Magazinrundschau

Eine gespenstische Leere

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
22.03.2022. Der New Yorker schildert die Abschaltung der russischen Zivilgesellschaft durch die Emigration der Menschen, die sie aufrecht gehalten hatten. Osteuropa bekommt in einem Interview mit Generaloberst Wladimir Tschirkin eine Ahnung, was der Ukraine nach einem Sieg Russlands blühen würde. Nach einem Sieg Russlands sieht es derzeit allerdings noch nicht aus, stellt die London Review fest. Atlantic begutachtet mit Fintan O'Toole die Kluft zwischen dem traditionellen und dem modernen Irland. The Quietus erinnert an das experimentelle japanische Label Vanity Records. Der Guardian fragt sich, warum die Pegel der großen Seen Kenias immer weiter steigen. Die New York Times fragt sich, wie lange der brasilianische Regenwald wirtschaftlichen und ideologischen Interessen noch standhalten kann.

New Yorker (USA), 28.03.2022

Masha Gessen porträtiert russische Freunde, die Russland verlassen haben, es verlassen mussten. Sie gehören zu der guten Viertel Million, die ihr Land seit dem Krieg gegen die Ukraine verlassen haben. Es ist schwierig für sie: Viele Länder nehmen sie nicht auf, jedenfalls nicht auf Dauer. Also gehen viele nach Georgien, wo sie bis zu einem Jahr ohne Visum bleiben können. Für Russland ist es ein schrecklicher Verlust: "Viele derjenigen, die Russland verlassen haben, sind IT-Fachleute; einige von ihnen scheinen, zumindest vorübergehend, in Eriwan, einem regionalen Technologiezentrum, zu bleiben. Andere sind Journalisten, Akademiker und Führungskräfte der NRO, die in Berlin, Tiflis, Tallinn und Vilnius landen. Ihre Ausreise beschleunigt den seit langem andauernden Prozess der Abschaltung der russischen Zivilgesellschaft, ohne dass der Staat die Menschen einzeln verfolgen und inhaftieren muss", erzählt Gessen. Aber auch für die Flüchtlinge, die alles verloren haben und als Russen schief angesehen werden, ist es schwer. "'Ich habe getan, was ich konnte', sagt Primakova. 'Aber ich bin keine Heldin. Ich fühle mich nicht schuldig gegenüber den Ukrainern, denn ich habe nicht das Gefühl, dass das, was in der Ukraine geschieht, in meinem Namen geschieht, aber ich fühle mich schuldig gegenüber den Menschen, die in Moskau zurückgeblieben sind. Und jedes Mal, wenn jemand, der mir wichtig ist, abreist, atme ich erleichtert auf und merke, wie viel Angst ich um ihn hatte. Es ist ein egoistisches Gefühl, diese Erleichterung, denn es bedeutet, dass ich mich etwas weniger schuldig fühlen kann.' Verantwortung, Schuldgefühle, Scham, ob individuell oder kollektiv - die vielen Abstufungen dieser Gefühle sind in jedem der neuen Exilanten nahe an der Oberfläche. 'In den ersten fünf Tagen konnte ich nicht verhindern, dass meine Hände zitterten', sagt Aleshkovsky. 'Ich wäre am liebsten buchstäblich vor Scham verbrannt. Wir alle sind für diesen Krieg verantwortlich. Selbst diejenigen, die viel getan haben, um ihn zu verhindern, haben nicht genug getan - denn der Krieg begann.' ... Wie kann man als Russe leben, während Russland ukrainische Häuser, Schulen und Entbindungsstationen bombardiert? 'Ich weiß nicht, was ich einem Ukrainer sagen kann', sagte Babitsky. 'Ich kann nicht so tun, als sei es Putin, der die Ukraine bombardiert, und ich hätte nichts damit zu tun. Ich kann nicht um Verzeihung bitten, denn Verzeihung kann man nicht geben, während Charkiw bombardiert wird. Was ich also sage, ist, dass ich ein riesiges Loch in mir habe, und ich bitte sie, mir zu sagen, was ich tun kann. Und das ist ihnen gegenüber nicht fair.'"

Patrick Radden Keefe lernt aus den Büchern von Catherine Belton ("Putins Netz") und Tom Burgis ("Kleptopia: How Dirty Money Is Conquering the World") in welchem Ausmaß Britannien russischen Oligarchen hilft, ihr Geld und ihre Reputation wäscht. Wer keine Lust zum Lesen hat, kann sich auch von dem ehemaligen Russland-Korrespondenten Oliver Bullough auf eine "Kleptokratie-Tour" durch London mitnehmen lassen: "Bullough taucht mit einer Busladung Gaffer vor eleganten Villen und Apartmenttürmen aus Stahl und Glas in Knightsbridge und Belgravia auf und zeigt die millionenschweren Residenzen der zwielichtigen Ausländer, die dort Zuflucht gefunden haben. In seinem soeben in Großbritannien erschienenen Buch 'Butler to the World: How Britain Became the Servant of Oligarchs, Tax Dodgers, Kleptocrats, and Criminals' argumentiert er, dass England aktiv um solche korrumpierenden Einflüsse geworben hat, indem es 'einige der schlimmsten Menschen, die es gibt', wissen ließ, dass es für Geschäfte offen ist." Bestätigt werden die Recherchen der drei von der "britischen National Crime Agency, die feststellte, dass jedes Jahr 'viele hundert Milliarden Pfund an internationalem kriminellem Geld' über britische Banken und Tochtergesellschaften gewaschen werden. Und vom Geheimdienstausschuss des Parlaments, der London als 'Waschsalon' für illegales russisches Geld bezeichnet hat. Und vom Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten des Unterhauses, der 2018 erklärte, dass die Leichtigkeit, mit der der russische Präsident und seine Verbündeten ihren Reichtum in London verstecken, Putin geholfen hat, seine Agenda in Moskau zu verfolgen."

Weiteres: Die Musiker Emily Richmond Pollock und Kira Thurman diskutieren über das Canceln russischer Musiker wie Anna Netrebko oder Alexander Malofeev, die sich nicht ausdrücklich von Putin distanzieren wollen. Becca Rothfeld liest mehrere Bücher zum "Shaming-Industriekomplex". Calvin Tomkins porträtiert die Künstlerin Simone Leigh, die die USA auf der nächsten Kunstbiennale in Venedig vertreten wird. Carrie Battan hört Reggae von Koffee, und Anthony Lane sah im Kino Graham Moores "The Outfit" mit Mark Rylance als Schneider in der Savile Row.
Archiv: New Yorker

HVG (Ungarn), 10.03.2022

Im Interview mit Péter Hamvay denkt der Schriftsteller, Übersetzer und Slawist György Spiró über die Motive Putins für den Überfall auf die Ukraine nach. "In den ersten Tagen des Krieges rechneten amerikanische und westeuropäische Militärexperten mit einer ukrainischen Niederlage und wünschten sich diese sehr schnell herbei", glaubt er. "Es wäre für sie optimal gewesen, wenn sich die ukrainische Führung ergeben hätte. Die Kämpfenden hätten auch aufgegeben, sie hätten dann Selenskyj zur Flucht verholfen und man hätte mit den Russen verhandeln können. Es ist anders gekommen, der ukrainische Präsident hat seine Rolle ernst genommen und die Ukrainer halten tapfer die Stellung. Für den Westen ist die Eskalation des Krieges sehr schlecht - weil eine Verlängerung des Krieges ihn zu einem Eingreifen zwingen könnte und wirtschaftlich sowieso. Es liegt auch nicht im Interesse des Westens, dass Putin durch eine Kriegsniederlage weggefegt wird, denn das könnte noch unberechenbarere Folgen für die Welt haben. (…) Die Covid-Pandemie hatte weltweit sofort aufgehört zu existieren, als der Krieg begann. Ein starkes Europa ist nicht im Interesse der USA, doch es wird seit einiger Zeit von alleine schwächer, durch den Austritt der Briten, durch den Abschied von Merkel. Die USA und Europa waren seit langer Zeit nicht so schwach. Und so dachte Putin wohl, jetzt oder nie."
Archiv: HVG

The Atlantic (USA), 21.03.2022

Seht ihr denn nicht, dass die Ukrainer gerade dabei sind, den Krieg zu gewinnen, fragt ein fassungsloser Eliot A. Cohen (Politologe und Autor des Buchs "The Big Stick - The Limits of Soft Power and the Necessity of Military Force"). Beweise für ein klägliches Versagen der russischen Invasion gebe es inzwischen genug. Der Westen soll aufhören, sich selbst als "schwach" zu betrachten, insistiert Cohen: "Die Ukrainer leisten ihren Beitrag. Jetzt ist es an der Zeit, sie in dem Umfang und mit der Dringlichkeit zu bewaffnen, wie wir es in einigen Fällen bereits tun. Wir müssen die russische Wirtschaft drosseln und den Druck auf eine russische Elite erhöhen, die im Großen und Ganzen nicht auf Wladimir Putins bizarre Ideologie des 'Überlebenswillens' und des paranoiden großrussischen Nationalismus hereinfällt. Wir müssen offizielle und inoffizielle Stellen mobilisieren, um den Informationskokon zu durchbrechen, in dem Putins Regierung das russische Volk vor der Nachricht bewahren will, dass Tausende seiner jungen Männer verstümmelt, in Särgen oder gar nicht aus einem dummen und schlecht geführten Angriffskrieg gegen eine Nation heimkehren werden, die sie nun für immer hassen wird."

Wer wissen will, wie es um das moderne Irland bestellt ist, dem empfiehlt Cullen Murphy wärmstens Fintan O'Tooles Buch "We Don't Know Ourselves", eine Mischung aus Geschichtsbuch und Memoir. Es beginnt in den 60ern: Irland war noch ein streng katholisches Land, Milch wurde noch im Pferdewagen geliefert, "die offizielle Version der irischen Geschichte war ein düsterer, grauer, pietistischer Nationalismus. Als die sterblichen Überreste von Roger Casement, der wegen seiner Beteiligung an der Vorbereitung des Osteraufstands hingerichtet worden war, von Britannien in einer Geste des guten Willens an Irland zurückgegeben wurden, war der Anlass von düsterer Feierlichkeit geprägt. Als Pfadfinder marschierte ich an einem Tag, an dem es regnete und schneite, in einem Zug hinter Casements fahnengeschmücktem Sarg her. Doch im selben Irland entstanden zur selben Zeit rund um den Flughafen Shannon und seine berühmten Duty-Free-Läden in Windeseile Gewerbegebiete. ... Tatsächlich, so schreibt O'Toole, existierten zwei sehr unterschiedliche Irlands unbehaglich nebeneinander, wobei keines das andere verdrängte: 'Irland' als Begriff war fast erdrückend kohärent und fest: Katholisch, nationalistisch, ländlich. Dies war die platonische Form des Landes. Aber Irland als gelebte Erfahrung war inkohärent und unbestimmt. Das erste Irland war abgegrenzt, geschützt, abgeschirmt von den unappetitlichen Einflüssen der Außenwelt. Das zweite war grenzenlos, beweglich, physisch auf dem Weg zu dieser Außenwelt. In dem Raum zwischen diesen beiden Irlands herrschte eine gespenstische Leere, ein Gefühl von etwas, das so unwirklich war, dass es ganz verschwinden könnte. Leere ist eigentlich nicht das richtige Wort. Wie O'Toole weiter ausführt, war dieser Raum reichlich gefüllt, und zwar durch die Heuchelei der irischen Führer und durch eine Art 'Doppelzüngigkeit' aller anderen - eine Art, zu sehen und nicht zu sehen, ein Lippenbekenntnis zu einer Reihe von Werten abzulegen, während man sein Verhalten an einer anderen festmacht."
Archiv: The Atlantic

Guardian (UK), 21.03.2022

Während die Welt mit Corona beschäftigt war, sah sich Kenia mit einem unerklärlichen Phänomen konfrontiert: Die Pegel der großen Seen des Landes steigen in enormer Geschwindigkeit, wie Carey Baraka berichtet: Lake Baringo, Nakuru oder Naivasha haben sich um bis zu 50 Prozent ausgebreitet, zehntausende Familien mussten bereits umgesiedelt werden. Ein Regierungsbericht macht die durch den Klimawandel gestiegenen Regenfälle verantwortlich, Geologen tippen auf tektonischen Verschiebungen im Rift Valley. Doch selbst der in der Wüste gelegenen Lake Turkana weitet sich auch: "In einem Dorf an seinen Ufern beklagten die El Molo das Ansteigen des Sees. Die Dorfältesten erzählten mir, dass sie gezwungen waren, ihr Dorf Luyeni umzusiedeln, indem sie ihre Strohhäuser vorsichtig entwurzelten und sie weiter vom Wasser entfernt aufstellten. Während wir sprachen, schwebten weiße Möwen träge über dem Wasser, wie von einem Zephir getragen. Die Ältesten hatten bemerkt, dass der See immer größer wurde, und durch ihre Fischzüge wussten sie, dass er auch immer tiefer wurde. Sie erzählten mir von einer Straße, die zuletzt vor zehn Jahren benutzt worden war, bevor sie unter dem Wasser versank, und sagten voraus, dass die Straße, die ich genommen hatte, um nach Luyeni zu kommen, ebenfalls bald unter Wasser stehen würde. Sie wussten auch, dass dies nicht nur ein Phänomen der Turkana ist; sie hatten gehört, dass dasselbe in anderen Seen des Rifttals, sogar in Kisumu, passierte. Die Ältesten hatten ihre eigenen Theorien darüber, was mit ihrem See, Mpaso, in der lokalen Sprache der El Molo, geschah. 'Vielleicht gibt es eine gebrochene Quelle im Boden, vielleicht sind die Felsen zerbrochen, so dass das Wasser hochschießt', sagte einer von ihnen. Vielleicht ist der Fluss Omo in Äthiopien derjenige mit dem Riss, schlug ein anderer Älterer vor."
Archiv: Guardian

Osteuropa (Deutschland), 21.03.2022

Osteuropa dokumentiert ein Interview aus der Komsomolskaja Prwada, in dem der ehemalige Oberkommandierende des russischen Heeres, Wladimir Tschirkin, den Krieg gegen die Ukraine kommentiert - in einer verstörenden Mischung aus Eitelkeit, Verblendung und Kälte. Und Tschuirkin verrät auch, wie er sich die Besatzung der Ukraine nach einem russischen Sieg vorstellt: "Ich denke, dass der Gegner nach der vollständigen Einkreisung von Kiew dann doch zunehmend seine Kampfmoral verliert und seinen Widerstand aufgibt. So scheint mir das. Und dann? Dann kommt unsere Nationalgarde dran. Die gesamte Kriegswissenschaft hat schon immer gelehrt, dass gleich nach den Truppen die Polizei, der FSB, die Staatsanwaltschaft und die Auszahlungsstellen für den Sold kommen müssen. Eine Volkszählung muss gemacht werden, Lebensmittel sind ein Thema und Renten. Und wie machen wir die Entnazifizierung der Ukraine? Wie filtern wir diejenigen raus, die gegen Russland und den Donbass gekämpft haben? Die haben ja nicht alle Bandera-Tätowierungen. Stimmt. Aber Tätowierungen sollten trotzdem überprüft werden. So eine Filtration, das ist eine mühsame, langwierige und unangenehme Arbeit, aber sie ist unbedingt notwendig für die Ukraine. Daran führt kein Weg vorbei."
Archiv: Osteuropa

London Review of Books (UK), 21.03.2022

Tom Stevenson hat sich mittlerweile auch nach Kiew durchgeschlagen und berichtet von Flüchtenden in den Zügen nach Westen und Paramilitärs, die sich in Kellerkneipen martialisch geben, aber absolut nüchtern bleiben. Über die Kriegsgeschehnisse hat er auch einiges in Erfahrung gebracht: "Der militärische Erfolg der Ukraine lässt sich größtenteils mit den Waffenlieferungen und der Ausbildung erklären, die die ukrainischen Streitkräfte seit 2014 erhalten haben. Gemessen an ihrem Geldwert war die von den USA und ihren Verbündeten gelieferte militärische Ausrüstung bescheiden. Aber die Waffen erwiesen sich als gut geeignet für diesen Krieg. Die von den USA gelieferten Panzer- und Flugabwehrwaffen wie auch Radarsysteme und Geräte für die sichere Kommunikation erscheinen heute als vorausschauend. (Es kann nicht geschadet haben, dass der amerikanische Geheimdienst anscheinend eine Quelle im Kreml mit Zugang zu den Kriegsplänen hatte.) Die ukrainische Armee hat die Panzerabwehrwaffen aus westlicher Produktion gut genutzt, und tragbare Luftabwehrsysteme scheinen den Einsatz russischer Luftstreitkräfte im großen Stil verhindert zu haben. Anstatt die Ukraine mit protziger und teurer Ausrüstung zu versorgen, die im Nahen Osten eher dazu dient, Abhängigkeit zu fördern als Effektivität, haben die USA die ukrainischen Streitkräfte in Form gebracht, um Russlands konventionelle Armee zu frustrieren."

Außerdem liefern zahlreiche LRB-Autoren Beiträge zur russischen Invasion in der Ukraine, darunter Neal Ascherson, Sheila Fitzpatrick, Jeremy Harding, Laleh Khalili, Thomas Meaney, James Meek, Pankaj Mishra, Azadeh Moaveni, Vadim Nikitin, Olena Stiazhkina, Vera Tolz und Daniel Trilling. Fredric Jameson feiert Olga Tokarczuks "Jakobsbücher" als Beleg für das "eigentlich Unmögliche, den Roman eines Kollektivs zu schreiben. 'Denn der Messias ist hier nicht ein einfach falscher Prophet, sondern der in allen Adern fließende, kostbare Glaube des Menschen daran, dass Erlösung möglich sei.'"

Quietus (UK), 15.03.2022

Miranda Remington erinnert an das zwar kurzlebige, aber umso aufregendere japanische Label Vanity Records, dessen zwischen 1978 und 1981 entstandene Diskografie vor nicht allzu langer Zeit in der Box "Tolerance" neu aufgelegt wurde. "Der sonische Schatten dieses Label greift auch nach den aufmerksamen Ohren von heute, ein vergnüglicher Schock, den schroffen Resonanzen zum Trotz. Das Spektrum der Stile, die sich hier im Lärm verwischen - Post-Punk-Seltsamkeiten, grimmiger New Wave, Minimal-Synth und Ambient-Experimente mit Radiorauschen - bringt in den Ohren internationaler Plattensammler auf verführerische Weise eine Saite zum Klingen." Das Label "erschien prophetisch an der Schwelle zu einem wichtigen kulturellen Moment - ihre bröckelnden Klanglandschaften spiegeln die kulturellen Turbulenzen im Japan der Nachkriegszeit wider, als Tokio nach einem Wirtschaftswunder und einem Technologieboom zum Ground Zero einer kommerziellen Explosion wurde und die bis dahin allgegenwärtige traditionelle Umgebung in alarmierendem Tempo ersetzt wurde. In einer völlig technisierten Gesellschaft schwelgen Vanitys Klänge mit neu verfügbaren monophonen Synthesizern, Sequenzern und Drumcomputern in fetischistischen Geräuschbehandlungen, die das Unbehagen an der Schattenseite der Gesellschaft lautstark zum Ausdruck bringen. Die metallische Atmosphäre von 'Tolerance' in den Alben 'Anonym' und 'Divin' spricht unsere mutierte Psyche an, indem sie eine künstliche Welt mit sinnlichen Echos auskostet. 'Sympathy Nervous' fixieren sich auf kalte, gebrochene Synthie-Bleeps und verwenden für ihre Kompositionen eine geheimnisvolle Erfindung, einen selbst programmierten Computer namens U.C.G. (Universal Character Generator) zusammen mit einem Theremin. Die Atomisierung der japanischen Angestelltenbevölkerung wird in den White-Noise-Experimenten von "Salaried Men Club' mit einem nebligen Minimalismus dargestellt, der wie eine musikalische Entsprechung zu Shinya Tetsukamotos Cyberpunk-Horrorfilm 'Tetsuo: The Iron Man' klingt. Die Themen der modernen Entfremdung, die der Westen erforscht hat, werden im Klang geschärft und in ihrer Resonanz erhöht, mit einer fremdartigen Obskurität, die so verlockend ist wie Geräusche aus einer fernen Welt."



Außerdem spricht Joe Banks mit Iain McIntyre, Ko-Herausgeber der Essay-Anthologie "Dangerous Visions And New Worlds", die den Modernisierungsschub der literarischen Science Fiction von 1950 bis 1985 in den Blick nimmt. Und Mat Colegate erklärt in einem spaßigen Essay, wie man im Grunde des Herzens schundiger Fantasy-Filme aus den Achtzigern auf wahre Filmkunst stößt.
Archiv: Quietus

New York Times (USA), 19.03.2022

Lange nichts von William Langewiesche gehört, einem der großartigsten Reporter Amerikas. Seine Art, Geschichten zu erzählen, die nicht permanent "Ich ich ich" sagt, ist fast altmodisch geworden. Und er ist auch in seiner jüngsten Reportage ein mutiger Autor, nicht so sehr, weil er sich in den brasilianischen Regenwald begibt, sondern weil jeder von Anfang ahnt, dass seine Geschichte kein gutes Ende haben wird. Er porträtiert den freien Anthropologen Edward Luz, der für wirtschaftliche Interessenten gegen Schutzgebiete für unberührte Völker kämpft - nicht gerade ein sympathischer Job. Aber Langewiesche ist auch ehrlich genug darzulegen, dass die Utopie der Unberührtheit selbst in der Ethnologie umstritten ist. Luz ist Sohn eines evangelikalen Priesters, und wie man heute auch an anderer Stelle erfährt, ist nichts zerstörerischer als ideologischer Wahn: "Der Vater von Edward Luz, dessen Name ebenfalls Edward Luz lautet, leitet heute den brasilianischen Ableger der 'New Tribes Mission'. Die Mutterorganisation in den Vereinigten Staaten und die ihr angeschlossenen Organisationen entsenden weltweit etwa 3.000 Missionare. Sie lebt von reichlichen Spenden evangelikaler Kirchen in ganz Nordamerika. Im Jahr 2017 änderte sie ihren Namen in Ethnos 360, einige Jahre nach einem Skandal um Kindesmissbrauch in ihren Internaten im Senegal und auf den Philippinen. Die Gruppe wurde 1942 von einem bekehrten Kalifornier namens Paul Fleming gegründet, der als junger Mann eines Nachts in Los Angeles aufwachte und seine Mutter sah, die neben seinem Bett kniete und für sein Seelenheil betete. Dieses Erlebnis scheint ihn geprägt zu haben. Er wurde Missionar, wurde nach Britisch-Malaya geschickt, um Seelen zu retten, erkrankte an Malaria und kehrte nach Kalifornien zurück, um sich zu erholen. Später half er mit, die New Tribes Mission zu gründen, um das Evangelium zu allen 'unberührten' Völkern der Welt zu bringen, wie es seiner Meinung nach in der Bibel gefordert wird, um die Wiederkunft Christi einzuleiten." Langewiesches Reportage spielt in einem der abgelegensten Teile des Dschungels - und auch hier zeigt sich, dass seine Zerstörung nicht mehr aufzuhalten ist.
Archiv: New York Times