Magazinrundschau

Und hören Sie auf zu jammern!

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
27.08.2013. In National Geographic schildert Jonathan Franzen die Jagd auf Singvögel in Albanien und Ägypten. HVG stellt den ungarisch-französischen Philosophen György Politzer vor. Im Guardian sieht die ägyptische Schriftstellerin Ahdaf Soueif nur noch Militär. In Le Point hat BHL keinerlei Sympathie für die ägyptischen Generäle. LA Weekly untersucht den Tod des investigativen Journalisten Michael Hastings. Die London Review feiert die modernistische Morgendämmerung in Form der Mods, das Men's Journal in Form des Bops. Das New York Magazine spürt Thomas Pynchon nach und bereitet uns auf phantastische Masturbationsszenen im neuen Film von Scorsese vor.

National Geographic (USA), 01.08.2013

Jonathan Franzen nimmt für eine Reportage ein Thema auf, über das er bereits in seiner im vergangenen Jahr erschienenen Essaysammlung "Weiter weg" geschrieben hatte: die Jagd auf Singvögel in Mittelmeerländern. Ergänzt um einen Fotoessay von David Guttenfelder berichtet Franzen diesmal aus Albanien und Ägypten: "Der Februar 2012 brachte Osteuropa den kältesten Winter seit 50 Jahren. Gänse, die normalerweise im Donautal überwintern, flogen weiter nach Süden, um ihm zu entkommen, und Fünfzigtausende von ihnen stiegen hungrig und entkräftet in den Ebenen Albaniens ab. Jede einzelne wurde exterminiert. Männer mit Schrotflinten und alten russischen Kalaschnikows mähten sie nieder, während Frauen und Kinder die Kadaver in die Städte trugen und an Restaurants verkauften. Viele der Gänse waren im Norden von Forschern gekennzeichnet worden; ein Jäger erzählte mir, er habe eine Markierung aus Grönland gesehen."

HVG (Ungarn), 14.08.2013

In Paris ist vor kurzem ein Buch über den Philosophen und Psychologen György Politzer erschienen, "Les trois morts de Georges Politzer", Flammarion. In Ungarn ist der Denker kaum bekannt, in Frankreich dagegen wird er trotz seiner kommunistischen Gesinnung geachtet. Politzers Sohn Michel ist der Verfasser des Buches, im Interview mit Benedek Várkonyi sagt er über seinen Vater: "Durch seine Schriften ziehen sich zwei seltsame Stränge, egal ob er über Philosophie oder über Psychologie schreibt. Der eine ist der des Denkers, der die Welt klar sah und der auf die großen französischen Philosophen des 20. Jahrhundert, Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty oder auf den französischen Psychologen-Riesen Jacques Lacan wirkte. Der andere Strang ist die kommunistische Gesinnung von Politzer, sein alles durchdringender, politischer Dogmatismus. Der konservative Denker, Raymond Aron beschrieb dies, als er von Politzers 'genialem Irrtum' sprach."

Vor kurzem wurden die detaillierten Ergebnisse des Zensus von 2011 veröffentlicht. HVG beschreibt in einer redaktionellen Zusammenfassung die Verteilung der bedeutendsten nationalen Minderheit, der Ungarn-Deutschen. "Es gibt mehr als drei Dutzend Städte in Ungarn, in denen der Anteil der Minderheiten 10 Prozent übersteigt. Den höchsten Anteil hat das 3100 Einwohner zählende Städtchen Hajós, in dem 47 Prozent der Einwohner sich als Deutsch bezeichnen oder eine 'gemischte Identität' angeben. Ähnlich sieht es in Újhartyán aus. Der Anteil der Nachkömmlinge der vor 250 Jahren eingesiedelten Deutschen erreicht auch heute noch einen Anteil von 40 Prozent. An dritter Stelle wird die Stadt Pilisvörösvár (14.000 Einwohner) geführt, in der 28 Prozent bzw. beinahe 4.000 Menschen sich als Deutsch bezeichneten. Die Hochburg der ehemaligen deutschen Diaspora ist das süd-ungarische Komitat Baranya, wo eine ganze Reihe von 'multikulturellen' Städten zu finden sind."
Archiv: HVG

Men's Journal (USA), 01.09.2013

82 Jahre ist der Tenorsaxofonist Sonny Rollins mittlerweile alt, oder, wie er sich ausdrückt, "auf der falschen Seite von 81". Mark Jacobson trifft die Jazzlegende, die unter anderem mit Thelonius Monk, Clifford Brown, Max Roach, Charlie Parker und Miles Davis zusammen gespielt hat, und beschwört die gute alte Zeit: "Die Bop-Ära - diese flüchtige Periode von Nachkriegsoptimismus und -angst, kanalisiert durch afroamerikanischen Existenzialismus und serviert von einem Haufen größtenteils in New York ansässiger Musiker - setzt eindeutig die Hochwassermarke des Modernismus des 20. Jahrhunderts und kann es jederzeit mit allem aufnehmen, was Europa in den zwanziger Jahren an Kunst hervorgebracht hat. Eine glorreiche, urbane Zeit, als 'hip' (damals noch etwas völlig anderes) sein hieß, im Besitz eines Geheimcodes des Cool zu sein, der von schamanistischen Jazzern artikuliert wurde, die einen völlig neuen Rosettastein formen konnten, sobald sie in ihr Instrument bliesen oder auf die Trommel hauten."
Archiv: Men's Journal

Point (Frankreich), 22.08.2013

Bernard-Henri Lévy, den man nicht gerade der Sympathie für die Muslimbrüder verdächtigen kann, lässt keines der Argumente für den Putsch der ägyptischen Generäle und die darauf folgenden Gewaltexzesse gelten: "Das ist es ja wohl nicht, was die Millionen Demonstranten auf den Straßen von Kairo und Assuan im Juli wollten. Sie wollten keine kalkulierten Massaker und 38 Erstickte im Laderaum eines Gefangenentransporter. Die ägyptischen Demokraten haben nicht zuerst im Jahr 2011 und dann im Jahr 2013 Revolution gemacht, um Mubaraks Generäle zurückkommen zu sehen, Wiedergänger ihrer selbst, die nichts gelernt, nichts vergessen haben und in ein paar Tage mehr Zivilisten getötet haben als in den furchtbaren Wochen im Januar-Februar 2011."
Archiv: Point

LA Weekly (USA), 22.08.2013

Der Kriegsreporter und investigative Journalist Michael Hastings war überzeugt, im Fadenkreuz der Geheimdienste zu stehen, sprach ständig von Überwachung und Verfolgung. Als er im Juni unter unklaren Umständen bei einem Autounfall ums Leben kam, schossen die Verschwörungstheorien ins Kraut. Doch im Bild, das Gene Maddaus von Hastings entwirft, spielen auch Drogen- und Alkoholsucht, Depressionen und Paranoia eine Rolle und legen eine andere Möglichkeit nahe: "Er hatte eine dunklere Seite, die er meist verbarg. 'Selbstzerstörung fesselt mich', schrieb er einmal, auf dem Weg nach Baghdad. 'Es gab eine lange Zeit in meinem Leben, in der ich dachte, das einzige, was ich mit mir anzufangen wüsste, wäre mich zu zerstören.'"
Archiv: LA Weekly

London Review of Books (UK), 29.08.2013

Ian Penman liest Richard Weights Buch über die Subkultur der Mods, die ab den späten 50ern mit Jazz, Sartre, Amphetaminen und smarter Kleidung Popkultur und Existenzialismus miteinander verschmolzen (und sich, wie in "Quadrophenia" zu sehen, mit Rockern prügelten). "In ihrem weiteren Verlauf verlagerte sich die Subkultur vor allem darauf, die richtigen Platten und die abgenickten Uniformen zu tragen, doch zu Zeiten ihrer aufregenden, modernistischen Morgendämmerung gab es echten Hunger auf Filme, Bücher, Dialoge. ... Die frühen Mods waren Navigatoren, Magellane der Nachkriegs-Freizeitwelt, die man sich überhaupt erst vorstellen, der man diese oder jene Form verpassen musste. Alles war zu haben: Musik und Kleidung, Sex und Sexualität; Wort und Sprache von Verrissen und Hypes und Pop-Fantum; die Verkehrsmittel und Reisemöglichkeiten; Nacht ein, Nacht aus. Tatsächlich alles, was wir für heute als 'Jugendkultur' für selbstverständlich halten. Es war eine berauschende Zeit der Neudefinitionen, auch wenn uns der erste Migräneblitz jenes Paradoxons ereilen würde, der Mod aufteilen und andere Subkulturen hervorbringen würde: was als grundsätzliche Ablehnung des geregelten Lohnsklaven-Daseins begann, fand auf den Straßen seinen lebhaftesten Ausdruck im eifrigen Konsumismus. Wie Peter Gay in einer Paraphrase von Walter Gropius sagte: 'Das Heilmittel gegen die Krankheiten der Moderne ist noch mehr Modernität von der richtigen Sorte.' Hier könnte ein Mod gesprochen haben." In der Szene selbst kommt das Buch im übrigen gar nicht gut an. Und ziemlich herzig ist auch diese Reportage aus den 60ern:



Weiteres: Susan Watkins spürt anhand zahlreicher neuer Buchveröffentlichungen der neuen, von der Troika angeführten EU auf den Grund, die sie im Kern als demokratisch nicht legitimierten Übergriff auf nationale Souveränitäten versteht. Nikil Saval liest sich durch Romane von Nobelpreisträger Mo Yan. Christian Lorentzen erinnert daran, wie Norman Mailer 1969 Bürgermeister von New York werden wollte. Michael Wood begibt sich in die "moralische Wildnis" von Nicolas Winding Refns Film "Only God Forgives". Brian Dillon führt durch das Programm eines Festivals, das sich mit Marcel Duchamps Aufenthalt in Herne Bay befasst. Von dort hat er auch Postkarten geschrieben:


Elet es Irodalom (Ungarn), 23.08.2013

József Tamás Reményi denkt über den Trend nach, das ermattende Interesse an Literatur mit popularisierenden Bühnenprogrammen neu zu beleben. "Ich frage meine Kollegen und Fachleute, deren Leben die Literatur ist: Können wir wirklich glauben, dass unter dem Titel "Lesepopularisierung" veranstaltete Straßenfeste und Zirkusdarbietungen neue Leser rekrutieren? Wenn ein Pál Závada singt, wenn ein János Háy musiziert, wenn eine Virág Erdős ihre für die oppositionellen Ohren so lieblich klingenden Zeilen erzählt, wird es dann mehr Leser für die Romane von Závada geben? Werden mehr Menschen begreifen, warum das Buch von Háy 'A gyerek' (Das Kind) ein Grundwerk der neueren ungarischen Literatur ist, oder dass Erdős eine Meisterin der lyrischen Kurzprosa ist? (...) Solange in den Schulen die zeitgenössische Kunst keinen Eingang findet, die Bibliothekare entlassen werden, die restlichen als kopierende Hilfsarbeiter den Mindestlohn erhalten usw. können Autoren 'jugendlich' trommeln und singen, wie sie wollen - ohne Leseerfahrung werden lediglich die altbekannten Fragen gestellt: 'Seit wann schreiben Sie?' 'Nun, seit langem'."
Stichwörter: Ungarische Literatur

Guardian (UK), 24.08.2013

Die ägyptische Schriftstellerin Ahdaf Soueif schickt einen etwas verzweifelten Bericht aus Kairo, der die ausweglose Lage sehr deutlich macht. Vor einigen Monaten sahen sich die Ägypter vielleicht noch vor die Wahl zwischen Polizeistaat oder Muslimbrüder gestellt, jetzt heißt es nur noch Militär oder Militär: "Ein Mann, ein Ladeninhaber, begleitete mich zu meinem Haus: 'Die Armee wird die Muslimbrüder verjagen und wieder in die Kasernen zurückkehren, oder nicht?' Unmöglich zu sagen. Eine Theorie lautet, dass die Armee die Lektion von 2012 gelernt hat - das Jahr, in dem sie über Ägypten herrschte und die Bevölkerung gegen sich aufbrachte -, dass sie ihre Interessen und Privilegien schützen und auf ihre Regieplätze im Hintergrund zurückkehren wird. Eine andere Theorie lautet, ja, die Militärs haben ihre Lektion gelernt und werden jetzt sicherstellen, dass sie die öffentliche Meinung auf ihrer Seite haben. Seit dem 30. Juni sind die Medien voller Lobgesänge auf das Militär. Seit Dienstag kursieren zum ersten Mal Bilder von General Sisi in Zivilkleidung."

Emma Brockes lernt außerdem im Interview mit Margaret Atwood etwas über Entschlossenheit: "Früher oder später, tut mir leid, das sagen zu müssen, werden Sie sterben, wie wollen Sie also den Raum zwischen dem Hier und dem Da füllen? Es ist Ihrer. Besetzen Sie ihn." Etwas später sagt Atwood noch: "Entscheiden Sie sich. Und hören Sie auf zu jammern."
Archiv: Guardian

Magyar Narancs (Ungarn), 18.07.2013

Der neue Roman von Vilmos Csaplár, "Edd meg a barátodat!" (Friss deinen Freund auf!, Kalligramm), ist vor kurzem erschienen. Darin geht es um den Umgang mit der Vergangenheit: Wir leiden darunter, aber wir lassen sie nicht los. Bence Svéblis stellt das Buch vor. "Es geht damit los, dass der kleine Lilik nicht auf die Toilette gehen will. Er hält es zurück, es soll nichts rauskommen. (...) Grundsätzlich wird immer gesagt, es gebe zu wenig zeitgenössische Literatur über die Aufarbeitung der Vergangenheit, mittlerweile aber können damit Bibliotheken gefüllt werden. Die große Frage ist, wie Csaplárs Roman aus dieser Menge hervortreten kann. Etwas Besonderes hat das Buch. Hier erzählt jeder, in jedem sind unzählige Geschichten aufgesammelt, wie die Scheiße in Lilik. 'In jenen Jahren gab es eine kommunistische Diktatur in Ungarn, und die Diktatoren mögen, wenn die Unterdrückten fröhlich sind', können wir am Anfang lesen. Und doch bleibt die Geschichte nur im Hintergrund präsent. So ist die Revolution von 1956 hier kein Ereignis, sondern ein Zustand, in dem man überleben und existieren muss. (...) Die Frage bleibt: Was ist Surrealismus in einer Diktatur, wenn die Diktatur selbst surreal ist."
Archiv: Magyar Narancs

New York Magazine (USA), 25.08.2013

Boris Kachka spürt Thomas Pynchon nach - doch anders als andere versucht er nicht, dem öffentlichkeitsscheuen Autor im Hier und Heute nachzuspüren, vielmehr sucht er dessen Wurzeln. Und anders als Salinger ist Pynchon eben kein "recluse writer", sondern ständig auf der Flucht: "Sein Roman 'Die Enden der Parabel', der mit einer Rakete beginnt, die mit einem Heulen über den Himmel kommt, endet nicht mit einem Schlag, sondern, wenn sich der fliehende Slothrop in Figuren- und Plotfragmente auflöst, mit einer Diffusion. Im Nachspiel dieses Romans schien sich auch Pynchon in einer Reise kreuz und quer durchs Land genau wie seine Yo-Yo-Protagonisten aufzulösen. Sein Werk befasst sich mit Individuen auf der Flucht vor einem totalisierenden Komplex aus Regierung und Industrie; nun, auf Monate hin nicht aufzufinden, gelang es ihm, sein eigenes literarisches Projekt zu verkörpern."

Mary Kaye Schilling bereitet uns auf einen neuen Film von Scorsese/DiCaprio vor, der offenbar einiges zu bieten hat. Die australische Schauspielerin Margot Robbie spielt DiCaprios Frau. "In einem denkwürdigen Moment erregt Robbie DiCaprio im Kinderzimmer ihrer Tochter, indem sie sich selbst streichelt. Es dauerte siebzehn Stunden, bis die Szene im Kasten war. 'Eine ziemlich lange Zeit, um Selbstbefriedigung vorzutäuschen', sagt Robbie. 'Das strengt an! Und wir mussten die ganze Zeit lachen. Geht ja auch nicht anders, wenn dir immerzu vollkommen absurde Sachen passieren und der Regisseur dir sagt, dass du so weit gehen sollst, wie du willst. Ich mein', einmal kommt eine nackte Blaskapelle vorbei. Und wir versenken eine Jacht!"

Außerdem: Joe Hagan stellt den neuen Manager der New York Times vor, Mark Thompson, ehemaliger Generaldirektor der BBC, der gerade noch seinen Abgang vor dem Aufkochen des Jimmy-Savile-Skandals schaffte und jetzt die NYT endgültig im digitalen Zeitalter verankern soll.