Magazinrundschau

Die letzte Frau auf Erden

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
24.06.2019. Die NYRB fragt, ob es in den USA Konzentrationslager geben kann. Die Ausbeutung afrikanischer Migranten, beobachtet der Guardian, läuft jedenfalls in Kalabrien wie geschmiert. El Pais und El Faro erkunden die Südgrenze von Mexiko. Atlantic findet heraus, dass Flug MH370  aus dem Cockpit heraus zum Absturz gebracht wurde. Der New Yorker erkundet den Macronismus. Aktualne beobachtet das Erwachen der tschechischen Bürgergesellschaft. La vie des idées fordert, Notre Dame als gotische Kathedrale zu rekonstruieren und nicht als romantisches Gemälde. Und die Paris Review bringt eine Eloge Italo Calvinos auf Natalia Ginzburg.

New York Review of Books (USA), 21.06.2019

Vergangene Woche verglich der Autor und Aktivist Jean Ziegler im FR-Interview die Flüchtlingscamps auf der griechischen Insel Moira mit Konzentrationslagern (unser Resümee). Auch die New Yorker Kongress-Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez bezeichnete kürzlich die Flüchtlingszwischenlager an der Südgrenze der USA als "Konzentrationslager" - und löste eine heftige Debatte in den amerikanischen Medien aus. Mit Blick auf die Geschichte der Massenlager, die Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der Massenproduktion von Stacheldraht und Maschinengewehren auftraten und erstmals im kubanischen Unabhängigkeitskampf gegen Spanien eingesetzt wurden, findet die Historikerin Andrea Pitzer den Begriff nicht nur legitim, sondern spricht auch von einem neuen "Konzentrationslagersystem" in den USA. Sie befürchtet eine Institutionalisierung der Lager wie in Guantanamo und verweist auf die Zustände: "Am 11. Juni entdeckte ein Universitätsprofessor mindestens 100 Männer hinter Maschendrahtzäunen in der Nähe der Paso del Norte-Brücke in El Paso, Texas. Diese Häftlinge berichteten, sie hätten wochenlang draußen gesessen, bei Temperaturen von über 38 Grad. Taylor Levy, ein Anwalt der Einwanderungsbehörde in El Paso, berichtete, er sei in eine Einrichtung gegangen und habe "'einen vierjährigen Selbstmörder entdeckt, dessen Gesicht mit blutigen, selbst zugefügten Kratzern übersät war… Ein weiteres Kleinkind musste von seiner Mutter festgehalten werden, weil es mit Vollgas gegen Metallschränke rannte. Er war voller Blutergüsse.' Wenn die Entscheidung, was mit dieser wachsenden Zahl von Erwachsenen und Kindern, die in den USA Zuflucht suchen, zu tun ist, auf einer komplexen humanitären Politik und internationalen Gesetzen beruht, an denen die meisten Amerikaner kein großes Interesse haben, stellt sich  eine einfache Frage: Was genau sind diese Lager, die die Trump-Regierung eröffnet hat, und wohin führt dieses Programm der Masseninhaftierung?"

Es geht in der Debatte nicht um die Begrifflichkeit, meint Masha Gessen auch im New Yorker: Es ging Ocasio-Cortez vielmehr darum, das Unvorstellbare vorstellbar zu machen: "Der Holocaust und der Gulag sind solch ungeheuerliche Ereignisse, dass allein die Vorstellung, sie zu relativieren, ebenfalls ungeheuerlich erscheint. Das mcht sie allerdings auch unvorstellbar. Indem wir die Geschichte zu etwas erklären, das nie hätte passieren dürfen, schmieden wir sie zu etwas, das nicht passieren konnte. Der logische Fehlschluss wird unvermeidlich. Wenn etwas nicht passieren darf, dann ist das, was passiert, eben nicht dieses etwas. Was wir im wahren Leben sehen, oder zumindest im Fernsehen, kann unmöglich dasselbe ungeheuerliche Phänomen sein, vom dem wir kollektiv beschlossen haben, dass es unvorstellbar ist."

Guardian (UK), 24.06.2019

Im Süden Italiens arbeiten mehr als hunderttausend Migranten vor allem bei der Tomatenernte unter sklavenähnlichen Bedingungen für mafiotische Organsiationen. Afrikanische Migranten schuften zwölf Stunden am Tag für einen Hungerlohn und leben in Barackensiedlungen ohne Trinkwasser. Die Migration mag chaotisch und unkontrolliert verlaufen, die Ausbeutung der Migranten läuft aber wie geschmiert, erfahren Tobias Jones und Ayo Awokoya, die sich in Testa dell'Acqua umgesehen haben, einem Elendsviertel in der Nähe von San Ferdinando in Kalabrien: "Hier leben vor allem Nigerianer, Gambier, Ghanaer, Sudanesen, Somalier und Burkinabé. Fünf Prozent sind Frauen. Es gibt einen Wasserhahn, aber das Wasser ist nicht trinkbar. Die Toiletten sind nur ein Loch im Boden. Es gibt ein paar Generatoren und verschiedene Gasflaschen zum Kochen. Niemand weiß, wie viele Menschen um San Ferdinando herum unter diesen Bedingungen leben, aber in der Erntesaison sind es wahrscheinlich zweitausend. Eine Wohltätigkeitsorganisation bietet medizinische Unterstützung in dieser Siedlung. MEDU zufolge haben 21 Prozent Magen-Darm-Beschwerden, 17 Prozent Atemprobleme und 22 Prozent Knochen- oder Gelenkschmerzen. Viele haben psychische Probelem, und die Schrekcen, die sie auf ihrem Weg erlebten, haben sie traumatisiert. Während wir herumgehen ruft eine junge Nigerianerin: 'Ihr müsst uns helfen!'. Sie zeigt den Ausschlag auf ihrem Arm, ob er von dem Kontakt mit Pestiziden, von Mücken oder Bremsen kommt, weiß sie nicht. Eines der vielen Mikrogeschäfte hier ist der Handel mit Schmerzmitteln, besonders Ketoprofen. Manche müssen ein oder zwei Stunden mit dem Rad zur Arbeit fahren und viele sind danach so erschöpft, dass sie, wenn sie fertig sind mit der Arbeit, nichts anderes tun können als zu schlafen."

Arron Merat hat für einen großen Report recherchiert, welche Rolle die britische Regierung im Krieg Saudi-Arabiens gegen die Huthi-Rebellen spielt: "Britannien liefert nicht nur Waffen für diesen Krieg, sie verschaffen ihm auch das nötige Personal und die erforderliche Expertise. Die britische Regierung hat Militärs der Royal Air Force abgestellt, die als Ingenieure arbeiten, saudische Piloten und Aufklärer trainieren - während BAE System, der größe britische Waffenkonzern, sogar eine noch wichtigere Rolle spielt. Die Regierung hat ihn beauftragt, Saudi-Arabien mit Waffen, Wartung und Ingenieure zu versorgen."
Archiv: Guardian

El Pais (Spanien), 25.06.2019

Düstere Karibik: Die spanische Tagezeitung El País und das mittelamerikanische Internetjournalismusprojekt El Faro haben sich zusammengetan für eine großangelegte mehrteilige Reportage über die seit Neuestem ins Blickfeld geratende Südgrenze Mexikos, "die lateinamerikanische Trennungslinie, die täglich von den meisten Menschen überquert wird, wie überhaupt eine der meist überschrittenen Grenzen der Welt." Durch die jüngst getroffene Vereinbarung zwischen den USA und Mexiko könnte die von Donald Trump geplante große Mauer hier ihre eigentliche, entscheidende Verwirklichung erfahren. Im ersten Teil geht es um die drei "in unmittelbarer Nähe zu wichtigen Welttouristikzielen gelegenen Orte Xcalak, ein abgelegenes mexikanisches Dorf, das vom Kokain lebt, das das Meer hier an die Strände spült; um Blue Creek, menonitisches Wirtschaftszentrum in Belize, und den großen Handelshafen Puerto Barrios, den einzigen Atlantikzugang Guatemalas, wo unter anderem 5.000 Menschen von der United Fruit Company beschäftigt werden." Von den offiziellen Vertretern ist dabei allerdings erwartungsgemäß nicht allzu viel zu erfahren: "Die Leute in Ihrem Ort leben offensichtlich von der Suche nach Drogen am Strand und im Meer... - 'Ich weiß nicht, wovon Sie reden, dieses Thema fällt nicht in unsere Zuständigkeit', erwidert der Bürgermeister.'"
Archiv: El Pais

Aktualne (Tschechien), 23.06.2019

Noch ganz benommen sind die tschechischen Kommentatoren von den Hunderttausenden, die in Prag für den Rücktritt von Premier Andrej Babiš demonstrierten - eine Kundgebung, so groß wie seit der Samtenen Revolution nicht mehr. "Eine Kraft zeigt sich da, von deren Existenz wir nicht wussten", schreibt Marek Švehla in Respekt, und Martin Fendrych spricht in Aktuálně von der "aufgewachten Bürgergesellschaft". 1989 seien die Menschen auf der riesigen Letná-Ebene zusammengekommen, um sich die Freiheit zurückzuholen, diesmal, um sie zu verteidigen. "Babiš behauptet, er wüsste nicht, was die Demonstranten wollen, dabei ist es klar: Sie wollen Demokratie, gleiche Bedingungen für jeden, die gleiche Justiz für Babiš wie für Jedermann. Sie wollen einen Premier, gegen den kein Strafverfahren läuft und der nicht mit dem StB zusammengearbeitet hat. Der im Treuhandfonds keine Holdings besitzt, die EU- und Tschechien-Gelder beziehen. Sie wollen keinen Präsidenten, der seine Wähler und den Rest des Landes gegeneinander aufhetzt und zu den Regimen Russlands und Chinas aufblickt. Und sie wollen keine Justizministerin, die nicht für uns da ist, sondern für diese beiden Politiker." Auch wenn Babiš so schnell nicht zurücktreten möchte - diesen Protest "kann er nicht mehr ignorieren."
Archiv: Aktualne

New Yorker (USA), 01.07.2019

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In der aktuellen Ausgabe des Magazins erklärt Lauren Collins die Politik Emmanuel Macrons: "Makronismus ist keine Gleichschritt-Vision vom Fortschritt. Macron glaubt, Ungleichheit sei ungerecht, wenn sie durch Umstände verursacht, aber akzeptabel, wenn sie durch bewusste Entscheidungen verursacht wird. Sein vielleicht grundlegendster Glaube ist der des Vorrangs der individuellen Rechte. 'Heute ist es sehr schwierig, all die unterschiedlichen Schicksale, Perspektiven oder Situationen aller Menschen in Einklang zu bringen oder auszugleichen', erklärt er. 'Aber damit Gesellschaften nachhaltig sind, muss man zumindest die Chancengleichheit wiederherstellen.' Diese Ansicht ist realistisch, kann aber auch wie eine Einschränkung des sozialen Teils von Macrons sozialdemokratischen Überzeugungen wirken. Er verbrachte einen Großteil seiner ersten zwei Jahre an der Macht damit, Wirtschaftsreformen umzusetzen. Diesen Monat kündigte er an, dass seine Präsidentschaft in Phase II eintritt, in der es um ökologische und soziale Gerechtigkeit geht. Ein opportunistischer Schachzug, aber nicht unbedingt ein leerer. Macron ist weniger daran interessiert, eine großartige Vision der Gesellschaft zu entwickeln, als Teile existenter Ideologien neu zu kombinieren, sodass das traditionelle politische Grenzlinien ihre Gültigkeit verlieren. 'Macron ist im Herzen liberal', sagte mir Aurélien Taché, ein Abgeordneter des linken Flügels von L.R.E.M. 'Aber als Präsident muss er sich mit einem Teil der öffentlichen Meinung auseinandersetzen, der diesen Fragen feindlich gegenübersteht, und deshalb versucht er, beides zu erreichen.'"

In einem anderen Text erläutert Joan Acocella das Dilemma moderner Tanzkompanien zwischen der Tradition großer Direktoren wie Cunningham oder Bausch und der Notwendigkeit, sich fortzuentwickeln: "Viele solcher Kompanien sprechen von einem 'Erbe', das es fortzuführen gilt, Warum? Moderner Tanz als Kunstform ist mehr als ein Jahrhundert alt. Viele der Kompanien sind inzwischen Institutionen, Teil unserer kulturellen Landschaft. Lösen sie sich auf, verlieren viele Leute ihre Jobs. Wichtiger: Es wird dann niemanden mehr geben, der die Tänze korrekt aufführen kann, in einem Stil, den Generationen von Tänzern weitergereicht haben. Das Kunstwerk wird verschwinden. Als hätte nach Rembrandts Tod jemand all seine Leinwände genommen und verbrannt."
Archiv: New Yorker

168 ora (Ungarn), 22.06.2019

In seinem neuen Roman "Die Kugel, die Puschkin tötete" erkundet der ungarische Schriftsteller Gergely Péterfy die Ursprünge des heute tobenden Kulturkampfs. Im Interview mit Zsuzsanna Sándor gibt Péterfy einen Einblick in seine Überlegungen: "Nach dem 'Ausgestopften Barbar' fragten mich viele, in welcher Ära mein nächster historischer Roman spielen würde, ob wir eventuell ins 16. Jahrhundert zurückgingen. Doch ich würde mich sehr langweilen, wenn ich ähnliche Bücher in Serie schreiben müsste. Obwohl auch in diesem Buch eine historische Perspektive existiert, sind wir wesentlich näher an der Gegenwart: Es beginnt in den vierziger Jahren und endet Mitte der zweitausendzehner Jahre. Am meisten beschäftigte mich der Weg bis zur vollkommenen Aushöhlung der Werte, zur Zerstörung der Kultur… Metaphorisch drückt es aus, dass in Osteuropa versucht wird, die Intellektuellen und die Künste zu liquidieren … Denn die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte ist auch die Geschichte des großen Verrats. Traumatisierung und Frustration gehen beinahe immer mit einem moralischen Zusammenbruch einher."
Archiv: 168 ora

Paris Review (USA), 20.06.2019

Die Paris Review veröffentlicht einen irritierenden, aber doch recht scharfsinnigen Artikel von Italo Calvino aus dem Jahr 1947, in dem der Turiner Schriftsteller die Klugheit, Klarheit, Strenge seiner Kollegin und Freundin Natalia Ginzburg feiert, indem er sie zu einer raren Spezies erklärt: "Natalia Ginszburg ist die letzte Frau auf Erden. Der Rest der Welt sind Männer - selbst ihre weiblichen Arten gehören zu dieser Welt der Männer. Einer Welt, in der Männer Entscheidungen treffen, wählen, handeln. Und doch ist Natalia Ginzburg eine starke Frau. Ich meine eine starke Schriftstellerin. Die Last schwebt wie eine Verurteilung über ihren Büchern. Doch auch wenn sie sich diesem Urteil fügt, macht es ihre Sprache nicht ernst, sentimental oder ausweichend. Bei ihr gibt es keine weibliche Kapitulation vor dem Schauer der Empfindungen, keine trügerischen Erinnerungen wie bei Virginia Woolf, was andere Schriftstellerinnen, auch italienische, dann immer wieder kopierten. Natlia Ginzburg glaubt an Sachen, an die wenigen Dinge, die der Leere des Universums entrissen werden können: der Schnurrbart, einige Knöpfe. Sie glaubt an ihre Gefühle, an ihre Handlungen, egal wie verzweifelt sie sind."
Archiv: Paris Review

La vie des idees (Frankreich), 24.06.2019

Bruno Haas und Thomas Le Gouge warnen davor, das Dach von Notre Dame nach den Plänen Viollet-le-Ducs zu rekonstruieren. Denn gerade seine Spitze widerspreche dem Prinzip gotischer Kathedralen: "Die Spitze und das Dach von Notre-Dame, das Viollet-le-Duc in seiner Rekonstruktion der Kirche mit einem Kragen auf dem First verzierte, fungierten wie eine Kontur oder Silhouette vor dem Hintergrund des Himmels, ein wenig wie in einem Gemälde der Romantik, in dem man das 'Malerische' sucht. Das sagt er selbst in seinem Dictionnaire de l'architecture médiévale, im Abschnitt über Spitzen, in dem er erklärt, dass sich die Aufmerksamkeit der Architekten 'vor allem auf die Silhouetten dieser Massen richten muss, denn die geringste Unvollkommenheit, wenn man den Himmel als Hintergrund hat, schockiert das ungeübte Auge' (IV, S. 427). Diese Spitze war daher die Antwort auf eine grundlegend moderne Vorstellung. Denn nichts passt weniger zum gotischen Stil! In der Gotik wird der Himmel nie als bildlicher Hintergrund betrachtet, vor dem sich die Spitze erhebt, sondern als ein riesiges Gewölbe, das die Erde und ihre Bewohner umfasst. Der Himmel erhebt sich nicht vor unserem Blick, sondern umfasst ihn, so wie er die Spitze umschließt, die in seine Höhen ragt. Erinnert sei daran, dass die gotische Malerei die Idee des 'Hintergrundbildes' nicht kennt und nicht einmal das Wort in jener Zeit existierte, in deren Bereich sich Anachronismus und Missverständnisse heiter ausbreiten."

Verdankt der Mensch seine Individualität der Renaissance oder der Moderne? Hat sie ihn befreit oder unglücklich gemacht? Laetitia Bucaille stellt Federico Tarragonis Studie "Sociologies de l'individu" vor, die die Individualisierung historisch und soziologisch zugleich untersucht: "Heute befindet sich der autonome und reflexive Mensch in einer ambivalenten Situation. Einigen Soziologen zufolge erlaubt ihm die Distanz zu den Institutionen, sich als Subjekt zu schaffen und das eigene Leben beruflich, emotional oder spirituell zu gestalten. Anderen zufolge führt diese Autonomie zu Einsamkeit und der Angst, 'dem eigenen Ideal nicht gerecht zu werden'. In Tarragonis Augen sollte die Reflexivität nicht überbewertet werden: Auch wenn sich der Einzelne auf diese neuen 'reflexiven Ressourcen' stützt, hat ihn seine Sozialisation bereits viel tiefer geprägt. Das Individuum handelt und entscheidet in seiner gesamten Existenz auf der Grundlage sozialer Beziehungen, die ihn zugleich einengen und schützen. Gerade in seinen sozialen Verbindungen nimmt sich der Mensch als singuläres Wesen wahr und durch sie erlangt er soziale Anerkennung."

Elet es Irodalom (Ungarn), 24.06.2019

Modest Mussorgsky hat seine Oper "Die Fürsten Chowanski" nie fertiggestellt, Nikolai Rimski-Korsakow, Igor Strawinsky und Dmitri Schostakowitsch haben später an dem Werk gearbeitet. Jetzt hat er der ungarische Musikwissenschaftler János Bojti eine neue Fassung vorgelegt, die im kommenden Jahr in Berlin aufgeführt werden wird. Im Interview mit László J. Győri  spricht Bojti über seine akribische Restaurierungsarbeit: "Ich selbst bin kein Komponist, doch ich beschäftigte mich sehr viel mit Mussorgsky, ich studierte das Arrangieren und von Beruf bin ich Aufnahmeleiter. In meinem ganzen Leben hatte ich Partituren in der Hand, ich spiele mehrere Instrumente, also habe ich eine gewisse Vorstellung davon, wie sich eine Mussorgsky-Oper anhören kann, doch für lange Zeit traute ich mich trotzdem nicht an die Oper, andererseits aber konnte ich sie auch nicht so belassen. Dass sich niemand an diese Arbeit traute hängt sehr mit der Unantastbarkeit von Schostakowitsch zusammen, den niemand zu hinterfragen wagte. Dennoch reicht es aber nicht, wenn du lediglich arrangieren kannst, man muss auch viel über Mussorgsky wissen: Wie hat er arrangiert, welche Instrumente hat er verwendet? Man muss all seine Partituren kennen und lesen, was ich auch tat. Lediglich aus dem Klaviernachlass kann man nicht erraten, wie er Chowanschtschina arrangiert hätte."

The Atlantic (USA), 01.07.2019

Im aktuellen Heft macht sich William Langewiesche daran, den Fall der vor fünf Jahren auf mysteriöse Weise zwischen Kuala Lumpur und Peking über dem Indischen Ozean verschwundenen malaysischen Boeing 777 aufzuklären: "Soviel lässt sich mit Sicherheit über das Schicksal von MH370 sagen: Erstens war das Verschwinden eine vorsätzliche Handlung. Es ist unvorstellbar, dass die uns bekannte Flugroute durch eine Kombination aus Systemausfall und menschlichem Versagen verursacht wurde. Feuer, Rauch, Explosion, Zusammenbruch des Kontrollsystems, Sturm, Eis, Blitz, Vogelschlag, Meteorit, Vulkanasche, mechanisches Versagen, Sensoren-, Instrumenten-, Funkversagen, medizinischer Notfall, Bombe - nichts davon erklärt die Flugroute. Zweitens fand die Steuerung des Flugzeugs trotz gegenteiliger Theorien nicht aus der Ferne statt, sondern aus dem Cockpit … Die MH370 flog höchstwahrscheinlich mit Autopilot Richtung Süden in die Nacht. Wer auch immer im Cockpit war, war aktiv und lebendig. War es eine Entführung? Das ist die im offiziellen Bericht bevorzugte Lösung. Es ist die schmerzloseste Erklärung für jeden, der in dieser Nacht Autorität besaß, wirft jedoch immense Probleme auf. Das wichtigste ist, dass die Cockpittür massiv, elektrisch verriegelt und videoüberwacht war. Außerdem vergingen weniger als zwei Minuten zwischen Zaharies (der Pilot, d. Red.) Gutenachtgruß an den Tower in Kuala Lumpur und dem Abgehen von der regulären Route. Wie sollte es den Entführern möglich gewesen sein, den Zeitpunkt der Übergabe an die vietnamesische Flugsicherung abzupassen, um Zugang zum Cockpit zu erhalten, und das, ohne dass die Piloten einen Notruf übermitteln konnten?"
Archiv: The Atlantic
Stichwörter: Mh370, Meteoriten, Ozeane, Rouen

Wired (USA), 20.06.2019

Von Disneys derzeitiger Strategie, den hauseigenen Fundus an Animationsfilmklassikern für aufwändige Neuverfilmungen zu plündern, mag man halten, was man will. Filmtechnisch interessierte Menschen finden hier aber reichlich Anschauungsmaterial über den tricktechnischen state of the art. Beispiel: "Der König der Löwen". Dessen CGI-Fotorealismus hat zumindest nach dem ersten Trailer Peter Rubin mit offenem Mund dastehen lassen, wie wir erfahren: Produzent Jon Favreau ließ den Film in einer VR-Umgebung drehen und zwar "mit Dollies, Kränen und anderen Werkzeugen, die es Kameramann Caleb Deschanel gestatteten, genau die richtigen Blickwinkel zu treffen. Es gab sogar Beleuchtung und Kameras. Nur dass man diese Kameras und Lampen nirgends in echt finden konnte. ... All die Drehorte, die man aus dem Original kennt - Pride Rock, der Friedhof der Elefanten, Rafikis alter Baum - existierten tatsächlich, wenngleich nicht als konkrete Sets oder Dateien, die irgendwo auf dem Rechner eines Animators schlummerten. Vielmehr fanden sie sich in einer Art Filmemacher-Videospiel als virtuelle, in 360 Grad begehbare Umgebung voller digitalisierter Tiere, in der sich Favreau und seine Crew frei bewegen konnten. Mit ihren Headsets hatten die Filmemacher freien Zugang zur kompletten Ausstattung. ... Draußen, in der echten Welt, gab es das sogenannte 'Volume', gewissermaßen ein Set, wenn sich dort denn tatsächlich irgendwas befände. Stattdessen ist das 'Volume' ein riesiger, offener Raum, in dem die Crew Kamerawägen und Kräne installiert hatte - zwar nicht wirklich für Kameras, sondern für Motivsucher, die in Größe und Gewicht etwa jenen Kameras entsprechen, die sie ersetzen. ... Um nun eine Szene zu inszenieren, stülpten sich die Filmemacher ihre Headsets über, um genau zu ermitteln, wo die Kameras und Lampen aufgestellt sein müssten, um die Action am besten einzufangen. Dafür verwendeten sie tragbare Kontrollgeräte, um das virtuelle Equipment wie Schachfiguren zu verschieben. In der echten Welt, im 'Volume', würden dann echte Kameramänner die virtuelle Umgebung 'fotografieren', indem sie ihre echten, verkabelten Motivsucher bewegten, deren Bewegungen in der virtuellen Welt von virtuellen Kameras nachempfunden wurden. Zwei Ebenen der Realität - Fleischwelt-Bewegungen, die digitales Material einfangen."

Archiv: Wired