Heute in den Feuilletons

Für den deutschen Otto

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.04.2011. In der Welt verteidigt Robert Menasse die EU gegen ihre Kritiker: Nicht Brüssel sei das Problem, sondern Berlin! In der taz warnt die Philosophin Agnes Heller vor der neuen ungarischen Verfassung, die keine republikanische mehr sein will, sondern eine christliche. In der SZ setzt der Belgier Pierre Mertens auf den Humor seiner Landsleute. Die NZZ fragt, wie vulgär Ciorans Menschenverachtung war. Die Organistoren der Aufklärungsausstellung in Peking geben in der FAZ kund, dass sie wenn dann bitte in der Talkshow kritisiert werden möchten. Die taz findet den Dresdner Museumsdirektor Martin Roth und seine Äußerungen über Ai Weiwei gemeingefährlich.

Welt, 09.04.2011

Die Literarische Welt druckt einen Auszug aus den Briefen zwischen Sigmund Freud und seiner Braut Martha Bernays, die am Dienstag bei S. Fischer erscheinen. Klaus Harpprecht hat den Band mit großem Vergnügen gelesen: "Einen überraschend breiten Raum besetzt die detailbesessene Schilderung des bunten Beziehungsgeflechtes innerhalb der Familien und des engsten Kreises der Freunde. Es ist, als werde Sigmund von dem Verlangen getrieben, in der großen Stadt Wien sein eigenes privates Shtetl mit den Umtrieben seiner Originale, ihrer Beziehungsspiele, ihrer Intrigen, ihren Krächen, ihren Versöhnungen, kurz ihren alltäglichen Dramen wieder erstehen zu lassen."

Weiteres: Im Aufmacher feiert Elke Heidenreich die amerikanische Schriftstellerin Paula Fox. Michael Kleeberg erinnert an den Jesuiten und Dichter Friedrich Klee. Norbert Zähringer erinnert sich, wie Juri Gagarin ein Star wurde. Besprochen werden u.a. Dave Eggers' New Orleans-Reportage "Zeitoun", Anita Albus' Proust-Buch "Im Licht der Finsternis" und Annette Vowinckels Kulturgeschichte der Flugzeugentführungen.

Natürlich hat die EU ein Demokratiedefizit, da muss man dran arbeiten, meint im Feuilleton der Autor Robert Menasse, der dennoch die EU gegen ihre jüngsten Kritiker Hans Magnus Enzensberger und Jürgen Habermas verteidigt. Aber schuld an der Misere sind die nationalen Regierungen: "Ich würde Herrn Enzensberger gerne in einem Gespräch davon überzeugen, seine 'EU-Kritik' gegen Frau Merkel zu wenden, die in Sonntagsreden natürlich 'Europa' sagt, dann nach Brüssel in den Rat kommt, hier alles blockiert, bis es zu einer schlechten, aber sehr teuren Lösung kommt, und dann heimfliegt und verkündet, was sie alles für den deutschen Otto gegen die 'böse EU' durchgesetzt habe, um dann wieder in der nächsten Sonntagsrede zu bedauern, dass die Menschen sich leider zu wenig mit Europa identifizieren."

Weitere Artikel: Ausgerechnet Zahi Hawass, eine der tragenden Säulen des Mubarak-Regimes, soll eine Ausstellung über die ägyptische Revolution realisieren, amüsiert sich Henryk M. Broder. Das Urheberrecht wird immer mehr zu einem Verhinderungsrecht der Erben, meint Tim Ackermann angesichts des Rechtsstreits zwischen dem Museum Schloss Moyland am Niederrhein und Eva Beuys. Klaus Bölling gratuliert dem ehemaligen Welt-Chefredakteur Wilfried Hertz-Eichenrode zum Neunzigsten.

Besprochen werden eine Ausstellung zu den europäischen Arbeiten des Architekten Richard Neutra im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt und einige CDs.

TAZ, 09.04.2011

In einem Interview mit Doris Akrap und Jan Feddersen spricht die Philosophin Agnes Heller über die finstere Lage in Ungarn, das zu allem Übel nun auch noch eine neue Verfassung bekommt: "Allein die Präambel! An dieser Stelle der Verfassung, wo sich ein Staat üblicherweise zu Werten wie Freiheit bekennt, haben wir jetzt ein nationales Glaubensbekenntnis. Ungarn wird in diesem Vorwort zur Verfassung nicht mehr als Republik bezeichnet, nur christliche Werte werden als Grundlage Ungarns anerkannt, demokratische und republikanische Traditionen jedoch nicht mal erwähnt. Und: Die ungarische Verantwortung für die Deportation der Juden während des Nationalsozialismus wird geleugnet. Eine ideologisch dilettantische Erzählung. Und auch eine Komödie."

Der aus Marokko stammende, in Paris lebende Autor Tahar Ben Jalloun singt noch einmal das Loblied auf die arabischen Revolutionen und die jungen Revolutionäre. Und er ist sich in einer Hinsicht sicherer als so manch anderer Beobachter der Ereignisse: "Das islamistische Softwarepaket - wie es einige nennen - hat den Anschluss verpasst. Facebook, Twitter, Internet und neue Vorstellungswelten haben den einschläfernden, anachronistischen und stumpfsinnigen Diskurs des Islamismus hinweggefegt, der zu seiner Verbreitung auf das Irrationale und einen neurotischen Fanatismus setzte."

Weitere Artikel: Brigitte Werneburg muss schon sehr staunen, wie provinziell bis gemeingefährlich sich Martin Roth, "Kunst der Aufklärung"-Macher und Chef der Dresdener Gemäldesammlungen, sich in Sachen Ai Weiwei äußert. Seine ganz persönliche Computer-Geschichte lässt Detlef Kuhlbrodt nicht ohne Melancholie Revue passieren. Steffen Grimberg und Sebastian Heiser schildern Reaktionen auf die taz-Recherche zu Schleichwerbung in Sonderbeilagen diverser Zeitungen. Thomas Winkler unterhält sich mit Sven Regener übers Bloggen. In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne wird Nina Apin gar nicht glücklich mit Heike Blümners und Jackie Thomaes Buch "Let's Face It" über das Altern.

Besprochen wird Douglas Couplands "Marschall McLuhan"-Biografie (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

Weitere Medien, 09.04.2011

Sehr scharfe Kritik äußert laut 3sat-Kulturzeit der Kurator des Münchener Hauses der Kunst, Ulrich Wilmes, an den drei Mandarinen Eissenhauer, Roth und Schrenk, ihren Äußerungen zu Ai Weiwei und ihrem Begriff von "Aufklärung". "Alle an dieser Ausstellung Beteiligten sollten deutliche Worte für die Verhaftung finden, forderte Wilmes."
Stichwörter: Ai Weiwei, 3sat

Aus den Blogs, 09.04.2011

(Via @robbiesharp) Anders als die drei Mandarine aus Berlin, München und Dresden hat die Tate Modern kein Problem damit, sich klar zu Ai Weiwei zu äußern. (Das ganze Foto hier)




NZZ, 09.04.2011

In Literatur und Kunst schreibt Karl-Markus Gauß zum Hundertsten von Emile Cioran. So "unüberbietbar pointiert" er seine Prosa auch findet, die oft bemühte Läuterung nimmt er Cioran nicht ab: "Ich glaube, viel öfter, als es seine Verehrer wahrhaben möchten, spricht aus dem alten der junge Cioran, der seinen vulgären Antisemitismus zur aristokratischen Menschenverachtung geläutert hat. Nicht mehr 'der Jude' allein, 'der Mensch muss verschwinden', denn er ist der 'Krebs der Erde'. Was der Geläuterte am Ende ausdrücklich begehrt: die atomare Vernichtung der menschlichen Zivilisation, die ethnische Säuberung der Erde vom Menschen."

Außerdem zu lesen ist ein Vortrag Roman Buchelis über das literarische Ich in der Moderne zu lesen. Regine Bonnefoit bilanziert Oskar Kokoschkas Verhältnis zur Schweiz.

Im Kulturteil beschreibt Joachim Güntner seinen vom Internetradio durcheinander gebrachten "Digitalen Alltag". Besprochen werden eine große Schau des Malers Chardin im Madrider Prado, Laura de Wecks Stück "Für die Nacht" in der Inszenierung von Werner Düggelin (laut Barbara Villiger Heilig ein "kleiner, feiner Reigen um Leben, Liebe und Tod"), eine Max-Frisch-Ausstellung in Marbach, eine Inszenierung von Webers "Freischütz" in der Pariser Opera Comique und Bücher, darunter Daniil Charms' Gedichte "Sieben Zehntel eines Kopfs", Michel Houellebecqs Roman "Karte und Gebiet" und Hans Ulrich Gumbrechts Studie "Stimmungen lesen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 09.04.2011

Durch die Hallen der Frankfurter Musikmesse (die größte der Welt!) bewegt sich wie durch ein fremdes Wunderland Christian Schlüter: "Längst hat das Akkordeon aufgehört, von gestern zu sein. Zum Beispiel offerieren Hersteller wie Hohner oder Roland ihre Handzuginstrumente mit Midi-Anschluss. Auf diese Weise verwandelt sich das Traditionsgut in eine moderne Computerschnittstelle. Und klingt dann so wie eine Jazz-Bigband oder Punk-Kapelle - imposantes Drumset inklusive. Also sitzen und spielen in Halle 3.1 gemütlich-runde Männer mit Bart und kreieren Klangwelten, denen beinahe nichts mehr fremd ist."

Weitere Artikel: In einer "Times Mager" fühlt sich Hans-Jürgen Linke durch die Situation in Fukushima an den Dombau in Florenz erinnert. Vom Auftakt des Wiesbadener Filmfestivals goEast berichtet Tim Gorbauch.

Besprochen werden eine Amsterdamer Inszenierung von Jean-Philippe Rameaus Nymphenoper "Platee" unter musikalischer Leitung von Rene Jacobs, die große "Salier"-Ausstellung im Historischen Museum der Pfalz in Speyer, die Ausstellung "Richard Neutra in Europa" im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt und Julie Orringers romanhafte Familiengeschichte "Die unsichtbare Brücke" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 09.04.2011

Im Interview erläutert der Schriftsteller Pierre Mertens, warum Belgien ein gespaltenes Land ist und trotzdem zu einer Einheitsregierung zurückfinden sollte. Und er singt ein kleines Loblied auf seine Landsleute: "Die Menschen hier sind keine aufgeregten Automaten, die durcheinander hetzen wie in Paris. Wir haben Humor. Wir lachen gerne über uns. Unsere großen Schauspieler und Komödianten machen sich ununterbrochen über Belgien lustig. Es gibt keinerlei Chauvinismus, keinerlei Arroganz. Aber das Lachen sollte nicht bis zur Selbstverachtung gehen."

Weitere Artikel: In einem Wort zum Sonntag erklärt Andrian Kreye, warum Nachhaltigkeit eine Sache der kleinen Schritte ist, warum das Grüne und der Glaube gut zueinander passen und dass Zynismus zur Erschöpfung führt. Laura Weissmüller begeistert sich für den neuen Videokunst-Ausstellungsraum im ehemaligen Luftschutzkeller des Münchner Hauses der Kunst - und für die erste dort gezeigte Ausstellung "Aschemünder". In seiner Taxifahrer-in-Kairo-Kolumne trifft Khaled al-Khamissi diesmal auf einen schon etwas revolutionsskeptisch gewordenen Tunesier. Volker Breidecker war dabei, als Rainald Goetz die Eröffnung einer von ihm zusammengestellten Kabinettausstellung in Marbach performte. Constanze von Bullion kommentiert den Sieg des "Gefällig-Gefühligen" ("Vincent will Meer", "Almanya") beim Deutschen Filmpreis.

In der SZ am Wochenende beginnt eine Serie zu "150 Jahre Amerikanischer Bürgerkrieg". Rebecca Casati denkt im Aufmacher über die neuen Ausgrenzungsmedien des Internets nach, die Jugendliche im Extremfall bis in den Selbstmord treiben. Jens Schneider fährt nach Peenemünde, das möglicherweise Weltkulturerbe werden soll. Ulrich Wickert unterhält sich mit dem ehemaligen französischen Außenminister (und Anwalt von Picasso, Sartre etc.) Roland Dumas über "Geliebte".

Besprochen werden eine große "Salier"-Ausstellung im Historischen Museum der Pfalz in Speyer, Jake Scotts Film "Welcome to the Rileys" und der erste von fünf Bänden mit den zwischen Sigmund Freud und Martha Bernays gewechselten Brautbriefen (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 09.04.2011

Die Museumsdirektoren Michael Eissenhauer, Martin Roth und Klaus Schrenk erklären frech, warum die Kritik an ihrer Aufklärungsausstellung in Peking sie nicht kratzt: "Es ist nicht neu, dass China ein anderes Verständnis von Aufklärung und Freiheitsrechten hat oder dass es sein staatliches Handeln gar mit der Gedankenwelt der Aufklärung in Einklang sieht. Im Grunde hätte die Ausstellung dieselbe Debatte auslösen müssen, wenn die prominenten Tatbestände nicht existierten. Es darf bezweifelt werden, dass das passiert wäre, und das zeugt davon, dass man nicht grundsätzlich zu diskutieren bereit ist. Ein Beispiel: Trotz der nun immerhin über die Feuilletons hinaus geführten Debatte schafft es das Thema nicht in die deutschen Polit-Talkshows." (Natürlich wurde die Ausstellung schon vor Ais Verhaftung kritisiert, zum Beispiel hier, hier und hier).

Der amerikanische Umweltaktivist Stewart Brand hält im Interview mit Jordan Mejias den Ausstieg aus der Atomenergie für eine schlechte Idee: "Deutschland hat nicht das Gesamtbild im Blick. Und das Gesamtbild umfasst eben auch den Klimawandel und Treibhausgase." Joachim Müller-Jung berichtet dann allerdings von einem neuen Gutachten des Umweltrates, das der Atomenergie genauso wenig Zukunft einräumt wie den fossilen Brennstoffen.

Weiteres: Der Autor Michael Jürgs verteidigt seine Teilnahme an den inkriminierten Vattenfall-Lesetagen in Hamburg, und zwar "ohne eine Spur von schlechtem Gewissen". Jürgen Dollase meint in seiner Geschmackssachen-Kolumne, dass die deutsche Küche nur etwas Zeit braucht, um ihr "großes Potenzial" voll auszuschöpfen. Marcus Jauer versucht, der unübersichtlich gewordenen Nachrichtenlage Herr zu werden.

Besprochen werden Laura de Wecks Sterbehilfe-Drama "Für die Nacht" in Basel, das neue Radiohead-Album "The King of Limbs", CDs mit Aufnahmen des von den Nazis verfemten Geigers Joseph Joachim, eine Einspielung von Giordanos "Fedora" mit Angela Gheorghiu und Placido Domingo und Bücher, darunter Peter Handkes Erzählung "Der große Fall", Abbas Khiders Roman "Die Orangen des Präsidenten", Joachim Meyerhoffs Romandebüt "Alle Toten fliegen hoch" und Isländersagas als Hörbuch (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages)

Patrick Bahners erinnert in Bilder und Zeiten an den Prozess gegen Adolf Eichmann, der vor fünfzig Jahren in Israel stattfand und rekapituliert dabei auch die Debatte um Hannah Arendts Bericht "Eichmann in Jerusalem", den Golo Mann damals sehr kritisierte. Uwe Ebbinghaus testet die darstellerischen Fähigkeiten im Berliner Politiktheater. Und Susanne Roeder unterhält sich mit dem Tennisspieler Philipp Petzschner.

In der Frankfurter Anthologie stellt Ruth Klüger Friedrich Hebels Gedicht "Das Kind am Brunnen" vor:

"Frau Amme, Frau Amme, das Kind ist erwacht!
Doch die liegt ruhig im Schlafe.
Die Vöglein zwitschern, die Sonne lacht,
Am Hügel weiden die Schafe..."