ja, ich bin ein Größenwahnsinniger. Aber ein netter.“"

Spätaffäre vom 14.04.2014 - Für Sinn und Verstand

Alle wissen, dass sich in Algerien nichts ändern wird“, erklärt die algerische Schrifstellerin Maïssa Bey in einem Interview mit Telerama zur politischen Situation in ihrem Land wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl. Doch trotz aller Resignation sei die Stimmung heute eine vollkommen andere als vor den letzten Wahlen. „"Bis zu diesen letzten Monaten hatten alle, mich eingeschlossen, die alten Reflexe. Wir haben uns, ein wenig hysterisch, gesagt, dass sie die Macht und sämtliche Mittel hätten, diese bis in alle Ewigkeit zu festigen. Deutlich gesagt: dass es zwecklos ist, dagegen aufzubegehren. Im Privatbereich hatten wir die Muße, unserer Missstimmung Ausdruck zu verleihen, aber das hat nie auf den öffentlichen Bereich übergegriffen. Heute äußern sich kritische Stimmen in den sozialen Netzwerken, auf der Straße. Sie verschaffen sich zunehmend Gehör, jeden Tag lauter.“"

John Jeremiah Sullivan zeigt, was ein mit Film, Foto und Audiosnippets interaktiv gestalteter Essay alles kann. Zum Beispiel auf grandiose Weise die Geschichte zweier Frauen erzählen, Elvie Thomas und Geeshie Wiley, die mit drei Blues-Platten und zwei Songs, "Motherless Child Blues" und "Last Kind Words Blues", aufgenommen 1930/31, die afroamerikanische Musik des 20. Jahrhunderts mit beeinflusst haben, aber fast vollständig in Vergessenheit gerieten. Sullivan schildert, wie damals Jazz, Country und Blues auf Schellack vertrieben wurden, nämlich als Accessoire in Möbelgeschäften. Aufgenommen wurde in den kalten, feuchten, scheunenartigen Studios der Paramount, die Fenster mit Decken verhängt, auf dem Boden dicke Teppiche: "Ein dunkler, pelziger Schuhkarton, schlimmer Ort, um Musik aufzunehmen. Die Künstler bekamen Alkohol, um sich aufzulockern. Die Aufnahmetechnik war ein Monster, elektrisch, aber vom Anschein her akustisch. Man sang in einen riesigen hölzernen Trichter, der den Sound zu einem Mikrofon leitete … Nach jedem aufgenommenen Song mussten die Toningenieure das System aus Gewichten und Riemenantrieb neu justieren. Die Eigenwilligkeiten des Systems sind auch zu hören, etwa nach den ersten 2/3 von 'Motherless Child Blues', wenn das Tempo sich plötzlich leicht ändert."

Spätaffäre vom 11.04.2014 - Für Sinn und Verstand

In der Ausgabe vom 3. April der New York Review of Books berichtete Helen Epstein unter der Überschrift "Mord in Uganda" über die groteske Korruption in Uganda, die das Gesundheitssystem um Jahrzehnte zurückgeworfen hat. Im zweiten Teil ihrer dreiteiligen Serie erzählt sie am Beispiel des heute in London lebenden Generals David Sejusa, wie Präsident Yoweri Museveni und seine Familie mit Kritikern umspringen. "Er war ein Befehlshaber in der Nationalen Widerstandsarmee, die Musevenin 1986 an die Macht brachte und hatte seitdem verschiedene hohe Posten in der Armee und der Regierung. Als Geheimdienstkoordinator war er verantwortlich dafür, viele Missetaten der Regierung zu vertuschen - durch hartes Durchgreifen gegen die Medien zu zum Beispiel oder einen Militäreinsatz gegen das Oberste Gericht 2005. Doch hat er auch bei zahlreichen Gelegenheiten mit Museveni gestritten und versucht, das Militär zu verlassen. Im Mai 2013 floh er nach Britannien, nachdem er erfahren hatte, sagt er, dass er und andere führende Offiziere, die gegen Musevenis Geheimplan opponierten, seinen 39-jährigen Sohn als Nachfolger einzusetzen, ermordet werden sollten. Als er einige Monate in UK war, erzählte er einem ugandischen Journalisten, dass [die oppositionelle Abgeordnete] Cerinah Nebanda und viele andere prominente Ugander 'im Auftrag von oben' ermordet worden waren. Ich war wollte unbedingt mit ihm sprechen."

Lucas Vogelsang hat für eine Reportage im Tagesspiegel "Ihren Block" besucht, den Block im Märkischen Viertel, den vor zehn Jahren Sido besang. Er beschrieb darin einen Gang durch die Stockwerke seines Hochhauses und erzählte von nichts anderem als Sex, Gewalt, Drogen und Tristesse. Es war ein Riesenhit, weil "es eben auch das Kriminaltheater für die Vorurteile der deutschen Mittelschicht war; die sich in allem bestätigt fühlen durfte, weil da einer im geklauten BMW durch sein Viertel fuhr". Schon damals waren nicht alle glücklich über diese plötzliche Prominenz, die bis heute nachhallt:
"ISABELLE: Ich spreche fünf Sprachen. Ich habe ein englisches Abitur gemacht und studiere Islamwissenschaften. Wenn ich erzähle, dass ich aus'm MV komme, dann sind immer alle erstaunt und glauben es nicht. Es gibt aber auch Leute, die hassen mich dafür.
AYHAN K.: Sido hat das MV als einen Puff dargestellt. Als Nuttenloch. Ich habe mich von diesem Song persönlich beleidigt gefühlt. Er wusste nichts von dem, wie es wirklich ablief.
FRAU GRABOWSKY: Unser Märkisches Viertel ist ein Idyll. Ruhige Ecke. Hören Sie was?
HERR GRABOWSKY: Wir haben hier Luftverhältnisse wie auf Sylt.
MURAT DRAYEF: Dieser Ort hat ganz viel Seele. Mein Herz hängt am MV." (Foto: Lienhard Schulz / Wikipedia. Märkisches Viertel 2005)

Spätaffäre vom 10.04.2014 - Für Sinn und Verstand

In einem sehr interessanten Artikel in Nautilus beleuchtet Dirk Hanson die Geschichte und Zukunft des künstlichen Lichts. "Seit einigen Jahren arbeitet sich der Physiker Jeff Tsao durch das Kosten-Nutzen-Verhältnis von künstlicher Beleuchtung. Seine Analyse von Daten aus drei Jahrhunderten und sechs Kontinenten hat ergeben, dass 'die Zunahme an Leuchtkraft mit einem erhöhten Energiebedarf einhergeht, der den Effizienzgewinn exakt ausgleicht'. Mit bemerkenswerter Verlässlichkeit reagiert die Menschheit auf billigere und effizientere Beleuchtungsmethoden demnach mit einem höheren Verbrauch. Es ist das, was Ökonomen als 'Jevons' Paradoxon' bezeichnen: erhöhte Effizienz in der Nutzung von Rohstoffen kann kontraproduktiv sein, wenn die daraus resultierenden Einsparungen in einen höheren Konsum investiert werden. Nach Tsaos Berechnungen wendet die Welt seit dreihundert Jahren konstant 0,72 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Licht auf."

In der Cover Story des New York Magazins untersucht Jonathan Chait, wie sich die Ethnien-Frage während Obamas Präsidentschaft entwickelt hat. Von Harmonie, wie Optimisten prognostiziert haben, kann keine Rede sein: "Ethnische Fragen sind zum Hauptkümmernis geworden, Teil eines Verfolgungsnarrativs, das alle Seiten benutzen, um sich die Welt zu erklären. Liberale verharren in der Paranoia eines weißen Rassismus, den sie überall vermuten. Konservative verharren in ihrer eigenen Paranoia, in der Rassismus die Keule ist, die ihre Kernwerte bedroht. Das Schlimme ist, beide Formen der Paranoia sind begründet. Wollte man eine Geschichte der Obama-Ära schreiben, dürften ethnische Fragen eigentlich keine Rolle spielen. Alle Präsidentschaften von Truman bis Clinton hatten ethnische Brandherde zu bekämpfen. Kämpfe um die Aufhebung der Rassentrennung beim Militär und in Schulen, Proteste gegen die Zivilrechte etc. Unter Obama sieht es eher aus wie während des New Deal, als es um den Geltungsbereich der Regierung ging. Eine ethnische Agenda existiert quasi nicht. Wollte man indessen eine Sozialgeschichte der Obama-Ära schreiben, würde man feststellen, dass ethnische Fragen einfach jedes Thema durchdrungen haben wie nie zuvor: Schulden, Gesundheit, Arbeitslosigkeit … Kaum ein Tag ohne den Vorwurf der ethnischen Über- oder Untersensibilität. Wo es bei Bush um Außenpolitik und kulturelle Grabenkämpfe über die Frage ging, wer das wahre Amerika erschaffen hat, sind die Obama-Jahre von einer bitteren Kontroverse über die Vergrößerung des Staats- und Regierungsapparats und ihre Nutznießer geprägt. Eine Diskussion, in der es immer auch um die Sympathie für oder die Vorurteile gegen das Afroamerikanische geht."

Spätaffäre vom 09.04.2014 - Für Sinn und Verstand

John Gray hat Mark D. Whites Buch über die Tugenden des Comic-Helden "Captain America" wirklich gern gelesen. Es ist amüsant und durchgehend anregend, kurz: populäre Philosophie erster Güte, lobt er im New Statesman. Wie White allerdings behaupten kann, die Ideale des Captains seien klassisch-griechisch, wo sie doch ganz klar amerikanisch-christlich sind, ist Gray ein Rätsel: "Zum Teil kann man das vielleicht mit der professionellen Deformation der akademischen Philosophie erklären. Vor allem in Amerika ist zeitgenössische Philosophie stur säkular. Auch nur das geringste symphathisierende Interesse an Religion zu zeigen, ist die schnellste Art des Karriereselbstmords. Vielleicht deshalb wurde die Tugendethik recht populär. Viele Philosophen haben erkannt, dass Utilitarismus und Menschenrechte armselige Arten sind über Ethik nachzudenken. Wenige haben sich bemüht, die jüdischen und christlichen Wurzeln zu erkunden, aus denen sich die moderne westliche Ethik entwickelt hat. Stattdessen blickt man zurück auf die Griechen. Ohne Sinn dafür, wie sich moralische Ideale verändern - denn zeitgenössische angelsächsische Philosophie ist durch und durch unhistorisch - versteht man nicht, dass die antiken Vertreter der Tugendethik in einer Welt lebten, die fast unvorstellbar weit von der unseren entfernt ist."

Jonathan Bousfield erinnert in Eurozine an Milan Kunderas großen Essay "Die Tragödie Mitteleuropas", der vor dreißig Jahren erschien (hier auf Englisch als pdf). "Für den in Litauen geborenen Polen Czesław Miłosz umfasste Mitteleuropa den gesamten Landstrich, der sich vom 'barocken Vilnius' im Norden bis zum 'mittelalterlichen Renaissance-Dubrovnik' im Süden zog und ungefähr alles einschloss, was östlich von Deutschland lag und von seinem kulturellen Erbe her katholisch oder jüdisch geprägt war. Auch wenn der ethnische Pluralismus Mitteleuropas hochgehalten wurde, herrschte zugleich eine sehr klare Ansicht darüber, was es nicht war: christlich-orthodox, islamisch oder russisch. Nicht jeder mochte den Begriff. Der österreichische Schriftsteller Peter Handke sah in Mitteleuropa nichts weiter als einen 'meteorologischen Begriff'. Der ungarische Erzähler Peter Esterhazy erklärte 1991, dass ein Schriftsteller 'einer Sprache angehört, nicht einer Region'. Jugoslawiens Danilo Kiš trat vorsichtig auf, als er 1987 schrieb, dass die Vorstellung von einem mitteleuropäischen Kulturraum heutzutage vielleicht im Westen verbreiteter sei als in den Ländern, die logischerweise dazugehörten'."

Spätaffäre vom 08.04.2014 - Für Sinn und Verstand

Zum Tod des amerikanischen Schriftstellers, Umweltaktivisten, Zen-Priesters und vermeintlichen CIA-Agenten Peter Matthiessen, Autor der Generation von Kurt Vonnegut und E.L. Doctorow, bringt das Magazin der NY Times einen Text von Jeff Himmelman, in dem unter anderem zu erfahren ist, wie Matthiessens Faszination für die Natur und sein Erzählen einander befruchten konnten: "In den späten 60ern schickte der New Yorker Matthiessen auf die Suche nach der Grünen Meeresschildkröte vor Nicaragua. Matthiessen lieferte seinen Artikel ab, fand aber, ein Roman würde besser ausdrücken, was er erlebt hatte. Acht Jahre experimentierte er an der Geschichte. Das Ergebnis war 'Far Tortuga', ein in jeder Hinsicht radikaler Roman mit Leerstellen, Dialogen ohne Anführungszeichen und Zuordnung, Piktogrammen, handgemalten Illustrationen und, das Erstaunlichste vielleicht, nur ein oder zwei Vergleichen im gesamten Text … Die Auslöschung des Ichs gehört zu den Standards im Zen. Ebenso das Streben nach Einfachheit und der Verzicht auf Ausschmückung. 'Ein Kakerlak, der unter dem Küchenschrank hervorkommt, Fühler aufgerichtet, das ist so überwältigend und schräg und schön, dass niemand einen Vergleich braucht, z. B. "wie eine Radioantenne" oder so was', sagte er. 'Nicht nötig. Die Sache an sich ist so gut.'"

Außerdem schreibt Michael Lewis eine seiner gefürchten Wirtschaftsreportagen, diesmal knöpft er sich den Hochfrequenzhandel vor.

Welche psychischen, politischen und sozialen Triebfedern führen dazu, dass Menschen zu Massenmördern werden? Wie lässt sich die Dynamik des Völkermords verstehen, die Naziverbrechen, der Hutu-Terror oder der Wahn der Roten Khmer? In Le Monde sprechen darüber der kambodschanische Dokumentarfilmer Rithy Panh, der Journalist Jean Hatzfeld und der Politikwissenschaftler Jacques Sémelin. Panh erklärt: „In Kambodscha unterscheidet man drei Typen von Schlächtern: Die Anstifter, die Delegierer und diejenigen, die mit den eigenen Händen töten. Erstere sind oft die Perversesten.“ Und Jean Hatzfeld sieht frappierende Analogien zwischen dem Holocaust und dem Völkermord in Ruanda: "Aufstieg eines Diktators, Erklärung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe als „überzählig“, Übernahme dieser Aussage in politische Diskussionen, Theaterstücke, Witze oder Radioprogramme. „Und nach und nach kommt es zu einem Anstieg von Gewaltakten, der Kennzeichnung, Ausgrenzung und Diskriminierung der abgelehnten Volkgruppe. Das Gefühl der Immunität stellt sich ein. Und dann kommt der Krieg. Ohne das Chaos, das er hervorruft, ohne den Zustand des Unrechts, den er installiert, ist das Massenverbrechen nicht möglich.“"