Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
28.10.2002. Outlook India denkt über indische Künstler und Intellektuelle nach, die im Ausland erfolgreich sind. Literaturen denkt über Religion nach. Prospect denkt über den Irak nach Saddam nach. Der Economist denkt über Europas Wirtschaftskrise nach. Die NYT Book Review stellt eine Jesse-James-Biografie vor.

New Yorker (USA), 04.11.2002

In einer wunderbar kenntnis- und detailreichen Abhandlung lässt Anthony Lane 40 Jahre James-Bond-Filmgeschichte Revue passieren: "All right, pay attention, 007. Here are some things that are great about James Bond movies: the suits, the drinks, the stunts, the cars, the hubcaps of the cars, the men, the women, the posters, the weather, the music, the sex, the life. Here are some things that are not so great about James Bond movies: James Bond movies." Folgerichtig geht er dann auch mit den diversen Bond-Darstellern und -Filmen streng ins Gericht, analysiert deren "Rassismus", ihr zunehmendes Franchising-Unwesen und ihre abnehmende "sophistication". Lane schließt deshalb mit einem ganz ernst gemeinten Tipp: "Is there any hope of retrieving such sophistication - the refinement not of technology but of suavity, in which a microphone tucked behind a painting seems more telling than a trip to outer space? I believe I have the answer. All right, 007, listen carefully: I want you to go and meet a gentleman named Lee. Ang Lee. Born in Taiwan but now, as far as we can gather, working for the Americans."

John Vaillant erzählt uns in seinem "Letter from British Columbia" die Geschichte von Grant Hadwin, der 1997 mit einer Kettensäge einen 300 Jahr alten Baum umlegte. Seine nach dem Massaker an Greenpeace und andere Institutionen verteilte schriftliche Erklärung: "I didn't enjoy butchering, this magnificent old plant, but you apparently need a message and wake-up call, that even a university trained professional, should be able to understand ?I mean this action, to be an expression, of my rage and hatred, towards university trained professionals and their extremist supporters, whose ideas, ethics, denials, part truths, attitudes, etc., appear to be responsible, for most of the abominations, towards amateur life on this planet."

Außerdem lesen wir die Erzählung "Only a Thing" von Antonya Nelson. Und dann viele Besprechungen in dieser Woche: Peter Schjeldahl führt durch eine Ausstellung zeitgenössischer Malerei im Museum of Modern Art. Joan Acocella hat sich die neue Choreografie der Altmeisterin des amerikanischen Modern Dance, Twyla Tharp, angesehen. Judith Thurman besuchte die Pret-a-Porter-Schauen in Paris und eine Versace-Retrospektive in London. John Lahr sah Al Pacino in Brechts "Arturo Ui" sowie die Neuinszenierung des Musicals "Flower Drum Song" von Rodgers and Hammerstein aus dem Jahre 1958. Und Anthony Lane war im Kino und stellt "The Truth About Charlie", den neuen Film von Jonathan Demme mir Mark Wahlberg und Tim Robbins vor, sowie "Rodger Dodger" von Dylan Kidd. Bücher: Nicholas Lemann las die "faszinierende" Dokumentation des amerikanischen Kalter-Krieg-Spezialisten Daniel Ellsberg, "Secrets: A Memoir of Vietnam and the Pentagon Papers", Nell Freudenberger lobt "The Crazed", den dritten Roman des chinesisch-stämmigen Schriftstellers Ha Jin, außerdem gibt es noch Kurzbesprechungen.

Nur in der Printausgabe: der berühmte Essay von W.G. Sebald über die Frage, warum die Deutschen die Zerstörung ihrer Städte vergessen haben, Ian Parker erklärt, was einen Theaterproduzenten ausmacht, und schließlich Lyrik von Czeslaw Milosz und J. D. McClatchy.
Archiv: New Yorker

Literaturen (Deutschland), 01.11.2002

Was geht in der modernen russischen Literatur vor sich? Diese Frage versucht Irina Prokhorova, Chefredakteurin der in Moskau erscheinenden "Neuen literarischen Revue", zu beantworten. Sie findet, dass "immer mehr junge Autoren russischer Abstammung ihre sowjetische Vergangenheit bereits in der Sprache der Länder, in denen sie leben" reflektieren. Sie nennt Andrej Makine in Frankreich, Gary Shteyngast in Amerika und "das Phänomen Wladimir Kaminer in Deutschland": Sie sind für sie Zeugen, "dass die moderne russische Dichtung neue, bisher nicht beschrittene Wege einschlägt, um sich in die globale intellektuelle Welt zu integrieren."

Gespannt werden Liebhaber des südafrikanischen Schriftstellers J.M. Coetzee die Rezension des neuen Coetzee-Buches "Die jungen Jahre" (Leseprobe hier) von Sigrid Löffler lesen, - und vielleicht etwas enttäuscht sein. Sigrid Löffler ist zwar angetan davon, wie der Protagonist - kein Ich-Erzähler sondern einfach nur "John" - aus der eigenen Kälte weniger herausfindet als sie zur Literatur macht. Dennoch bleibt auch ihre Rezension eher kühl wenn sie zugesteht, dass der Reiz dieses Buchs vor allem darin liegt, "dass der Leser den Ausgang kennt, der Held aber noch nicht".

Ansonsten wartet das Novemberheft mit dem Schwerpunkt Religion auf (Editorial); allerdings sind die Reflexionen von Thomas Macho, Friedrich Schorlemmer und Ulla Berkewicz beziehungsweise Arno Stadler zum Thema nur im Druck zu lesen. Ebenfalls nur im Druck auch das Gespräch mit der schottischen Schriftstellerin A. L. Kennedy, deren Gesicht das Cover schmückt; auch sie erweist sich, so wird es angekündigt, als von Religion geprägt: dem schottischen Calvinismus.
Archiv: Literaturen

Outlook India (Indien), 04.11.2002

Madhu Trehan konstatiert einen Wandel in west-östlichen Kulturkonfrontationen. Indische Regisseure - wie Mira Nair, Shekhar Kapur - und Schriftsteller - wie Arundhati Roy - haben großen Erfolg im Westen, ohne, wie noch die Vorgängergeneration, ständig ihr Herkunftsland erklären zu müssen: "Today's writers explain nothing, just as western writers do not explain their culture in their books. They just write. Who can take the responsibility of explaining Indian culture as if it is one homogeneous monolith?" Gerade im Verzicht auf die großen Erklärungen präsentiere sich Indien in seiner post-kolonialen Vielgestaltigkeit. Dazu passend: Beinahe hätte der indische Schriftsteller Rohinton Mistry den Man Booker Prize (hier die Website) gewonnen, mehr als ein bisschen Indien aber steckt auch im kanadischen Sieger, dem als Diplomatensohn weit herumgekommenen Yann Martel (hier gibt's Informationen): "Moreover, the book was not only written in India but also has a Pondicherry boy as the hero, but nationality is hardly an issue for this global writer."

Gleich zwei kürzere Artikel beschäftigen sich direkt oder indirekt mit Amitabh Bachchan, dem größten Bollywood-Star aller Zeiten (hier eine der vielen Seiten), der vor wenigen Wochen unter großer Anteilnahme des Volkes seinen 60. Geburtstag feierte. Besprochen wird ein zu diesem Anlass erschienenes Buch über ihn, halb Biografie, halb Hommage. Und Komal Nahata hat sich, in der Mittagspause der Dreharbeiten zu Bachchans neuestem Film, mit ihm unterhalten.

Weitere Artikel: Die Titelgeschichte beschreibt die Verflechtungen der regierenden hindu-nationalistischen Partei BJP mit dem außerparlamentarischen rechten Rand der indischen Politszene. "Before making any move, many in the government, including cabinet ministers, solicit their approval. When they sneeze in Mumbai, Nagpur or New York, New Delhi catches a cold. Welcome to the new, extra-constitutional world of India?s loony right." Ein weiterer Artikel beschreibt das erwachende Interesse von NGOs im Ausland - nur die US-Regierung zeigt bislang kaum Interesse. Kritisiert werden auch die indischen Medien, die dem verantwortungslosen Gerede gerne eine Plattform bieten. Schließlich beschäftigt sich ein Artikel mit der Hungersnot in Radschastan: Die Regierung des Staates schiebt es auf Krankheiten, nicht auf den Hunger, dessen Folge sie sind; unterdessen mahlen die Menschen Mehl aus fast unverdaulichem Gras.
Archiv: Outlook India

Espresso (Italien), 31.10.2002

Der Iran ist kein Land für junge Leute. Alessandra Cardone porträtiert eine Jugend des Gottesstaates, die Freitags zum Gebet in die Moschee geht und danach zu Hause Kurt Cobain auflegt. Die sagen will, was sie denkt, und die Kleider tragen möchte, die sie mag. Und die ans Auswandern denkt. "Hasan erzählt, dass Italien oder ein anderes europäisches Land ein gutes Ziel wäre zum Emigrieren: 'Dies ist kein Land für junge Leute. Ich bin zwar zufrieden mit der islamischen Republik aber gleichzeitig möchte ich weg von hier.' Der Politik kann er nichts abgewinnen. Und er erwartet sich nichts von Präsident Khatami."

In der Bustina denkt Umberto Eco über die Folgen der kompletten Verschmelzung des privaten (betrogener Ehemann) und öffentlichen (italienischer Imperator) Silvio Berlusconi nach.

Weitere Artikel: Raimondo Pultrini verkündet das politische Erwachen der indischen Eunuchen, die schon einen Abgeordneten und zwei Bürgermeister stellen und nun eine eigene Partei gründen wollen. Enrico Arosio stellt ein gigantisches sakrales Projekt vor: Renzo Piano (mehr hier) baut für den kürzlich heiliggesprochenen Padre Pio eine monumentale Kirche mit Platz für achttausend Gläubige in San Giovanni Rotondo. Und Newcomer-Schauspielerin Asia Argento (hier mehr) spricht über ihr neues Leben in der Glitzerwelt Hollywoods, über Partys, Filme und ein Haus am Meer.

Besprochen wird eine großangelegte Enzyklopädie des renommierten Verlags Einaudi über den Faschismus.
Archiv: Espresso

Prospect (UK), 01.11.2002

Prospect verspricht, den Irak "after Saddam" vorzustellen und tut das mit zwei langen Aufsätzen von Kanan Makiya und James Fallows, Korrespondet von Atlantic Monthly. Der "leading dissident" Kanan Makiya, geboren in Baghdad und als Professor an der Brandeis University tätig, spricht sich für einen Militärschlag gegen Saddam aus, fordert aber, dass die Vereinigten Staaten danach dem Programm der irakischen Opposition für ein föderales, nicht-ethnisch definiertes, säkulares Land und seine demokratische Entwicklung folgen müssen. "If the territorial integrity of the country were to be guaranteed by an outside power, I believe that the overwhelming majority of Iraqis, certainly its Kurdish and Shi'ite populations, would vote for such a far-reaching programme." Und er zieht einen gewagten Vergleich: "?like Japan and Germany after the second world war, Iraq's future lies in unshackling itself from the burden of its past and focusing the creative energies of the country on building a federal, non-Arab and demilitarised country."

Der Artikel von James Fallows ist nur in der Print-Edition nachzulesen, vermutlich ist es aber derselbe Artikel, der in Atlantic Monthly veröffentlich wurde. Ebenfalls nur im Print: ein Artikel von Elena Lappin über Milan Kundera und Michael Gross? Aufsatz über Nano-Technologie mit dem schönen Titel "The science of the tiny".

Lesen dürfen wir noch einen Text von Richard Kelly über die Demoralisierung der irischen Protestanten, die von den Katholiken auf politischem, kulturellem und erzieherischem Gebiet überholt wurden, einen Streit zwischen Will Skidelsky und Peter Gordon über die Frage, ob englisches Essen wirklich besser geworden ist. Und Nadine Meisner berichtet über einen Prozess um das Copyright an Choreografien von Martha Graham.
Archiv: Prospect

Economist (UK), 25.10.2002

Mit einer gar nicht lächelnden Mona Lisa macht der Economist auf und verspricht im Titel dann "Restoring Europe's smile". Natürlich geht es im Folgenden dann nicht um die Kunst, sondern um Ökonomisches, insbesondere die Frage, wie Europa aus der Wirtschaftskrise herausfinden kann. Die Antwort ist: Nur wenn die europäische Union, die für den Economist (Leader) die Hauptschuldige an der Misere ist, sich dem widmet, was die Redaktion des Heftes schon seit Jahren fordert: "First, no more lurches - not for a long time, anyway. In future, far-reaching constitutional changes should be separated by decades, rather than the years or months the EU has come to regard as normal ... Second, we want less of the wrong kind of muddle (which arises when the Union interferes needlessly with the preferences of member states, seeking uniformity where none is required) and more of the right kind (which is the untidiness that arises from variety and competition among national policies). A strong, explicit and enforceable principle of subsidiarity is therefore the core of the constitution we would like to see."

Besonders beachtenswert ist in diesem Heft der Essay von Jeffrey Sachs, dem Direktor des Earth Institute der Columbia University in New York. Jeffrey geht hart ins Gericht mit der derzeitigen amerikanischen Regierung: "One of the reasons why the Bush administration is losing the battle for the world's hearts and minds is precisely that it fights only the war on terror, while turning a cold and steely eye away from the millions dying of hunger and disease. When is the last time anybody heard Vice-President Dick Cheney even feign a word of concern for the world's poor?" Nicht einmal an die von ihm unterschriebene internationale Vereinbarung, 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts zur Unterstützung armer Länder einzusetzen, hält sich das größte und reichste Land der Erde. Sachs sieht Zusammenhänge: " The United States falls $60 billion a year short of that target-a seemingly unbridgeable gap, until one realises that the annual military spending in America has risen by about that amount since Mr Bush entered the White House."

Nur im Druck: Artikel über "Dealing with Iraq and North Korea", "The angst of German bosses" und, mal wieder, "Tony Blair and the unions".
Archiv: Economist

Spiegel (Deutschland), 28.10.2002

Groß im Bild eine Geiselnehmerin von Moskau, mit Tschador und Bombengurt, dazu die Zeile "Der terroristische Weltkrieg": der Spiegel-Titel mal wieder auf Bild-Niveau. Solide und gut recherchiert dafür die gebotenen Informationen, vor allem zu den Hintergründen des Kriegs in Tschetschenien. Und ein Redakteur hatte sogar das Musical "Nord-Ost" schon gesehen. Aber das kostet alles, auch im Netz.

Neuigkeiten gibt es auch von der RAF - nämlich ihre Beziehung zu palästinensischen Terroristen in den siebziger Jahren. Peter-Jürgen Boock, einer der Schleyer-Entführer, hat dem Spiegel von vielen bisher nicht bekannten Details berichtet und resümiert: "Ohne die Unterstützung der Palästinenser wäre die RAF von Mitte der siebziger bis Anfang der achtziger Jahre nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt aktionsfähig gewesen." Die Verbindungen waren eng und gingen zurück auf die Jahre der Studentenrevolte. Der Kontaktmann war Wadi Haddad von der PLFP ("Volksfront für die Befreiung Palästinas"): er lieferte Maschinengewehre und Sprengstoff - und forderte schmutzige "Söldnerdienste" von den RAFlern: "Es ging um Erpressung, Lösegeld und Handlangerdienste bei der Vorbereitung von Anschlägen gegen Passagierflugzeuge."

Weitere Artikel: Verbrechen und Terror hinterlassen auch im Rest des Heftes ihre Spuren. Gerhard Spörl trägt zusammen, was über John Williams, den Heckenschützen von Washington bisher bekannt ist. Lars-Olav Beier stellt zwei neue Hollywood-Filme vor, in denen Sniper eine wichtige Rolle spielen - und berichtet, dass der Start erst einmal um Monate verschoben wurde. Außerdem gibt's ein Porträt der steil abgestürzten Stars der New Economy, der Haffa-Brüder, die nun in München - vor derselben Richterin übrigens, mit der es gerade Boris Becker zu tun hatte - vor Gericht stehen.

Im Heft, aber nicht im Netz: Ein Gespräch mit Marius Müller-Westernhagen zur neuen Platte, ein Bericht über den zweiten Frühling der New Economy. Ex-FAZ-Herausgeber und Hitler-Biograf Joachim Fest schreibt über Anthony Beevors Buch zum Untergang Berlins 1945, und Volker Hage stellt den Fund von Heinrich-Mann-Briefen in Prag ausführlich vor.
Archiv: Spiegel

New York Times (USA), 27.10.2002

Was macht Marcel Proust zum Genie, was George Eliot unsterblich? Harold Bloom (mehr hier) porträtiert in seinem neuen Buch "Genius" 100 literarische Ausnahmeerscheinungen. Und auch wenn er sich in seinen kurzen Essays unaufhörlich wiederholt, unüberprüfbare Behauptungen in den Raum stellt oder beizeiten einfach unverständlich ist, die Ehrfucht, Liebe und Abneigung zu den Büchern und ihren Autoren ist dem belesensten Literaturkritiker unserer Zeit in jeder Zeile anzumerken, findet Judith Shulevitz. Vor allem seine größte Passion: "Blooms Leidenschaft zur literarischen Persönlichkeit erklärt auch sein merkwürdiges Beharren darauf, dass 'J.', Autor der Genesis, des Exodus und der Numeri eine Frau am Hofe König Davids gewesen sei. Bloom möchte, dass wir auch Gott als einen Charakter in J.'s literarischem Kosmos sehen, einen reichlich mit ihrer boshaften Ironie ausgestatteten und weniger vorhersagbaren und weniger ehrlicheren als die Tradition zugeben mag." 

Weitere Artikel: Richard E. Nicholls zeigt sich beeindruckt von T. J. Stiles' großer Jesse-James-Biografie, die dem legendären amerikanischen Outlaw des Bürgerkriegs bisher ungeahnte Seiten abgewinnt. "Er war gut gekleidet, ein schlauer Publizist und Politiker, ein glänzender Reiter und und ausgesprochen cool." Jeffrey Eugenides (hier mehr) bejubelt Joanna Scott, die sich mit ihrem neuen Roman "Tourmaline", wo sie die Fragen eines Sohnes zu einer Erkundung über die grundlegenden Fragen des Lebens werden lässt, erneut als eine berufene Schriftstellerin erweist. Ruth Franklin würdigt "The Crazed" als radikal und den Verfasser Ha Jin als verwirrendsten Autor der englischen Sprache, der, indem er alle Regeln des Schreibens wie selbstverständlich bricht, Werke von außergewöhnlicher Moral und Schönheit vorlegt.


Archiv: New York Times

Times Literary Supplement (UK), 25.10.2002

Gerade einmal einen Text hat das TLS vollständig ins Netz gestellt. Darin wundert sich Samantha Matthew, dass A. L. Kennedys Verleger so viel Wert darauf legt, dass es sich bei "A. L." um eine Frau handelt. Denn in Kennedys Büchern selbst - auch im neuen "Indelible Acts" - spielen weder Geschlecht noch sexuelle Orientierung eine Rolle. In Matthews Augen genau das, was Kennedys Erzählungen so gut macht. "Kennedy strongly signals that what matters here is not sex, but the human experience of complex, strong and often painful emotions. Kennedy?s writing explores the elusiveness of self-knowledge, emotional contingency, the obscurity of relations between women and men and the losses that thwart the human desire for union and communion."

Interessant auch, aber leider nur auszugsweise zu lesen ist Michael Fairclough Besprechung von Michael Dawsons "Black Visions" über die Wurzeln schwarzer Gegenöffentlichkeit. Dawson (mehr hier) sieht die schwarze Community der USA in ihrer bisher schwersten politischen Krise, die er vor allem an der Entfremdung vom weißen Liberalismus festmacht.

Auch die Titelgeschichte von Patrick Allitt über die religiöse Restauration in den USA, über Moral Majority und christliche junge Männer ist nur in einem wenig hilfreichen Auszug zu lesen. Und Neil Powell schließlich stellt eine neue Biografie über den "Poeten des Krieges" Wilfred Owen (mehr hier) vor.

Nouvel Observateur (Frankreich), 24.10.2002

Vor allen Dingen schön, "schön an sich und schön gelegen" findet Paul Fournel, Schriftsteller und Kulturattache an der französischen Botschaft in Kairo, die neue Bibliothek von Alexandria, die er für den Nouvel Observateur besucht hat. Auf seinem ausführlichen Rundgang erkennt Fournel deshalb ein Problem der Bibliothek, das ihn an das Pariser Centre Pompidou erinnert: "Sicherlich werden viele sie um ihrer selbst willen besuchen, weniger wegen ihres Inhalts." Doch gerade der hat ihn offensichtlich am meisten beeindruckt, denn: "Alexandria entzieht sich dem kommunalen Gesetz. Die Bibliothek untersteht der direkten Schirmherrschaft von Madame Moubarak und juristisch allein dem Präsidenten der Republik. Das Parlament hat keinerlei Befugnisse über sie. (?) So ist dieser Ort auch relativ geschützt vor Vorwürfen finanzieller Verschwendung - in einem Land, in dem Komfort häufig genug relativ bleibt; und es gestattet ihm grundsätzlich, in seinen Sammlungen der Zensur und den Bannstrahlen der Religion zu entschlüpfen."

"Lange hatte er den Wunsch gehabt, Philosophie zu unterrichten. Bis es ihm eines Tages unmöglich wurde, die Schule zu betreten". So beginnt die Rezension eines Buches von Frederic Schiffter, Philosophieprofessor an einem Gymnasium, dem eben jenes passierte. Eine plötzliche "lähmende Angst" habe es ihm unmöglich gemacht, "weiterhin Schülern, die es gar nicht wollten, eine Materie zu vermitteln, von der er selbst bezweifelte, dass sie nützlich oder notwendig" sei. Schiffter, Autor mehrerer Publikationen ("Lettre sur l?elegance", "Guy Debord, l?atrabilaire", "Sur le blabla et le chichi des philosophes") erzählt in seinen "Pensees d?un philosophe sous Prozac" nicht nur die Krankengeschichte einer Depression, sondern deren Verknüpfung mit einer Disziplin und einer Tätigkeit, die ihm zunehmend sinnlos erscheint. Laut Rezensent habe er sich "der Instition Schule entfremdet, die nicht mehr auf Lebenskunst basiert, sondern auf der einzigen Frage, die der Nachfolger seines Verächters, Luc Ferry, heute stellt: 'Was ist ein erfolgreiches Leben?'". Dieses neue Buch des Philosophen und gegenwärtigen französischen Erziehungsministers, "Qu?est-ce qu?une vie reussie?", wird übrigens ebenfalls besprochen.