Magazinrundschau

Das ist so unfassbar 17. Jahrhundert

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
11.04.2017. Nicht Brüssel muss die ungarische Demokratie verteidigen, sondern die Ungarn, meint Peter Nadas in HVG. Frauenrechte gelten wohl nur provisorisch, fürchtet Margaret Atwood im New Yorker. La Croix porträtiert den Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon. Die London Review sucht britische Jobs in Polen. Die LA Review untersucht den Raum in den Filmen von Straub Huillet. Die New York Times beleuchtet das symbiotische Verhältnis von CNN-Chef Jeff Zucker und Donald Trump.

HVG (Ungarn), 09.04.2017

In Kürze erscheinen die Erinnerungen von Péter Nádas mit dem Titel "Világló részletek" (Aufleuchtende Einzelheiten, mehr). In dem aus diesem Anlass geführten Gespräch mit Péter Hamvay analysiert Nádas die gegenwärtige Lage der ungarischen Gesellschaft: "Viktor Orbán erkannte ausgezeichnet, dass er gegen einen kolonialistischen Ansatz der Union das ungarische Bürgertum erschaffen musste - wenn nötig auch auf protektionistischer Grundlage. Letzteres ist sein großer historischer Irrtum. Bürgertum und Kapitalismus lassen sich nicht auf protektionistischer Grundlage erschaffen. (…) Er lernte die Tricks des Brüsseler Politikbetriebs kennen, jedoch leider nicht dessen Substanz. Eines seiner wichtigsten Prinzipien ist, keine Entscheidungen zu fällen, aus denen es nicht auch wieder einen Ausweg gibt. Darum war es eine unermessliche Naivität von Seiten der ungarischen Opposition, darauf zu hoffen, dass Brüssel für sie die Demokratie verteidigen wird. Brüssel macht es nicht, weil Brüssel dies nicht machen kann. Das demokratische Europa kann nicht entgegen dem legitimen ungarischen Wählerwillen agieren, was auch immer jemand über ein antidemokratisches und antiliberales Regime denkt."
Archiv: HVG

New Yorker (USA), 17.04.2017

In der neuen Ausgabe des New Yorker erkundet Rebecca Mead die prophetische Ader der kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood, die in ihren Texten die Dystopien geschildert hat, die uns derzeit ereilen: "Was sich in 'The Handmaid's Tale' (Der Report der Magd, 1985, d. Red.) vertraut anhört, ist die unverblümte Frauenfeindlichkeit der Gesellschaft, die Trumps Ablehnung von political correctness in die alltägliche Redeweise hat einfließen lassen. Trumps Herabwürdigung von Hillary Clinton, so glaubt Atwood, ist verständlicher mit der historischen Perspektive puritanischer Hexenjagden. 'Es gibt Websites, die behaupten, Clinton war eine Satanistin mit dämonischen Kräften', meint sie. 'Das ist so unfassbar 17. Jahrhundert. Es kommt direkt aus dem Unterbewussten, es muss nur aufgerufen werden.' Das Erbe der Hexenjagden und die Scham, die es erzeugt, seien ein bleibender amerikanischer Schandfleck, meint Atwood. 'Nur einer der verantwortlichen Richter der Hexenprozesse hat sich je entschuldigt, und nur einer der Denunzianten. Wann immer Tyrannei herrscht, muss gefragt werden, wem sie nützt.' … Jetzt sieht es so aus, als wenn die hart erkämpften Rechte der Frau nur provisorisch gewesen seien, findet Atwood."

Außerdem: Peter Hessler berichtet von seiner Erfahrung, während des Arabischen Frühlings Arabisch zu lernen. John Seabrook folgt dem Impresario Paul Tollett zu dem von ihm initiierten Musik-Festival ins kalifornische Coachella Valley. Und Kathryn Schulz stellt uns die vergessene Bürger- und Frauenrechtlerin Pauli Murray vor.
Archiv: New Yorker

La Croix (Frankreich), 07.04.2017

Der Shooting Star auf der Zielgeraden der französischen Präsidentschaftswahlen heißt Jean-Luc Mélenchon, der inzwischen in den Umfragen den Konservativen François Fillon und den Sozialdemokraten Benoit Hamon abgehängt hat. Der - nicht wahrscheinliche, aber auch nicht unmögliche - Alptraum aller Kommentatoren wäre eine zweite Runde bei den Wahlen mit Marine Le Pen versus Jean-Luc Mélenchon. Bei dem Linkspopulisten Mélenchon überrascht wie bei Donald Trump oder Beppe Grillo die naive Brachialität seines Narzissmus - Marine Le Pen wirkt dagegen als eiskalte Technikerin der Emotionen. Die Autorin Stéphane Audeguy analysiert in einem interessanten Psychogramm die "zwei Körper" des Jean-Luc Mélenchon und beobachtet etwa bei Fernsehdebatten mit den anderen Kandidaten seine betont einfache Kleidung als "einer aus dem Volk". "Man wird sagen, das sind doch nur Details. Aber die Linke will, dass der Kandidat das Volk verkörpert. Mélenchon ist von der Idee dieser Inkarnation besessen. Er hat zu diesem Thema höchst überraschende Dinge gesagt - hier etwa eine Äußerung aus einer Fernsehsendung: 'Das Wichtigste ist nicht Wahlpolitik, das wichtigste ist das Vaterland - ich weiß, dass ich viele Leute schockieren werde, selbst in meinem eigenen Lager... Für mich ist das republikanische Vaterland die Identität Frankreichs und meine identität. Das bin ich selbst. Ich bin nichts anderes als das republkanische Volk. Das mag prätenziös erscheinen, aber...'"

Zu den Zeichen seiner höheren Sendung gehört auch das kleine rote Blechdreieck, das sich Mélenchon stets ans Revers heftet, bemerkt Audeguy, eine obszöne Aneignung eines Résistant- und Opferstatus aus der Geschichte, wie das Magazin Marianne erläutert: "Wer sich an den Geschichtsuntericht erinnert, wird hierin das Symobl erkennen, das die Nazis benutzten, um in ihren Lagern die politischen Gefangenen zu kennzeichnen: Widerstandkämpfer, Kommunisten, Wehrdienstverweigerer..." Selbst von einem Anhänger befragt, was es mit diesem Abzeichen auf sich hat, "bestätigt er diesen Ursprung: 'Das sind die deportierten Kommunisten.' Und er habe sich entschlossen, es permanent zu tragen, um auf rechte Kritiker zu reagieren, die ihn mit der extremen Rechten vergleichen." Das Zeichen wurde ursprünglich in Belgien als Abzeichen des Antifaschismus gegen neue Rechtsradikale erfunden.
Archiv: La Croix

London Review of Books (UK), 20.04.2017

Dem durchschnittlichen Briten geht heute schlechter als vor der Finanzkrise, dem durchschnittlichen Polen dagegen deutlich besser. James Meek sieht da einen Zusammenhang und gibt auch der EU die Schuld daran. Als Beleg erzählt er die Geschichte des Schokoladenherstellers Cadbury, der 2007 von einem Tag auf den anderen seinen fünfhundert Arbeiter verkündete, dass "ihre gutbezahlten, unbefristeten Jobs mit Rentenansprüchen" in eine neue Fabrik nach Polen verlagert werden. Cadbury ist nicht nur nach Polen gegangen, weil die Löhne dort niedriger sind, sondern weil der Firma dort in einer Sonderwirtschaftszone umfangreiche Begünstigungen gewährt wurden, ein System, das die EU in ganz Osteuropa erlaubt und das etliche großen Konzerne nutzen: "In der optimistischen Version der Cadbury-Geschichte war es zwar ein Fehler der EU, dass Polen Cadbury mit Subventionen anlocken durfte. Doch auf lange Sicht werden alle profitieren und Europa insgesamt. Osteuropa wird reicher und zieht mit Westeuropa gleich, dann gibt es 500 Millionen, die arbeiten und kaufen, statt vierhundert Millionen Menschen plus hundert Millionen, die arbeiten und Schlange stehen. Ein größerer Markt für alle, eine friedliche Wohlstandsgemeinschaft, Schwerter zu Schokoriegeln. Der größte Makel in dieser Version ist, dass am Ende der Somerdale-Skarbimierz-Unternehmung die neuen Jobs schlechter sind als die alten in Somerdale. Selbst wenn man annimmt, dass alle Arbeiter in Somerdale und ihre Kinder vergleichbare Jobs mit geringer Qualifikation finden, werden sie niemals so gut bezahlt sein und, noch wichtiger, sie werden niemals die gleichen großzügigen Renten erhalten."

Weiters: Nur Hohn und Spott hat Jeremy Harding für die Schöngeister übrig, die wie Ronald Raphael mit seinem Buch "Borderwall as Architecture" die Grenze zwischen den USA und Mexiko zu etwas Verbindendem machen wollen, zu einem Kunstprojekt oder auch einem mit Kakteen umkränzten Radweg für sorglose Outdoorer. Julian Barnes fragt bang, ob die Welt jetzt die Briten hasst.

Elet es Irodalom (Ungarn), 07.04.2017

Der Schriftsteller László Krasznahorkai erhielt 2017 den renommierten Aegon-Literaturpreis für seinen Roman "Die Heimkehr des Baron Wenckheim". In seiner Laudatio auf den Preisträger sagte der Literaturwissenschaftler Sándor Bazsányi: "Krasznahorkai spielt, Krasznahorkai unterhält, Krasznahorkai tollt rum, Krasznahorkai verspottet, Krasznahorkai ironisiert. Wie ein Großhändler, doch wilder als jemals zuvor. Mit gnadenloser Selbstironie schreibt er seine wichtigsten Themen neu, vom verunglimpften Erlösungswunsch bis hin zur dichten Apokalypse. Es ist ein befreiendes Buch - in beiden Bedeutungen des Wortes: Weil es mit seiner sprachlichen Beweglichkeit die schwerwiegendsten regionalen und existentiellen Themen der Krasznahorkai-Prosa entfesselt. Ich könnte metaphorisch sagen, dass es ein Satirespiel ist, wenn ich den Begriff nicht als verniedlichend und ungenau empfinden würde. Denn wir spüren hier nicht eine dem Tragischen untergeordnete Satire, sondern das Tragische kreuz und quer durchdringende Satire, besser: das Ironie. Bei Krasznahorkai wie bei allen wichtigen Schriftstellern von Tolstoi über Tolstoi bis Tolstoi steht das Ironische nicht an Stelle des Tragischen, es ist dessen Bestandteil. Ohne Zweifel haben wir vom diesjährigen Preisträger ein spielerisch weises, dunkel karnevalistisches Meisterstück als Geschenk erhalten."

LA Review of Books (USA), 07.04.2017


Szene aus Straub/Huillets Film "Von heute auf morgen" nach Arnold und Gertrud Schönberg von 1996

Die Filme von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet gelten als schwere Kost, deren Kenntnis sich bislang auf wenige Spezialisten vornehmlich im europäischen Raum beschränkte. Eine tourende Filmreihe und zwei neue Buchveröffentlichungen (mehr dazu hier und dort) machen die sperrig-spröden Filme des französischen Regie-Duos nun auch in den USA bekannter. Kevin McMahon hat sich eingehender mit den stets in einem besonderen Verhältnis zur Musik stehenden Filmen und Büchern der beiden befasst und geht dabei auch auf die besondere Rauminszenierung ein, etwa in dem Opernfilm "Von heute auf morgen": "Es handelt sich dabei mit Nachdruck um eine abgefilmte Aufführung: Wir sehen die Bühne, das Orchester und den (leeren) Saal. Die Szenerie wird nie 'geöffnet', was den auf seltsame Weise klaustrophobischen Plot um eine häusliche Auseinandersetzung noch betont. Jahre bevor die MetLive ihre Konventionen für abgefilmte Opern entwickelte, unterliefen Straub-Huillet diese bereits... Straub-Huillets Auseinandersetzungen mit dem Klang-Raum werden ergänzt durch die Auseinandersetzung mit dem Ort-Raum. Alle Elemente - Kamerarbeit, Klang, Montage, Text und Performance - zielen darauf ab, den Zuschauer an einem kohärenten, spezifischen Ort zu situieren. Nicht jeder Ort kommt dafür in Frage. Die Dokumente in dem Band 'Writings' belegen den enormen Aufwand, mit dem sich Straub-Huillet auf die Suche nach Drehorten machten, die den Anforderungen für das Projekt exakt genügten. Und wenn sie einen Ort gefunden hatten, brachten sie präzise auf den Punkt, wie sie ihn gebrauchen würden. 'Die Arbeit mit dem Drehort ist essenziell', sagt Straub. 'Ansonsten führt man bei den Dreharbeiten einfach nur alte Tricks auf. Was nicht durch Geduld und Zeit gemeistert wird, ist nichts wert. Es muss den Ort durchdringen und Wurzeln schlagen.'"

En attendant Nadeau (Frankreich), 10.04.2017

Der algerische Autor Kamel Daoud hatte sich mit seiner Kolumne im Quotidien d'Oran bis nach Deutschland einigen Ruhm erworben. Als er nach der Kölner Silvesternacht in scharfen Worten das Geschlechterverhältnis in muslimischen Ländern anprangerte, wurde er als "islamophob" angegriffen. Unter anderem kursierte in Frankreich ein Akademikerpapier gegen ihn wie einst in Deutschland gegen Necla Kelek (mehr dazu hier). Daoud hat seine Kolumne daraufhin gestoppt - aber nun ist in Frankreich ein Sammelband erschienen: "'Mes Indépendances' ist also mehr als ein Plädoyer", schreibt Cécile Dutheil, "er ist die Selbstbehauptung einer machtvollen, mutigen Stimme, die wir nicht zögern, Voltaires 'Ecrasez l'infâme' an die Seite zu stellen. 'Der Vorwurf der Islamophobie bringt zugleich die Angst mit, als 'islamophob' bezeichnet zu werden, und hat somit den Raum all dessen ausgeweitet, was der Kritik, der Reflexion und der Ablehnung unzugänglich sein soll', schrieb Daoud am 3. August 2016. Die Angst, 'als dies oder das betrachtet' zu werden, ist ein gefährlicher Typ der Zensur, der die Freiheit des Denkens einschränkt. Daoud will sich nicht darauf einlassen."

Dutheil bespricht auch Annick Duraffours und Pierre-André Taguieffs monumentalte Studie "Céline, la race, le Juif : Légende littéraire et vérité historique", die zum Standardwerk über das Thema von Célines Antisemitismus werden dürfte.

Guardian (UK), 08.04.2017

Die BBC strahlt gerade ihre Serienfassung von Evelyn Waughs Satire "Decline and Fall" aus, ein Klassiker englischen Internatshorrors. Alex Renton erinnert daran, wie andere Autoren in ihren Büchern die grausamen Sitten der Privatschulen enthüllten, allerdings öfter noch verbargen: "Gemein ist diesen Erinnerungen, von Churchill bis Christopher Hitchen, vor allem ein spezieller Ton: trocken, tolerant, fast ein wenig stolz. Man macht kein Theater und - noch wichtiger - man verrät seine Klasse nicht. Nur wenige Männer oder Frauen sind bereit, die Vorzüge ihrer Internatserfahrung in Abrede zu stellen, zumindest nicht vor dem späteren 20. Jahrhundert. George Orwell und sein Schulkamerad Cyril Connolly taten es und benutzten - in Orwells Fall fiktionalisiert - den barocken Horror ihrer Südküsten-Schule, St. Cyprian. Unter linken Intellektuellen machte sich die Vermutung breit, dass die die sozialen Unterschiede in Großbritannien und vor allem die spezielle Psychologie seiner herrschenden Klasse, vielleicht doch etwas mit der einzigartig bizarren Erziehung zu tun haben könnte, die der Elite zuteil wird. In dem 1934 von Graham Greene herausgegebenen Erinnerungsband "The Old School" hielten es Autoren wie W.H. Auden, Harold Nicolson und Eileen Arnot Robertson für faschistisch, wie Kinder an ihren Schulen in die Konformität tyrannisiert wurden."

Weiteres: Jeanette Winterson erklärt, warum sie ihre Partnerin geheiratet hat, obwohl sie so gern ein Zeichen gegen konventionelle Monogamie gesetzt hätte.
Archiv: Guardian

New York Times (USA), 09.04.2017

In der aktuellen Ausgabe des New York Times Magazines untersucht Jonathan Mahler die Symbiose zwischen dem CNN-Chef Jeff Zucker und Donald Trump: "Hätte Trump die Wahl verloren, hätte CNN weiter ums Überleben kämpfen müssen. So wurde der Sender wichtiger für die nationale Debatte denn je. Der Mann, der dafür verantwortlich ist, ist derselbe, der in wichtigen Teilen Trumps politische Karriere befeuert hat. Es war Zucker, der als NBC-Präsident die Reality-Show "The Apprentice" mit Trump als Gastgeber ins Programm nahm, als Trump wenig mehr als ein überforderter Immobilienmakler mit einem abstürzenden Casino-Geschäft war. Diese Show wendete Trumps Schicksal mehr als alles andere und verwandelte den B-Promi-Schurken in den Prime-Time-Milliardär. Und es war Zucker, der als CNN-Präsident die TV-affinen Ereignisse übertrug, all die nachrichtenträchtigen Interviews, Kundgebungen, Debatten, 'großen politischen Verlautbarungen', die nie wirklich welche waren - die Trump zum republikanischen Aushängeschild machten, als kaum jemand sonst seine Kandidatur ernst nahm … Keiner von beiden wäre ohne den anderen da, wo er heute ist. Trumps Ausflug ins Reality-TV bescherte Zucker einen Prime-Time-Hit, als er ihn dringend brauchte. Heute sorgt Trumps Ausflug in die Politik fortdauernd für die große Story, die Zucker so dringend braucht. Eine symbotische Beziehung, die so nur in der Welt des Fernsehens gedeihen konnte, wo die Grenzen zwischen Nachricht und Entertainment, Fantasie und Realität immer mehr verwischt werden."

Außerdem: Robert F. Worth erkundet die Rolle des französischen Sozialwissenschaftlers Gilles Kepel in der Debatte um Assimilation und Extremismus unter Frankreichs Muslimen. Leslie Jamison erzählt, wie es sich anfühlt, eine Stiefmutter zu sein. Carina Chocano denkt darüber nach, was es bedeutet, "begierig nach etwas" genannt zu werden, in den sozialen Medien wie auf der politischen Bühne. Und Jenna Wortham fragt, warum Silicon Valley Online-Belästigungen nicht zu stoppen vermag.
Archiv: New York Times