Magazinrundschau - Archiv

Le Monde diplomatique

77 Presseschau-Absätze - Seite 2 von 8

Magazinrundschau vom 17.09.2019 - Le Monde diplomatique

Es kann gut sein, dass Boliviens Präsident Evo Morales bei den kommenden Wahlen sein Amt verliert, berichtet Marielle Mariette, und ausgerechnet die Indigenen, denen seine Politik zum Aufstieg verholfen hat, verweigern ihm die Gefolgschaft: "Selbst in Bolivien, dem ärmsten Land Südamerikas, entstand eine neue Mittelklasse, die die Wahlaussichten der Parteien auf den Kopf stellt. Obwohl sich diese Klasse erst dank der Umverteilungspolitik progressiver Regierungen herausbilden konnte, profitiert davon nicht unbedingt die Linke. 'Nach einer gewissen Zeit setzen die neuen Mittelschichten eher auf Marktwirtschaft statt auf eine staatlich gelenkte, protektionistische Politik', freute sich 2010 der leitende Lateinamerika-Redakteur der Wochenzeitung The Economist. Raúl García Linera, Bruder und Berater des amtierenden Vizepräsidenten Álvaro Linera, diagnostiziert denn auch einen 'gesellschaftlichen Trend zum Konservatismus'. Mit wachsendem Lebensstandard mache sich das Gefühl breit, man brauche die herrschende Ordnung nicht mehr zu verändern. Ist es das Schicksal linker Regierungen, dass sie ausgerechnet von den Menschen, die von ihrer Politik am meisten profitiert haben, schließlich aus dem Amt gejagt werden?"

Weiteres: Hongkongs Regierung wird die tiefe politische Krise nicht mit ein paar finanziellen Wohltaten überdecken können, meint Martine Bular, zu tief sind die Hongkonger über ihre Zukunft verunsichert: "Diese Identitätskrise geht mit einer sozialen Krise einher. Hongkong zählt zu den reichsten Städten der Erde, was auch die Rekordzahl von 67 Milliardären zeigt (laut US-Magazin Forbes). Andererseits sind die Ungleichheiten besonders krass ausgeprägt: 20 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsschwelle." Mickael Correia blickt auf den überhitzten Wohnungsmarkt in Lissabon, wo reiche Angolaner und Touristen die Immobilienpreise in die Höhe schießen lassen: "Innerhalb von zehn Jahren ist die Zahl der Ferienwohnungen um 3000 Prozent gestiegen. Seit Ende 2018 führt Lissabon die Rangliste der europäischen Städte mit den meisten Airbnb-Wohnungen pro Einwohner an, noch vor Barcelona und Paris."

Magazinrundschau vom 13.08.2019 - Le Monde diplomatique

Morgen feiert Tunesien den Tag der Frau, aber wie Akram Bekkaid berichtet, wird wohl auch in diesem Jahr das bahnbrechendes Gesetz zur Gleichstellung der Frau im Erbrecht nicht durchkommen. Selbst im fortschrittlichen Maghreb-Land ist der Widerstand groß, auch hier soll die Frau nur die Hälfte dessen erben, was der Mann bekommt, wie es der Koran verlangt: "Viele Tunesier, die die Gleichstellung in Erbangelegenheiten eigentlich befürworten, weisen auf die Konsequenzen hin, die eine solche Reform nach sich ziehen würde. Und wenn man die islamischen Rechtsgelehrten (Ulema) nach den Gründen für diese krasse Ungleichheit fragt, erklären sie, dass der Islam zur Zeit seiner Entstehung dazu beigetragen habe, die Stellung der Frau zu verbessern, indem er ihnen unter anderem erlaubte, überhaupt zu erben. Das war damals unter der Bevölkerung der Arabischen Halbinsel nicht immer der Fall. Die Halbteilregel sei außerdem gerechtfertigt durch die Belastungen, vor allem finanzieller Art, die mit der gesellschaftlichen Rolle des Mannes einher gingen: Ein neues Erbrecht müsste an eine grundlegende Reform auch des Status des Mannes als 'Familienoberhaupt' gekoppelt werden - laut Gesetz ist der Mann dazu verpflichtet, für den Unterhalt der gesamten Familie zu sorgen. Es ist allerdings fraglich, ob die tunesischen Männer bereit sind, diese dominante Rolle aufzugeben, obwohl sie mit finanziellen Lasten und Verpflichtungen verbunden ist. Auch hier erweisen sich die alten patriarchalen Reflexe als überaus zählebig - und das gilt wie gesagt nicht nur für die Islamisten."

Weiteres: Loïc Ramirez beschreibt das Geflecht bewaffneter Gruppen aus Militärs, Paramilitärs, Guerillas und Narcos, die in Kolumbien auch nach dem Friedensschluss von Regierung und Farc noch immer aktiv sind. Adam Shatz erinnert an Edward Saids vor vierzig Jahren erschienene, einflussreiche Studie über den "Orientalismus", die eben diesen als "Diskurs der Mächtigen über die Machtlosen" beschrieb.

Magazinrundschau vom 17.06.2019 - Le Monde diplomatique

Nach den Europa-Wahlen hält es Ivan Krastev für illusorisch, dass die rechtsradikalen Parteien bald wieder in der Versenkung verschwinden. Und noch beängstigender scheint ihm aber, dass sich die illiberale Demokratien in der EU festsetzen: "Die neue Stärke der Rechtsextremen nährt sich nicht nur aus den gewonnenen Wählerstimmen. Sie rührt auch daher, dass die Grenze zwischen dem politischen Mainstream und dem rechtsextremen Lager mittlerweile die in Europa am schwächsten bewachte Grenze ist."

Rémi Carayol beobachtet im Norden Nigers den Zusammenbruch der Ökonomie, seit der Staat auf Druck der EU gegen die Migration vorgeht: "In Agadez gleichen die 'Ghettos', die großen Häuser, in denen die Migranten untergebracht und versorgt werden, immer häufiger Gefängnissen. Seit sie für illegal erklärt wurden, können die Migranten sie nicht mehr verlassen, ohne das Risiko einzugehen, entdeckt zu werden. Die Preise für den Transport haben sich verdreifacht. Sobald die Polizei auftaucht, machen sich die Fluchthelfer aus dem Staub und lassen ihre Passagiere, darunter teilweise auch Kinder, mitten in der Wüste zurück. Auch für die lokale Bevölkerung hat sich die Situation verschlechtert. Verschiedene Studien zeigen, dass mehr als die Hälfte der Haushalte in Agadez von der Migration lebte: Fast 6.000 Menschen verdienten ihr Geld als Fluchthelfer, als Coxer (Mittelsmänner), als 'Ghetto'-Besitzer oder Fahrer; tausende andere profitierten indirekt - sei es als Köchin, Händler oder Taxifahrer."

Weiteres: Die Protestbewegungen in Algerien und Sudan hält der Afrikanist Gilbert Achcar politisch für ausgesprochen stark und immun gegen die Vereinnahmung islamischer Fundamentalisten. Aber dennoch werden sie es schwer haben, ahnt er: "Anders als in den lateinamerikanischen oder ostasiatischen Ländern, wo die politische Modernisierung die sozioökonomische Modernisierung komplettiert hat, geht es in der arabischen Welt vielmehr um die Abschaffung eines politischen Systems, das die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung seit den 1980er Jahren blockiert." Akram Kharief erkundet die heikle Lage im Iran.

Magazinrundschau vom 16.04.2019 - Le Monde diplomatique

Auf ihren Demonstrationen gegen Algeriens greisen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika fragten die Menschen immer wieder "Wer sind die Entscheider?" oder "Wo verstecken sich die Entscheider?". Akram Belkaïd und Lakhdar Benchiba rekapitulieren, wie sich hinter der Fassade der Einheitspartei FLN die Machtverhältnisse in Algier immer wieder verschoben, vom Militär zum Geheimdienst zur Präsidenten-Entourage und zurück. Aber nach Bouteflikas Rücktritt weiß eigentlich niemand, wer künftig die Macht in Händen halten wird: "Innerhalb von Bouteflikas innerstem Zirkel hatte sich in den vergangenen Jahren ein neues Machtzentrum gebildet. Es bestand aus Geschäftsleuten, die Said Bouteflika nahestanden, darunter auch solche, die bis Anfang der 2000er Jahre noch kleine Unternehmer waren und mit zahlreichen Infrastrukturaufträgen des Staats reich geworden sind. Mit Öl- und Gasexporten hat Algerien zwischen 2000 und 2015 mehr als eine Billionen US-Dollar an Devisen eingenommen. Diese Rente hielt den auf Korruption basierenden algerischen Kapitalismus am Leben. Niemand symbolisierte den Aufstieg der politisch einflussreichen Oligarchen deutlicher als Ali Haddad, der langjährige Präsident des mit Abstand wichtigsten Unternehmerverbands (FCE). Dem FCE gelang es zum Beispiel im Sommer 2017, den gerade erst ernannten Premierminister Abdelmadjid Tebboune gleich wieder abzusägen, weil dieser plante, den Bezug von Devisen für private Importeure zu beschneiden. Als Haddad Ende März von seinem Amt als FCE-Präsident zurücktrat und in der Nacht auf den 31. März an einem algerisch-tunesischen Grenzübergang wegen Devisenvergehen festgenommen wurde, war das ein klares Zeichen dafür, dass es mit der Präsidentschaft Bouteflikas zu Ende ging. Mittlerweile dürfen zahlreiche dem Bouteflika-Clan nahestehende Geschäftsleute Algerien nicht mehr verlassen, Privatflugzeuge haben auf den Flughäfen des Landes Startverbot."

Magazinrundschau vom 12.03.2019 - Le Monde diplomatique

Die Politikwissenschaftlerin Julia Buxton kann sich nicht vorstellen, dass Venezuelas Opposition über den Sturz von Präsident Nicolás Maduro hinaus Einigkeit in den eigenen Reihen herstellen könnte. Die Parteien sind zersplittert und zerstritten, schreibt sie. Juan Guaidós Voluntad Popular gehöre zu den kleineren Parteien und genieße wegen ihrer Kompormisslosigkeit, ihrer Nähe zu den USA und ihrer elitären Verfasstheit wenig Rückhalt in der Bevölkerung: "Die Unfähigkeit der Opposition, sich zu einigen, ist Teil ihrer grundsätzlichen Schwäche: Sie hat kein klares politisches Projekt, das die Mehrheit der Venezolaner überzeugen könnte. Der Plan País, der in den USA ausgearbeitet wurde und sich auf Leopoldo López' Buch 'Venezuela Energética' stützt, beschreibt zwar detailliert die Missstände der venezolanischen Ökonomie; über die technische Umsetzung der Pläne zur Wiederbelebung der nationalen Wirtschaft gibt er aber wenig Auskunft. Eine Umstrukturierung von Venezuelas Öl-, Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik durch die von Guaidó ohne weitere Diskussionen ernannten Personen aus dem Umfeld der Voluntad Popular wird - ob Maduro im Amt bleibt oder nicht - die Opposition zersplittern. Da Maduro nach wie vor einen Teil der Bevölkerung hinter sich hat, verhindern das Fortbestehen der inneren Spaltungen, der Hang zum Personalismus und eine Politik des 'Jeder für sich und dem Sieger alles' innerhalb der Opposition eine friedliche Einigung über die Zukunft Venezuelas."

Außerdem porträtiert Eric Alterman Elliott Abrams, Donald Trumps Sonderbeauftragten für die "Wiederherstellung der Demokratie in Venezuela", als amoralischen Erzschurken: "Mit Ausnahme von Henry Kissinger und Dick Cheney lässt sich schwerlich ein US-Amtsträger finden, der mehr zum Einsatz von Folter und Massenmord im Namen der 'Demokratie' beigetragen hat als Elliott Abrams."

Magazinrundschau vom 18.12.2018 - Le Monde diplomatique

Wie in New Orleans nach Hurrikan Katrina der Krieg gegen die Armen und Schwarzen lanciert wurde, hat Naomi Klein in ihrer "Schock-Strategie" einschlägig beschrieben: Das staatliche Krankenhaus wurde geschlossen, der Wohnungsmarkt dereguliert, Sozialbauten abgerissen, der Sicherheitsapparat verstärkt und alles auf den Party-Tourismus ausgerichtet. Besonders bitter findet Olivier Cyran allerdings die Privatisierung der Schulen. Die Gewerkschaften wurden gesprengt, alle 7.500 LehrerInnen der Stadt entlassen und durch Berufanfänger ersetzt, alles auf Betreiben der Demokraten in Louisiana und mit freundlicher Unterstützung der Bill und Melinda Gates Stiftung: "Die Sozialarbeiterin Ashana Bigard bietet eine Rechtsberatung für Eltern an, deren Kinder Probleme mit der Schule haben. Sie meint, der Erfolg des Chartermodells liege vor allem an seinen drakonischen Disziplinarmaßnahmen: 'Sie nennen das die no excuse-Regel. Die Kinder müssen wie die Gänse in einer Reihe marschieren, an manchen Schulen mit einer mehrheitlich schwarzen Schülerschaft wurden sogar die Pausen gestrichen. Sie werden bestraft, wenn sie sich gegen die Wand lehnen, den Kopf auf den Tisch legen oder eine Bluse in der falschen Farbe tragen.' Das Schlimmste sei aber das Redeverbot in der Mensa und während des Mittagsschlafs. Die charter schools sind ihr ein solcher Graus, dass Bigard überlegt, ihre Heimatstadt zu verlassen. 'Ich möchte, dass mein Sohn in der Schule Musikunterricht hat, aber das ist jetzt nicht mehr möglich. Damals, vor Katrina, gab es in allen Klassen Musikkurse, dort haben viele bekannte Musiker angefangen. Mein Großonkel Barney Bigard war ein großer Jazzklarinettist, er hat mit Duke Ellington und Louis Armstrong gespielt - und mein eigener Sohn hat noch nicht mal Zugang zu einem Instrument. Dass ausgerechnet in der Geburtsstadt des Jazz der Musikunterricht abgeschafft wurde, sagt viel über die tief greifenden Veränderungen aus."

Außerdem: Alexis Spire analysiert die Steuerungleichheit in Frankreich. Hicham Alaoui erklärt den Islamismus in jeder Hinsicht für gescheitert. Nur Parolen habe er aufgeboten: "'Der Islam ist die Lösung, und der Koran ist unsere Verfassung' - ein armseliger Ersatz für eine Antwort auf die sozialen und wirtschaftlichen Probleme Massenarbeitslosigkeit, wachsende Armut, marode Bildungssysteme und endemische Korruption."

Magazinrundschau vom 18.09.2018 - Le Monde diplomatique

Der bulgarische Theoretiker Ivan Krastev erklärt in einem ebenfalls sehr lesenswerten Essay den Aufstieg populistischer Bewegungen in Osteruopa mit dem Bruch der langjährigen Allianz aus Nationalismus und Liberalismus: "Im 19. Jahrhundert und dann erneut in den 1970er und 1980er Jahren konnten sich Liberale und Nationalisten auf eine gemeinsame Linie einigen, die auf sozialer und politischer Inklusion und einer Kultur bürgerlicher Grundrechte beruhte, zugleich aber einen tief empfundenen Nationalstolz mit einschloss. Dagegen ist der zentraleuropäische Nationalismus von heute auf eine ethnonationalistische Sicht verengt, die sich aus demografischen Ängsten speist, aber auch aus der Ungewissheit über die sich wandelnde Rolle Europas in der Welt. Populistische Regime wollen - nicht nur in Zentraleuropa - die Republik der Bürger in eine Republik der Fans verwandeln: Bürger stehen loyal zu Ideen und Institutionen, zugleich aber kritisch zu ihren Politikern; Fans stehen nur auf Symbolpolitik."

Juan Brancos Report aus der Zentralafrikanischen Republik liest sich wie ein überzogener Polit-Thriller aus den siebziger Jahren. Seit Frankreich sich aus dem Land zurückgezogenen hat, herrscht dort Chaos. In der Hauptstadt Bangui tummelns sich Geheimdienste und Neokolonialisten, libanesische Diamantenhändler, chinesische Ölkonzerne und russische Söldner. Und gegen marodierende Rebellengruppen helfen kaum UN-Truppen, die selbst immer wieder durch Raub und Vergewaltigung von sich reden machen. Kann es noch schlimmer kommen? "Während sich die Rebellen unter der Ägide ihres Verbündeten Idriss Déby im Tschad bereits sammeln, verspricht Paris, sich auch diesmal nicht einzuschalten. Das bestätigt auch der französische Botschafter in Bangui. Auf einer neuen Karte zeigt uns sein Berater, wo die Waldschutz-NGOs aktiv sind, die von der CIA kontrolliert werden, um den wachsenden Einfluss der russischen Söldner und chinesischen Unternehmen einzudämmen. Frankreich, das im UN-Sicherheitsrat bei allen zentralafrikanischen Fragen das Heft in der Hand hat, gewährte Russland verblüffenderweise eine Ausnahme von dem seit dem Bürgerkrieg geltenden Waffenembargo. Aus Russland kamen daraufhin 175 Ausbilder und tausende Waffen ins Land. Mittlerweile ist die über lange Zeit sorgsam bewahrte französische Einflusssphäre dahin. Die russische Präsenz ist nicht zu übersehen - ob bei Schürfrechten oder in den Straßen der Hauptstadt. Die russischen Söldner, die zum größten Teil für das Privatunternehmen Wagner arbeiten, sind ebenfalls in Skandale verwickelt: Sie werden als Drahtzieher des brutalen Mordes an drei investigativen Journalisten aus Russland verdächtigt, die vor Ort recherchieren wollten."

Magazinrundschau vom 14.08.2018 - Le Monde diplomatique

Alain Vicky schickt einen deprimierenden Bericht aus der letzten absoluten Monarchie Afrikas, aus Swasiland, das König Mswatis III. zu seinem fünfzigsten Geburtstag in Königreich Eswatini umbenannt hat, "Himmliches Tal". An erster Stelle dürfen sich der König und seine Familie an den Reichtümern des Landes bedienen, erklärt Vicky, dann kommen der Polizeiapparat, das Militär, die ausländischen Investoren: "Im Land von König Mswati III. herrscht Polygamie. Ehescheidungen und Miniröcke sind verboten - das wiederum gefällt den Evangelikalen, die der Monarch unterstützt, der ansonsten auf die Tradition und die Heilkraft der Pflanzenmedizin Muti schwört. Mswati III. vertraut nur seinen engsten Angehörigen, der altgedienten Führungsmannschaft und seinem Premierminister Barnabas Sibusiso Dlamini. Und er legt viel Wert auf die alten Bräuche wie den berühmten Schilftanz Umhlanga, den Ende August alljährlich tausende junge Frauen vom Land vor dem Königshof aufführen, um sich für den Harem zu bewerben. Der pittoreske Tanz gilt als große touristische Attraktion. Dabei missbrauche Mswati III. nur die Tradition, um seine Macht zu festigen, beklagt der Historiker Joy Dumsile Ddwandwe. 'Wer seine Tochter nicht zum Umhlanga schickt, kann von den Stammesführern verstoßen werden. Das heißt, es gibt dann keine finanzielle Unterstützung mehr, man kann sogar seine Rente verlieren.'"

Charlotte Wiedemann erzählt von ihrer Tour zu den heiligen Stätten Usbekistans: "70 Jahre sowjetischer Einfluss haben Usbekistan nachhaltig geprägt: Religiöses Wissen ist kaum noch vorhanden, der Islam zeigt sich in Kultur und Brauchtum. Und anscheinend haben solche Traditionen im Leben der Frauen besser überlebt als in dem der Männer. Sie seien stärker 'sowjetisiert' worden, wird mir gesagt, und verlangten selbst bei einer Beschneidungsfeier Alkoholisches." Laurent Litzenburger erinnert daran, dass im europäischen Mittelalter Tiere als schuldfähig galten und etwa Schweine wegen Kindsmord zum Tod durch Erhängen verurteilt wurden.

Magazinrundschau vom 12.06.2018 - Le Monde diplomatique

Reporterin Charlotte Wiedemann berichtet von ihrem Besuch bei der Bundeswehr in Mali, wo sie nicht nur Einblicke in die Bürokratie von Camp Castor bekam, sondern auch lernte, die Welt aus den Fenstern eines Militärfahrzeugs wahrzunehmen: "In einem solchen Gefährt, hochrädrig und tonnenschwer, wird alles draußen zur potenziellen Gefahr, alles hat Unschuld und Anmut nur auf Vorbehalt; die Teichrosen mit weißen Blüten auf langgereckten Hälsen, die zierlichen Wasservögel. In den Reisfeldern stehen Vogelscheuchen, bekleidet mit zerrissenen Bubus; wem drohen sie? Die Route der Patrouille führt entlang von Bezeichnungen, die den Menschen, die hier leben, unbekannt sind. Das Militär legt seine eigene Kartografie über fremde Erde, macht daraus ein Gebiet, das sich erfassen und kontrollieren lässt. Point X und Point Y sind codiert mit ihrem jeweiligen Grad an Gefährlichkeit."

Comic und Film waren von Anfang an die Medien des demokratischen Kapitalismus, schreibt Georg Seeßlen in einer kurzen Geschichte der niederen Kultur, und beide tragen das Wild-Anarchische wie das Disziplinierende in sich: "Eine vielleicht nicht allzu verwegene These: Die kapitalistisch-demokratische Moderne benötigt noch vor den Inhalten die Wahrnehmungstechniken von Comic und von Film zur Einübung der notwendigen Dynamik. Comics und Filme entsprechen nicht nur der zweiten Industrialisierung, dem Fordismus, sie schaffen auch eine ästhetische Grundlage dafür. Donald Duck und Laurel & Hardy bekommen nicht nur Prügel, wie Theodor W. Adorno missmutig anmerkt, damit sich das Publikum an die eigene Prügel gewöhnt, sie lernen auch, sich im Tempo der neuen Zeit zu bewegen, oder zeigen, wie man dabei scheitern kann, um sogleich wieder aufzustehen und weiterzumachen. Comics und Filme waren auch deshalb so notwendig, weil sich die bürgerliche Kunst der technischen und ökonomischen Modernisierung der Lebenswelt weitgehend entzog. Sie erstarrte, zum Beispiel in der Abstraktion, auf grandiose Weise, sie löste sich von Konventionen und Traditionen, aber der Teil von ihr, der den Blick auf Fabriken und Maschinen, auf Verkehr und Massen, auf Kaufhäuser und Straßenszenen, auf Proletariat und Entwurzelte richtete, wurde vom klassischen bürgerlichen Publikum hochnäsig abgewertet."

Weiteres: Tigrane Yegavian blickt auf die Protestbewegung in Armenien, die den charismatischen Nikol Paschinjan an die Regierung gebracht hat. Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin erzählen vom großen Exodus aus dem westlichen Balkan. Und mehrere Texte befassen sich mit Donald Trump, seiner Sanktionspolitik und dem Gipfeltreffen mit Kim Jong Un.

Magazinrundschau vom 14.11.2017 - Le Monde diplomatique

Olivier Piot stellt die Riege afrikanischer Superreicher vor, die sich gern auf den Titelseiten der Wirtschaftsmagazine als die Retter des Kontinents in Szene setzen lassen: der nigerianische Milliardär Tony Elumelu etwa, der schwarze Südafrikaner Patrice Mot­se­pe oder der einstige äthiopische Spitzenathlet Haile Gebrselassie: "Dank ihres Erfolgs, ihrer Medienpräsenz und ihrer Vorträge über das 'moderne Afrika' schneiden diese Milliardäre in der öffentlichen Meinung besser ab als die politischen Machthaber. Letztere behindern mit ihrer Schwerfälligkeit seit Jahrzehnten die Entwicklung des Kontinents. 'Pflichtvergessene Nilpferde' nennt sie deshalb der ghanaische Soziologe George Ayitey und umschmeichelt die reichen Wohltäter als 'Geparden'. Im Gegensatz zu den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit sind die Staaten und die großen ausländischen Privatinvestoren nicht mehr die einzigen Förderer der Entwicklung. Obwohl in Afrika nach wie vor Massenarmut herrscht, profitiert eine wachsende Zahl von Afrikanern von der Dynamik des Afrikapitalismus. In einzelnen Ländern und Regionen, aber auch auf dem ganzen Kontinent erleben afrikanische Unternehmen und Privatbanken einen Aufschwung, von Dangote Cement und der Guaranty Trust Bank in Nigeria über die RMB Holdings und Standard Bank in Südafrika bis zu der marokkanischen Attijariwafa Bank."

Weiteres: Sébastien Bauer versucht, den katalanischen Knoten zu entwirren. Miguel de la Riva blickt auf die rechtskonservative Melange, die sich in Wien zusammenbraut.