Magazinrundschau

Groß, reich und langsam

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
23.08.2016. Das New York Magazine fragt, wer alles schuld ist an Gawkers Ende. Die New York Times beugt sich besorgt über die arthritischen Gelenke von Michelangelos David. Der Guardian beklagt die neue Frömmigkeit in Rio. In Libération enthüllt Eric Fiat die Dialektik des Schamgefühls. La Regle du Jeu fordert mehr Solidarität mit den Libyern. In Magyar Naracs ruft der ungarische Regisseur Szabolcs Hajdu: Es gibt ein Leben außerhalb des Systems. Aus Protest gegen den Produktivitätszwang hört Fact jetzt wieder New-Age-Musik.

New York Magazine (USA), 22.08.2016

Gawker ist Geschichte, was vom einst wilden, gemeinen und selbstzerstörerischen Piratenschiff noch übrig ist, wird gerade von den Anwälten zerhackt. Max Read, der als Chefredakteur nicht das Hulk-Hogan-Sexvideo, dafür aber das Outing eines verheirateten Medienbosses verantwortete, rekonstruiert, wer das Klatschblog auf dem Gewissen hat. Nur Peter Thiel? Oder auch Nick Denton und er selbst? Ebenso wie die beiden dunklen Lords des Silicon Valley war es das Internet, meint Read: "Was 2012 okay, wenn auch ungehörig war, gilt 2016 als untragbar. Die enorme Verurteilung Gawkers macht klar, wo die öffentliche Meinung heute steht: Die Privatsphäre wird rigoros, wenn auch verworren verteidigt, selbst die öffentlicher Personen. Es haben sich jedoch nicht nur die Grenzen dessen verschoben, was veröffentlicht werden darf, sondern auch wo. Gawkers größter Fehler war, dass es nicht bemerkte, dass es nicht mehr am untersten Ende der medialen Nahrungskette stand. Twitter und Reddit und ein Dutzend anderer Netzwerke und Plattformen haben Gawker ausgegawkert, mit ihren niedrigen Schwellen und ihrem fehlenden Respekt für tradierte Standards. Vor allem verteilen sie die Haftung: Es gibt keine Autorenzeilen, keine Redakteure, keine Institution, die moralisch oder rechtlich Verantwortung für den Inhalt übernimmt. Das amerikanische Recht schützt Soziale Netzwerke vor einer Haftung für die von ihren Nutzern geposteten Inhalten. Diese Seite haben einen Raum unterhalb von Gawker ausgehöhlt, während Gawker ein richtiges Medium geworden ist, groß, reich und langsam genug, um zur Verantwortung gezogen werden zu können - und zu Fall gebracht."

New Yorker (USA), 29.08.2016

Das neue Heft des New Yorker bringt exklusiv Auszüge aus Melania Trumps Tagebuch, aufgezeichnet von Paul Rudnick: "Liebes Tagebuch, es hat nicht geklappt. Vielleicht hätte ich Michelle Obamas gesamte Convention-Speech abkupfern sollen. Oder vielleicht hätte ich einfach dauernd die Worte 'Ich liebe Hillary' wiederholen sollen. Doch jetzt fühle ich mich verdammt. Ich wünschte, ich wäre wieder in Slowenien und würde für Polyester-Jacken modeln und unserer Ziege zuflüstern: 'Eines Tages werde ich nach Amerika segeln und einen reichen, schönen Mann heiraten.' Ich hätte hören sollen, als die Kuh, die heimlich lauschte, meinte: 'Bloomberg!' Das Leben ist seltsam. So viele Jahre dachte ich immer, Donald träumt, wenn er zu mir sagte, er wolle Präsident werden. So, wie wenn er sagte, er wolle ein echter Mann werden. Aber er hörte nicht auf, es zu sagen, sogar, als Ivanka ihm eine scheuerte. Als Stiefmutter sorge ich mich um Donalds ältere Söhne, die mich immer an Teletubbies erinnern, die sich als Börsenmakler verkleidet haben. Einmal habe ich Donald gefragt, ob er seinen Jungs mit all seinem Geld keine Kinnladen kaufen könne. Eric und Donald Jr. lieben es, in Afrika wilde Tiere zu jagen und abzuschlachten. Damit wollen sie ihren Vater beeindrucken. Aber er nennt sie weiterhin nur Nr. 1 und Nr. 2."

Außerdem: Dana Goodyear besichtigt das kolossale, von antiken Städten inspirierte Monument des Künstlers Michael Heizer in der Wüste von Nevada. Ed Caesar berichtet über einen Finanzskandal mit russischem Geld bei der Deutschen Bank. Vinson Cunningham besucht das neue National Museum of African American History and Culture in Washington D.C. Nick Paumgarten speist in Amerikas exklusivsten Restaurant, das mindestens bis 2025 ausgebucht ist. Und es gibt einen Comic von Art Spiegelman.
Archiv: New Yorker

Liberation (Frankreich), 23.08.2016

Libération setzt seine Serie "Raison et sentiments" fort. Diesmal spricht der Philosoph Eric Fiat über das "Schamgefühl", das er aus dem Problem herleitet, Bewusstsein in einem Körper zu sein. Tiere oder Engel, also reine Körper und reine Geistwesen, hätten damit also kein Problem. Zur Frage von Schleier und Schamhaftigkeit meint Fiat: "Sich beim Tragen des Schleiers auf das Schamgefühl zu berufen, ist seltsam. Genau wie Bescheidenheit, Einfachheit und Demut gehört das Schamgefühl zu diesen fragilen Tugenden, die wir nicht für uns in Anspruch nehmen können, ohne dass sie augenblicklich verloren gehen. Ihre Zurschaustellung führt unweigerlich zu ihrem Verschwinden. Es ist arrogant, sich als bescheiden zu bezeichnen, und es ist komplex, sich einfach zu nennen, aber sich als schamhaft auszurufen, ist schamlos. Nehmen wir uns in Acht vor dem, was Vladimir Jankélévitch die "Zurückhaltung, die sich durch laute Schreie ankündigt' nannte! Wenn der beschämte Mensch sich versteckt und der obszöne sich zeigt, dann beweist sich der schamhafte Mensch in Zurückhaltung. Es kann auch keine 'schamhafte Mode' geben, denn das Schamgefühl ist das einsame Gefühl eines Menschen ist, der Schwierigkeiten im Auftreten hat, wohingegen die Mode eine kollektive Art der Zurschaustellung ist. Anders formuliert: zwischen der mit Bikini angezogenen Frau und der, die einen Burkini trägt, ist die Frau mit dem meisten Schamgefühl nicht immer die, von der man es vermutet!"
Archiv: Liberation

La regle du jeu (Frankreich), 22.08.2016

Sommerstarre, Denkfaulheit oder Vorurteile oder gleich alles zusammen attestiert Bernard-Henri Lévy den westlichen Medien. Anders kann er sich nicht erklären, dass sich niemand für den Angriff libyischer Verbände auf den Islamischen Staat in Syrte interessiert: „"Der Westen hat in Wahrheit in Libyen nur einen Fehler gemacht: dieses Land nicht einige Schritte weiter auf seinem Weg zur Demokratie zu begleiten, nach der es sich, wie es scheint, doch noch immer sehnt. Machen wir den gleichen Fehler nicht noch einmal. Zu diesem Zeitpunkt, wo es so wichtig ist, mit aller Deutlichkeit zu sagen, wer Feind und wer Verbündeter ist, muss man in diesen Libyern unsere Kampfgefährten gegen dieses absolute Böse namens Daech erkennen, wenn sie mit der Waffe in der Hand und um den Preis zahlreicher Toter lauthals verkünden: 'Keine Dschihadisten hier! In Libyen hat das Kalifat nichts zu suchen!'"
Archiv: La regle du jeu

Guardian (UK), 22.08.2016

Luiz Eduardo Soares, Autor eines Buch über "Rio de Janeiro", bedauert die Brasilianer für den Kater, mit dem sie nach den Olympischen Spielen aufgewacht sein dürften. Noch schlimmer findet er im Guardian allerdings die neue Frömmigkeit, die in der Stadt herrscht: "Die wunderbare Postkarten-Stadt, in der Literatur als Paradies des tropischen Hedonismus, der Schönheit und der Sinnlichkeit gefeiert, knöpft sich züchtig den Kragen zu. Für viele ist der Sonntag nicht mehr ein Tag, um zu feiern und an den Strand zu gehen; die neuen Missionare übernehmen die Plätze, die Bibel unterm Arm und Bekehrungseifer im Herzen."

Weiteres: Marc Perry erzählt noch einmal ausführlich, wie die amerikanische Historikerin Caroline Elkins mit ihrem Buch "Britain's Gulag" dazu beitrug, vor Gerichten Wiedergutmachung für die kenianischen Kämpfer des Mau-Mau-Aufstands zu erstreiten.
Archiv: Guardian

Times Literary Supplement (UK), 19.08.2016

Kerstin Hoge lernt von Therese Hustons Studie "How Women Decide", dass nicht einmal die Neurowissenschaft Belege dafür gefunden hat, dass Frauen in Führungspositionen unentschieden sind. Fehlanzeige auch bei Emotionalität, Intuition und Risikovermeidung: "Zwei wichtige Lektionen lassen sich diesem Buch entnehmen. Erstens: 'So wie Frauen im Entscheidungsprozess gesehen werden, hat wenig damit zu tun, wie sie tatsächlich Entscheidungen treffen.' Zweitens: 'Wenn bei einer wichtigen Entscheidung mehr Frauen im Raum anwesend sind, ist das nicht nur besser für die Frauen, sondern auch für die Entscheidung.' Beide Aussagen erkennen an, dass es Unterschiede zwischen Frauen und Männern in der Entscheidungsfindung gibt. Einige dieser Unterschiede werden allerdings gemeinhin fehlinterpretiert: Zum Beispiel wird die kollaborative Art von Frauen im Entscheidungsprozess oft als Unentschiedenheit gewertet, dabei führt sie, wie Huston argumentiert, zu besseren, weil besser informierten Entscheidungen. Und weil sie das Label 'Unentschieden' fürchten, tappen Frauen mitunter in die Stereotypenfalle: Die Angst, ein negatives Stereotyp zu bestätigen, erschwert ihre Entscheidung."

Patrick Wilcken liest eine Reihe von Büchern zu Brasilien, die den politischen Niedergang von Dilma Rousseffs Arbeiterpartei rekapitulieren. "Zur Tragik Partido dos Trabalhadores gehört, dass er von eben jenen Kräften umgewandelt wurde, gegen die er einst angetreten ist: Brasiliens Klientelpolitik, in der Parteien als lockere Patronage-Maschinerie oft nur Zweckbündnisse markieren. Noch tragischer ist, dass seine Amtsführung nicht fehlerfrei ist, doch seine politische Erfolge sind real."

Magyar Narancs (Ungarn), 22.08.2016

Der Filmregisseur Szabolcs Hajdu spricht im Interview mit Gábor Köves über die Entstehung seines Films "It's not the time of my life", den er ohne Filmförderung mit einem Mini-Budget von 5.000 Dollar drehte und für den er beim Filmfestival in Karlovy Vary den Hauptpreis gewann: "Wir leiden eher darunter, wenn wir nicht nach unseren eigenen Werten arbeiten können, als wenn wir alles aus eigener Kraft lösen müssen. Wie wir es jetzt mussten ... Zuvor, beim Drehen von Mirage, musste ich mich mit jedem Blödsinn befassen. Als ich mich entschied, Filmregisseur zu werden, träumte ich bestimmt nicht davon, meine Zeit mit sinnlosem Kräftemessen und kleinkarierten Dominanzkämpfen zu verbringen werden. Es gibt auch ein Leben außerhalb des Systems. Man muss nur ein paar Schritte nach hinten gehen und alles erscheint in einer neuen Lichtbrechung."
Archiv: Magyar Narancs

Nepszabadsag (Ungarn), 21.08.2016

Der zur ungarischen Minderheit im rumänischen Siebenbürgen gehörende Schriftsteller Béla Markó spricht über den ungarischen Nationalfeiertag am 20. August, dessen staastsgründerische Ideale er in der Flüchtlingsdebatte noch einmal betonen möchte: "Könnte es heute ein anderes akzeptables Programm der ungarischen Gesellschaft in Siebenbürgen geben als 'Erhalt durch Veränderung'? Und kann etwas bitterer sein, als wenn jemand in Ungarn die Begriffe Europäertum und Ungarntum einander gegenüberstellt und uns explizit oder implizit vor die Wahl stellt, Europäer oder Ungarn zu sein? ... Aus Siebenbürgen zumindest sehe ich es so: Wir brauchen nicht nur Herz, sondern auch Hirn für die Nation. Aber dann müssen wir uns auch fragen, wofür wir in dieser seltsamen Zeit Herz haben, in der Zeit der neueren Völkerwanderungen und Referenden."
Archiv: Nepszabadsag

New York Times (USA), 21.08.2016

Sam Anderson erzählt im NY Times Magazine von seiner Liebe zu Michelangelos David in Florenz, dem Inbegriff der Perfektion. Eine Liebe, die von Furcht durchwirkt ist: "Das Problem sind die Gelenke. Sie sind rissig. Eine Schwäche, die im 19. Jahrhundert entdeckt wurde. Inzwischen haben Wissenschaftler die Risse exakt vermessen, doch bis vor kurzem gab es keine Angaben darüber, wie geschwächt Davids Gelenke wirklich sind. Das änderte sich 2014, als ein Team von italienischen Geowissenschaftlern eine Arbeit mit dem Titel 'Nachahmung der Einsturzmechanismen von Michelangelos David mittels kleinformatiger Zentrifugen-Versuche' publizierte. Hinter dem trockenen Titel verbarg sich eine furchtbare Wahrheit. Das Papier beschreibt einen Versuch, mit dessen Hilfe die Schwäche in Davids Gelenken zu messen ist: Indem eine Reihe von kleinen David-Replikas in verschiedenen Winkeln einer Zentrifuge gedreht werden, um so echte Belastungen zu imitieren. Das Ergebnis war düster. Wenn David nur um 15 Grad geneigt würde, würden seine Gelenke brechen. Die Ursache des Problems liegt in einem winzigen Mangel an Perfektion beim Entwurf der Statue. Der Schwerpunkt der Basis ist nicht deckungsgleich mit dem Schwerpunkt der Figur selbst; wenn die Basis gerade ist, befindet sich Davids Körper in leichter Schräglage. Das bedeutet zusätzlichen Druck auf Davids schmalsten, schwächsten Punkt: seine Gelenke. Solange die Statue ganz aufrecht steht, ist die leichte Exzentrizität der Massen tolerabel. Aber es gibt kaum Spielraum für Fehler. Wird die Basis auch nur leicht gekippt, erhöht sich die Belastung der Gelenke unverhältnismäßig stark. Und tatsächlich war es so, dass David, lange bevor er auf seinen Platz im Florentinischen Museum kam, leicht geneigt aufgestellt war."
Archiv: New York Times

Wired (USA), 16.08.2016

Mit "Luke Cage" erweitert Netflix Ende September sein Portfolio an Marvel-Serien um einen schwarzen urbanen Superhelden, der in den Siebzigern mit der Popularität der Blaxploitationfilme entwickelt wurde. Ihren ersten Auftritt auf Netflix hatte die Titelfigur bereits in der Serie "Jessica Jones". Und Jason Tanz glaubt in Wired, dass die Zeit mehr als reif ist für eine schwarze Heldenfigur in einer vor allem von Schwarzen produzierten Serie. "Lange Zeit wurde das aufstrebende Medium der prestigereichen TV-Serie mit einem Typus verbunden, den der Autor Brett Martin 'schwierige Männer' genannt hat - grimmig faszinierende Figuren wie Tony Soprano, Don Draper und Walter White, die darum kämpften, in einer Kultur und Wirtschaft Halt zu finden, für die sie sich erübrigt haben. Dies war zu einer Zeit, bevor Netflix und Amazon und ihre großen Erfolge wie 'Orange is the New Black' und 'Transparent' bewiesen haben, dass Hitserien auch jenseits heterosexueller weißer Männer funktionieren können. Zum Teil ist dies eine glückliche Folge aus den Fernsehkriegen: Da immer mehr Konkurrenten eine ansehnliche Menge an interessanten Serien hervorbringen, sind die ausführenden Produzenten mehr denn je motiviert, Programme zu finden, die aus der Masse herausstechen."
Archiv: Wired

Fact (UK), 16.08.2016

In den Achtzigern für eine Weile populär, galt New-Age-Musik später als Klangschrott für Esoteriker. Doch seit geraumer Zeit interessieren sich auch ernstzunehmende Musiker aus dem Punk-, Noise- oder Experimentalsektor für die Retro-Ästhetik des New Age. Adam Bychawski stellt einige dieser Musiker vor und kann dem Phänomen auch soziopolitische Subtexte entnehmen: "Es ist von Belang, dass New-Age-Musik, die in Reagans Amerika so viele Anhänger gefunden hatte, in einer Zeit politischer Unruhen und drohender Umweltkrisen neue Relevanz erfährt. Viele der Rechte und Schutzmaßnahmen, die wir im Arbeitsleben genossen haben, sind seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert zerrieben worden, während die Arbeiterbewegung zerschlagen wurde. Prekäre Arbeitskulturen sind gängig geworden - durch Null-Stunden-Verträge, Gelegenheitsarbeiten, die Krise auf dem Wohnungsmarkt und einschneidende besch für vermögenswirksame Leistungen normalisiert worden. ... Oft werden New-Age-Hörer als passive Subjekte eingeschätzt, doch lassen auch alternative Szenarien denken, in denen sie über mehr Handlungsgewalt verfügen. Möglich wäre auch, New Age zu hören, um sich dem Kapitalismus zu widersetzen. ... Wenn wir uns dazu entscheiden, ganz und gar im Hörerlebnis aufzugehen, so wie New Age es nahelegt, dann widerspricht dies dem Imperativ, unsere Freizeit nach Manier von Unternehmer-Individuen auf eine als 'produktiv' geltende Weise zu verbringen. Jetzt, da auch das letzte bisschen unserer Wachphasen vom Kapitalismus durchdrungen ist, kehrt New Age in einem wichtigen Moment wieder. Ihre einlullenden Klänge erinnern uns daran, dass Zeit und Raum für Entspannung und unser Wohlergehen erkämpft werden müssen."

Hier etwas für die innere und kosmische Harmonie:

Archiv: Fact