Im Kino

Ich hör' jetzt auf, Francis

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Maximilian Linz
07.06.2012. Das Berlin Documentary Forum 2 eröffnete mit Lecture-Performances von Rabih Mroué und Hito Steyerl einen Dritten Weg des Dokumentarischen. Sibylle Dahrendorfs "Knistern der Zeit - Christoph Schlingensief und sein Operndorf in Burkina Faso" vermittelt die unnachahmlichen Qualitäten des 2010 verstorbenen Bewegungskünstlers.


Als Präsentationsplattform aktueller, interdisziplinärer Dokumentarismen legte das Programm des zweiten Berlin Documentary-Forum am vergangenenen Wochenende nahe, dass der Geist des künstlerischen Dokumentarfilms der Zeit nach 1945 heute im nicht-akademischen Vortrag weiterlebt, als sogenannte Lecture-Performance. In ihren zentralen Programmpunkten führte die Veranstaltung selten zu sehende Meilensteine der Dokumentarfilmgeschichte mit bildbasierten Künstler-Vorträgen zusammen, deren radikale Zeitgenossenschaft sie im Resultat zu einer Form von work-in-progress werden ließ, zu nach Ende des Vortrags noch offenen, während der Performance überhaupt erst eröffneten Verfahren. In eigenem Namen und mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln prozessierten die Lecture-Performances von Rabih Mroué ("The Pixelated Revolution") und Hito Steyerl ("Objectifiction") Fälle des Wirklichen.

Dokumentarfilme im herkömmlichen, das heißt vor der Projektion oder Ausstrahlung durch die filmische Montage definierten Sinn, werden gegenwärtig entlang zweier Axiome hergestellt. Während der letzten Dokumentarfilmwoche in Duisburg hörte ich folgende Unterhaltung, es ging um Produktionsrichtlinien für Kinder-Dokumentarfilme: "Step one: write a script. Step two: find a protagonist. Step three: I don't even know what step three is, I'm not a filmmaker." Sie basieren also entweder auf einem vor Beginn der Dreharbeiten nicht zuletzt zu Zwecken der Aquirierung von Produktionsmitteln ausformuliertem Script, sind thematisch eingehegt und im Stile eines Spielfilms mit Protagonisten besetzt. Oder sie finden Verwendung zur praktischen Vorbereitung eines Spielfilmscripts, das dann wiederum der Filmförderung oder den Fernsehanstalten vorgelegt werden kann. Für letzteres Vorgehen lieferte Harun Farocki in seiner Lecture "Kontrolle und Kontingenz" selbst ein prominentes Beispiel, als er demonstrierte, wie er gemeinsam mit Christian Petzold Szenen bzw. ein Set von Gesten, Dialogen und Soziotypen aus dem von ihm produzierten Dokumentarfilm "Nicht ohne Risiko" über - Zitat Farocki - eine "tote Frau aus dem Osten, die in das hochkapitalistische Hannover kommt" in das Drehbuch zu Petzolds Spielfilm "Yella" überführte. Klaus Wildenhahns Film "Heiligabend auf St.Pauli" von 1968, dessen dokumentarische Überschüsse Farocki anhand einer Barthes-Lektüre ("L'effet de réel") und anderen Filmbeispielen restrukturierte, könnte von beiden Verfahrensweisen nicht weiter entfernt sein. Weil - wie der eingeladene Wildenhahn selbst anmerkte - die verschiedenen Bürokratien heute eine mit seinen Filmen vergleichbare "directness" und damit verbundene Unkontrollierbarkeit weitgehend aus ihren Programmen ausgeschlossen haben, muss also der Künstler selbst in die Bresche treten, die dieser Ausschluss der Öffentlichkeit geschlagen hat. Was der vom Berlin Documentary Forum 2 vorgeschlagene dritte Weg des Dokumentarischen wäre.



Hito Steyerl präsentierte eine dreikanalige Video-Installation mit dem Titel "The Kiss". Diese verhandelt am Beispiel eines Ereignisses aus dem Bosnienkrieg die Erkenntnispotentiale forensischer 3D-Bild-Technologien. 1993 wurden 20 Passagiere eines Zuges in Štrpci von serbischen Paramilitärs entführt und nie wieder lebend gesehen. Während die Identität von 19 der Opfer bekannt ist, weiß man über das 20. nur, dass es sich laut Zeugenaussagen um einen Schwarzen gehandelt habe, der, so die Überlieferung, vom Anführer der Militärs geküsst worden sei. "The Kiss" verhandelt, wie die Feststellung der Abwesenheit und die damit einhergehenden Spekulationen mit der technologischen Spezifik des 3D-Scans zusammenfallen. In diesem Verfahren nimmt ein 3D-Scanner ein zweidimensionales Bild einer Situation auf, um aus den Informationen ein dreidimensionales annäherungsweise berechnen zu können. Die von den Objekten im Bild geworfenen Schatten können jedoch nicht erfasst werden. Sie bleiben weiß, bilden blinde Flecken oder weiße Stellen in der kriminalistischen Kartografie - für Steyerl sind sie technisch gesehen der einzige tatsächlich dokumentierte Aspekt. "You will know when you are being kissed." Die Erkenntnis-Ketten, die so ein Geküsstwerden in Gang setzen kann, wurden im zweiten Teil ihres Vortrags deutlich: es ging um Steyerls im kurdischen Unabhängigkeitskrieg ermordete Freundin Andrea Wolf, eine Höhle in Kurdistan, die Hellfire-Missiles der türkischen Cobra-Helikopter, hergestellt vom Rüstungskonzern Lockheed-Martin, dessen Deutschland-Dependance in der Zentrale der DZ-Bank am Pariser Platz 3 untergebracht ist, deren Atrium wiederum geschmückt ist von einer mit 3D-Technik designten Skulptur von Frank Gehry, die der beim Militäreinsatz zerstörten Höhle in den kurdischen Gebirgen zum Verwechseln ähnelt - so wird im Sinne dieser Übertragung der Kampfhelikopter zum 3D-Printer.



Die hier skizzierte Unauflösbarkeit von Kriegstechnik und Bildproduktion schließt an zentrale Fragestellungen der Medienwissenschaft an. In "Der Lachende Mann" von Heymann und Scheynowski (DDR, 1966), der am Beispiel des in der frühen BRD populären Söldners genannt Kongo-Müller den Genozid im Kongo beschreibt, ist die Rede von einem gewissen Jacopetti, der auf Besuch in Zentralafrika seine Arriflex-16mm-Kamera mit einem MG koppelte, um die Tötungen unmittelbar auf Film festzuhalten. Die Handyvideos in Rabih Mroués Vortrag "The Pixelated Revolution" erzählen von der anderen Seite. Sie zeigen - schon die Schilderung ist kaum zu ertragen - Aufnahmen syrischer BürgerInnen, die, während sie mit ihren Mobiltelefonen filmen, von Regierungstruppen erschossen werden. Eine Kamera streift über Häuserfassaden, es ist der 11. März 2011. Der Blick fällt über die Balkonbrüstung auf die Straße. Im Schatten einer Straßenecke steht ein Scharfschütze. Er sieht den Filmenden, hebt sofort sein Gewehr und feuert, so scheint es, direkt in die Kamera. Diese fällt zu Boden und filmt nun die Zimmerdecke, die Schmerzensschreie des Getroffenen sind zu hören, dann Stille, das Video stoppt. Mroué zeigte weitere solcher Beispiele - jeder, der in Syrien filmt, um die Verbrechen der syrischen Armee zu bezeugen, wird, wenn er entdeckt wird, getötet, auf offener Straße, freihändig oder aus Panzern, ganz gleich. Die Armee fürchtet die Kraft des Bildes so sehr, dass hier nicht mehr gilt, was seit Edwin S. Porters "The Great Train Robbery" zu gelten hatte: Der Schuss in die Kamera trifft nicht mehr nur ein imaginäres, konstruiertes Subjekt. Die Waffe hat die Macht, die Bilder zu bezwingen, oder, in Mroués eigenen Worten: "Images don't win wars." Doch gleichzeitig birgt Mroués Performance die Hoffnung, dass die, die dies sehen, im Internet oder hier im Auditorium des Hauses der Kulturen der Welt (HKW), in der Doppelung von Sterben und Überleben von den Schüssen geküsst werden und daraus ein Wissen entwickeln, das die Waffen zum Schweigen bringt. Syrien ist weit weg und Einmischung lebensgefährlich. Vom Haus der Kulturen der Welt aber zum Deutschen Bundestag, der musterdemokratischen Legislative eines der größten Waffenexporteure der Welt, sind es nur ein paar Schritte.

Maximilian Linz

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Die Platte knistert arg, dann hängt und springt sie. Dann das Bild: ist schief. Schlingensief spricht im rechten Winkel, Querformat: "Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie ganz recht herzlich hier aus Ouagadougou!" Ein Handybild jener verrauscht-kontrastarmen Sorte, die alles fahl wie die Unterseite eines Fisches aussehen lässt: Hi-Def ist das nicht. Dann geht Schlingensief von der Hotellobby auf die Straße, in die Nacht und verschwindet damit noch mehr im Undeutlichen des Bildes: "Ich bin jetzt wahrscheinlich gar nicht mehr zu sehen, was für ein Signal an die Zukunft!" Dann meldet er sich, nach kurzer Aufnahmeunterbrechung, nochmal: Er sei gerade darauf hingewiesen worden, wie man mit so einem Handy eigentlich richtig aufnimmt, dass man das Gerät dazu nämlich anders- und also quasi intuitiv verkehrtrum halten müsse; Schlingensiefs Gesicht wechselt aus der Horizontalen in die Vertikale zurück, "Ich hör' jetzt auf, Francis, Du musst übernehmen", sagt er noch mit seinem typisch verschmitzten Lausbubengrinsen zu seinem Architekten Diébédo Francis Kéré, bevor ein harter Cut den Film aus dem medial defizitären Rausch-Schwenken in eine professionelle Totale holt und damit eine strikte Differenz zur Schlingensiefschen Taumelästhetik der lustvoll-frechen Übertölpelung von Standards und Konvention markiert.

So fängt dieser Dokumentarfilm an, der sich vordergründig als ein Film über die Bauarbeiten von Schlingensiefs Operndorf in der Steppe von Burkina Faso beschreiben lässt. Gewiss, darum geht es auch und sehr zentral: Wie Schlingensief das Gelände inspiziert, wie man sich mit den Behörden arrangiert, wie sich neue Freundschaften und Bündnisse ergeben. Nicht zuletzt, wie ein solches Bauvorhaben den Gegebenheiten überhaupt erst einmal mit Kraft und geistiger Energie abgetrotzt werden muss, wie der Bau stagniert und schließlich, wie es nach Schlingensiefs Tod im August 2010 weitergehen kann und wird. Dazwischen: Vorbereitungen mit den afrikanischen Schauspielern zu "Via Intolleranza II", der letzten Theaterarbeit, deren Premiere Schlingensief noch erlebte und immer wieder in Einschüben Schlingensiefs Handyaufnahmen, die immer (auch buchstäblich perspektivisch) quer stehen zu den übrigen, aufgeräumten Bildern der ruhig auf ihren Gegenständen verweilenden Dokumentaraufnahmen.

Doch was sich eigentlich in diesem Film vermittelt: Schlingensiefs unnachahmliche Qualitäten als buchstäblicher "Stein des Anstoßes", als einer, der eine Bewegung in Gang setzt, deren weiteren Verlauf er ebenso überrascht (und mit nicht wenig Begeisterung) beobachtet wie sein Publikum. Schlingensiefs Ansatz vom Kunstwerk mit offenem Ausgang, dessen Rezeption und zentrifugal in der Öffentlichkeit gezogenen Kreise unbedingter Bestandteil seiner selbst ist, macht auch aus diesem Großprojekt ein Bauvorhaben mit offenem Ausgang: Immer wieder kommt die Sprache darauf, wie es hier in der Steppe weitergehen könne, wenn Schlingensief einmal nicht mehr da sei. Doch natürlich ist Schlingensief selbst dann noch da, wie seine Ehefrau Aino Laberenz bei der feierlichen Eröffnung der ersten Gebäude anmerkt: Er stehe vielleicht nicht hier oben auf dem Podium, sagt sie, aber ganz gewiss sitze er bestimmt irgendwo im Publikum. In jedem Fall zeigt sich seine Fähigkeit, andere zu begeistern, schon in den fertigen Gebäuden und dem fortlaufenden Bau, in der begeisterten Aufführung afrikanischer Tänze und den allseitig glaubhaften und damit sehr zu Herzen gehenden Beteuerungen, wie sehr man ihn hier vermisse, wieviel man von diesem wunderlichen weißen Mann in der kurzen Zeit mitgenommen habe: "Ich hör' jetzt auf, Francis, Du musst übernehmen" ist damit wirklich in die Zukunft gesprochen und programmatisch für einen Film zu verstehen, in dem Schlingensief gewissermaßen die Bedingungen der Möglichkeit für weiterziehende Bewegungen nach seinem Verschwinden organisiert.



Zugleich bildet die Ästhetik von Schlingensiefs Videoaufnahmen auch einen Rahmen, sie kehrt in einem Epilog wieder. Das Operndorf in der Steppe Burkina Fasos soll mehr sein als ein Ort, an dem Stars aus dem Betrieb schrille Töne in die Wüste entsenden. Mit einer Schule, einem Krankenhaus und anderen sozialen Einrichtungen soll hier ein Ort der Begegnung entstehen, vor allem aber ein Ort, von dem aus eigene, von den Standardisierungen konventioneller Bildproduktion unbefleckte Bilder aus Afrika in die Welt ziehen können: "Jedes von den Kindern hier soll eine Kamera kriegen und zuhause sollen die dann ihre Eltern filmen und das können die dann in ihr YouTube stellen", sagt Schlingensief einmal. Den Kindern ist damit auch das Ende des Films vorbehalten: In ihren Händen kreist Schlingensiefs Handy und zeitigt dabei frisch verwackelte, mobile Bilder, denen die Gravitas ausgestellter Professionalität genauso fehlt wie Schlingensiefs stets neugierigem Zugriff auf Medien- und Kunsttechniken. Jene Art von Bildern, die im bisherigen Filmverlauf Schlingensiefs Präsenz und Position markierten, markieren nun dessen Absenz. Doch genauso zeigen sie, dass Schlingensief, selbst wenn er tot ist, gar nicht fehlen kann, da er ursächlicher Bestandteil dieser Bewegung ist: Erst übernahm Architekt Francis sie, jetzt übernehmen sie die Kinder aus Burkina Faso, aus ihnen und ihren Handybildern lacht und sprudelt das Leben.

Thomas Groh

Das "Berlin Documentary Forum 2" fand vom 31.05. bis zum 03.06.2012 im Berliner Haus der Kulturen der Welt statt. Die zugehörige Ausstellung "A Blind Spot" ist noch bis zum 01.07. zu sehen.

Knistern der Zeit - Christoph Schlingensief und sein Operndorf in Burkina Faso - Deutschland 2012 - Regie: Sibylle Dahrendorf - Darsteller: (Mitwirkende) Christoph Schlingensief, Diébédo Francis Kéré, Aino Laberenz, Stanislas Meda, Thierry Kobyagda, Familie Sidibé - Länge: 100 min.