Magazinrundschau

Oma war musikalisch, arm, komisch und bockig

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
01.12.2020. In Magyar Narancs empört sich der Schriftsteller Dénes Krusovszky über den Missbrauch von Kertesz-Zitaten für die antisemitische Agenda der Orban-Regierung. Keine Demokratie ist stark durch ihre Güte, verkündet in Atlantic der Historiker Peter Turchin. Der Merkur analysiert den Trend zum Ausschlusswort "Pöbel". Deník Referendum deckt die bis zum Premierminister Andrej Babiš reichenden Hintergründe einer ökologischen Katastrophe in Tschechien auf. Guernica zeichnet das weibliche Bild der Appalachen.

Magyar Narancs (Ungarn), 01.12.2020

Szilárd Demeter, Direktor des Budapester Petőfi Literaturmuseums und Regierungsbeauftragter für das Landesarchiv, behauptete anlässlich des angekündigten polnischen und ungarischen Vetos im Haushaltsstreit der EU (aufgrund der Verknüpfung der Auszahlung von EU-Fördermitteln mit Rechtsstaatlichkeit) in einem Artikel für das regierungsnahe Internet-Portal origo.hu, dass Europa die 'Gaskammer' des liberalen 'Führers' George Soros sei und aus der Kapsel der multikulturellen offenen Gesellschaft Gift herausströme, das für die europäische Lebensweise tödlich sei. Die 'Liberalen' wollten die Polen und die Ungarn aus jener politischen Gemeinschaft ausschließen in der sie noch Rechte hätten. Sie - die Ungarn und die Polen - seien die neuen Juden (mehr dazu in der Presse). Jüdische Organisationen und die Botschaft Israels protestierten gegen den offen antisemitischen und geschichtsrelativierenden Artikel, mehrere tausend Menschen fordern den Rücktritt oder die Ablösung von Demeter. In der Online-Ausgabe der Wochenzeitschrift Magyar Narancs reagiert der Schriftsteller Dénes Krusovszky auf den Eklat. Ihm stößt besonders übel auf, dass Demeter sich - in klassischer Täter-Opfer-Umkehr - mit Zitaten von Imre Kertész über den "selbstmörderischen Liberalismus"  und von Hannah Arendt schmückt: "Das Zitieren von Kertész zeigt, welche Rolle die Regierung für den Nobelpreisträger vorsieht. Auch aus ihm wurde eine Vorlage gefertigt, die jederzeit benutzt werden kann. Denn für solche Sätze hat sich die Regierung Kertész - bzw. seinen Nachlass, seinen Namen, seine Marke - angeeignet (mehr hier und hier). Das überaus zusammengesetzte Lebenswerk, die Beziehungen der Texte zueinander, der Bogen des schriftstellerischen Wirkens, die Persönlichkeit des Autors, seine Wahrheiten, seine Irrtümer, seine Verletzungen und Beleidigungen, die Gesamtheit seiner Sätze, die Tiefe seiner Worte, all das interessiert sie nicht. Es geht um ein, zwei Zitate und um das Prestige des Nobelpreises, ein alles in allem nicht sehr teuer erkauftes Copyright und schon kann man bis zum Ultimo Wendungen nutzen wie 'selbstmörderischer Liberalismus', 'dumme Demokratie', 'Europa flutende Muslime' etc. In diesem Diskurs muss Kertész nicht verstanden oder gelesen werden, man will nur einige Zeilen von ihm kopieren und einfügen."
Archiv: Magyar Narancs

Deník Referendum (Tschechien), 30.11.2020

Von "einer der größten ökologischen Katastrophen in der Geschichte der Tschechischen Republik" spricht das unabhängige Onlineportal Deník Referendum in Bezug auf die Vergiftung des Flusses Bečva in Mähren, die Ende September auf einer Länge von etwa vierzig Kilometern quasi das Flussleben auslöschte. Seit der Verseuchung "sind zwei Monate vergangen, und die Polizei hat immer noch keinen Täter ausgemacht. Schon vor einem Monat wies Deník Referendum nach, warum es praktisch ausgeschlossen sei, dass die Quelle der Vergiftung ein sechzehn Kilometer langer Kanal ist, der vom Industrieareal des damaligen Großbetriebs Tesla in Rožnov pod Radhoštěm stamme. Auf den wies nämlich die Polizei bereits am 26. September, also sechs Tage nach dem Unfall, hin. "Aus unseren Nachforschungen hat sich im Gegenteil ergeben, dass der wahrscheinlichste Verursacher die Chemiefabrik DEZA aus der Agrofert-Holding von Premier Andrej Babiš ist." Sprecher der Fabrik hatten wiederholt jeglichen Unfall geleugnet. Deník Referendum hat nun allerdings die Aussagen von Mitarbeitern und sogar dem Angestellten, der das Unglück verursachte, dass sehr wohl kurz vor der Verseuchung des Flusses ein Unfall bei DEZA passiert ist, außerdem von Chemieexperten feststellen lassen, dass es sich bei dem hauptsächlichen Gift nicht wie offiziell behauptet um Zyanid handelt, sondern um Phenol. In einem sehr ausführlichen Investigativbericht beweist das Portal, dass "Agrofert nicht die Wahrheit sagt". Verdächtig sei auch, dass "schon einen Tag nach dem Unfall die Tschechische Umweltinspektion darüber Bescheid wusste, dass DEZA keine Schuld habe, obwohl es doch noch ganze vier Tage dauerte, bis Zyanid als Ursache der Vergiftung gemeldet wurde, und weitere zwei Tage, bis man auf den Rožnover Kanal verwies." Auf diese Weise habe man schnell von DEZA ablenken wollen, was es Agrofert offenbar erlaubte, einen riesigen Umweltskandal zu vertuschen.
Stichwörter: Tesla

The Atlantic (USA), 01.12.2020

Nicht gerade ermunternd, was Graeme Wood in einem Beitrag über den Historiker Peter Turchin und seine Studien berichtet. Turchin sucht nach Gesetzmäßigkeiten, die den Aufstieg und den Fall von Gesellschaften ankündigen: "Eine seiner unangenehmsten Folgerungen lautet, dass komplexe Gesellschaften sich durch Kriege entwickeln. Der Krieg belohnt Gemeinschaften, die sich organisieren, um zu kämpfen und zu überleben, und er neigt dazu jene auszulöschen, die klein und einfach sind. 'Niemand möchte gern zugeben, dass wir in reichen Gesellschaften mit Universitäten und Museen leben, weil es so etwas hässliches wie den Krieg gibt', so Turchin. Aber die Daten sprechen eine klare Sprache: Darwin'sche Prozesse wählen komplexe Gesellschaften aus, weil sie simplere auslöschen. Die Idee, dass Demokratie stark ist durch ihre Güte und moralische Überlegenheit, ist toll. Stattdessen aber gedeihen demokratische Gesellschaften, weil sie ein Gedächtnis haben dafür, von einem externen Feind fast ausgelöscht worden zu sein. Nur durch kollektives Handel war ein Überleben möglich, und die Erinnerung an dieses Handeln macht demokratische Politik in der Gegenwart praktikabel. Turchin: 'Es besteht eine enge Verbindung zwischen der Annahme demokratischer Institutionen und der Notwendigkeit, einen Krieg ums Überleben zu führen.' Nicht weniger unangenehm: Die Folgerung, dass ziviler Ungehorsam schon bald über uns kommen und das Land zerschlagen könnte. 2012 veröffentliche Turchin eine datenbasierte Analyse politischer Gewalt in den USA. Er klassifizierte 1590 Vorkommnisse aus der Zeit von 1780-2010, Unruhen, Lynchmorde, politische Ereignisse, bei denen mindestens eine Person getötet wurde. Einige Perioden waren friedlich, andere blutig, mit Höhepunkten der Gewalt 1870, 1920, 1970, ein 50-Jahreszyklus. Turchin klammert den Bürgerkrieg aus. Das mag seltsam erscheinen, aber Sonderfälle herauszurechnen, ist für Statistiker normal. Historiker und Journalisten dagegen streichen solche Ereignisse heraus, weil sie besonders interessant sind, und übersehen so manchmal größere Trends."
Archiv: The Atlantic

Merkur (Deutschland), 01.12.2020

Vom theoretisch ehrenwerten Volk wird seit Beginn der Aufklärung der Pöbel unterschieden, der sich - derb und gewaltsam - den Ansprüchen der Vernunft widersetzt.  Einst sprach daraus reiner Standesdünkel, hält der Gemanist Roman Widder in einer kurzen Begriffsgeschichte fest, aber auch heute funktionieren die damit verbundenen Ausschlussmechanismen: "Wenn heute wieder vom Pöbel oder seinem Pöbeln die Rede ist, dann ist dieser Missachtungsformel eine längere Geschichte eingespeist, die sie mit Bedeutung und Intensität füllt. Mit ihr wird ein elementarer Kampf um die Teilhabe an der Möglichkeit des sprachlichen Ausdrucks und Austauschs sichtbar, der auch heute noch von beiden Seiten geführt wird, auch von der Seite prekär lebender Akademiker, die ihr intellektuelles Kapital zum eigenen Vorteil ausspielen müssen. Was mit dem Pöbel ans Tageslicht kommt, ist auch die Verarmung der Kommunen, ein Kampf um kommunale Autonomie und damit die Depotenzierung von Gemeinsinn und öffentlicher Daseinsvorsorge in einer sich globalisierenden Welt - ein Prozess, der in den städtischen Unruhen der Reformation seinen Anfang genommen hat. Und auch die Transformation der Arbeitsgesellschaft mag erklären, weshalb der Pöbel heute aktueller ist als das Proletariat. Setzte sich in der Frühen Neuzeit aus arbeitslos gewordenen Handwerkern und Bauern eine unbeherrschbare Menge an Paupern zusammen, aus der dann das moderne Industrieproletariat rekrutiert wurde, so kennt auch die Gegenwart wieder eine große Menge an 'Überflüssigen', die nicht oder in 'bullshit jobs' (David Graeber) nur zum Schein arbeiten."

Christian Wiebe verteidigt das Debütalbum des Produzententeams KitschKrieg gegen eindeutige Lesarten, gegen den Glauben an Authentiztät und gegen die Verächter von Barock, Erotik und ausgestelltem Luxus.
Archiv: Merkur

Guernica (USA), 23.11.2020

In einem Beitrag des Magazins erinnert Leah Hampton am Beispiel der Appalachen daran, dass das ländliche Amerika nie nur männlich war, wie die Mythologie behauptet: "Meine Oma zum Beispiel, wuchs als drittes von vier Kindern im östlichen Kentucky auf. Ihre Jugend spielte sich in engen Täler und Hütten mit Lehmboden ab, mit all den schlimmsten Vorstellungen von dieser Region. Oma war musikalisch, arm, komisch und bockig von Geburt. Meine Cousins lachen immer noch über sie: Verrückte Mabel, böse Mabel, Mabel, die seltsames Essen kochte, die sich Lieder ausdachte, sowohl vertraut als auch fremd. Ein Leben in der Hölle, und sie sang darüber … Zwei Jahrhunderte wurde uns beigebracht, die Männer dieser Gegen in den Vordergrund zu spielen, und das hat uns beschädigt, in unserer inneren Identität und darin, wie der Rest der Welt uns sieht … Stell dir die Appalachen vor oder irgendeine ländliche Gegend. Siehst du Frauen in dem Bild, Frauen am Klavier, die Jazz spielen? Überhaupt Frauen? Oder eher Holzfäller mit Äxten, Fiedler mit Geigen? … Wenn deine Vorstellung deutlich ins Männliche ausschlägt, dann bis du in bester Gesellschaft eines systematischen Denkens, das bis zu den Anfängen der Nation reicht. Im 19. Jahrhundert verfasste Davy Crockett aus Tennessee seinen 'Almanach', einen prominenten Text, der das ländliche Leben charakterisieren sollte. Er enthielt Geschichten unterschiedlicher Autoren über Schlangenzähmung, Faustkämpfe und das Navigieren nach Sternen. Die Storys lehrten die Männer der Appalachen, ihre eigene Toxizität zu verherrlichen, und andere Männer lernten sie dafür zu bewundern. Die Tradition ging weiter, ohne dass sie große verändert wurde."
Archiv: Guernica
Stichwörter: Appalachen, Geiger, Tennessee

Elet es Irodalom (Ungarn), 27.11.2020

In Élet és Irodalom beschreibt der Ästhet und Kommunikationswissenschaftler Péter György die kritische Situation des jüngeren ungarischen Kulturerbes, die von einem "Vertrauensverlust in die ungarischen Institutionen zur Aufrechterhaltung und Erneuerung der nationalen Kultur geprägt ist, dessen Bedeutung wir begreifen, wenn wir sehen, wie es dazu kommen konnte, dass zahlreiche wichtige Handschriften von Imre Kertész seit 2002 Eigentum der Berliner Akademie der Künste sind und im Jahre 2020 die Hinterlassenschaften von Péter Esterházy und György Konrád ebenfalls dorthin gelangt sind. ... Ihre Hinterlassenschaften sind in Berlin gut aufgehoben, sie sind in Sicherheit, wir vertrauen zu Recht der deutschen Akademie der Künste. Aber trotzdem sind sie nicht zu Hause - sie sind, wenn auch freiwillig, im Exil. Und das ist ein wesentlich größeres Problem, wie wir im ersten Moment denken würden. Es gibt in Ungarn, im Literaturmuseum, im Staatsarchiv oder in der Handschriftensammlung der Ungarischen Akademie der Wissenschaften keinerlei Spuren der Vermächtnisse von Esterházy, Kertész und Konrád und nach heutigem Stand ist das irreparabel."

Persuasion (USA), 29.11.2020

Persuasion ist ein Magazin oder eher ein Newsletter, der von Yascha Mounk gegründet wurde, um eine liberale Gegenposition zu den dominierenden Social-Justice-Theorien zu ermöglichen (mehr hier). Der Musiker und Aktivist John Wood Jr. legt einen sehr lesenswerten Essay über das gewaltlose Erbe Martin Luther Kings vor, das im Zeichen von "Black Lives Matter" und der Social-Justice-Bewegung heute in Vergessenheit gerate: "Trotz des Kults um Kings Andenken sind seine Grundsätze aus dem Mainstream des amerikanischen Diskurses verschwunden." King war es aber, so Wood, der Veränderung brachte: gewaltfrei und universalistisch musste er schon argumentieren, weil er ein Bündnis brauchte, um Mehrheiten zu erreichen. Nur so sei der Aufstieg der schwarzen amerikanischen Mittelklasse möglich geworden: "Die Breite dieser Unterstützung stand im Gegensatz zu den aggressiveren Bewegungen, die mit seinem Ansatz konkurrierten. Und doch sind es diese Bewegungen, aus denen sich der heutige Social-Justice-Aktivismus herleitet. Das schrille Echo von 'Black Power' klingt im heutigen Aktivismus laut nach. Malcolm X und Stokely Carmichael werden als die Rollenmodelle im heutigen Kampf um die Freiheit der Schwarzen hochgehalten. Angela Davis bleibt eine Schutzpatronin der heutigen Social-Justice-Arbeit." Seinen Widerspruch artikuliert Wood mit einem Satz des Publizisten Thomas Chatterton-Williams: "Ich kann nicht nachvollziehen, wie ein so scharfer Fokus auf Differenzen sie jemals überwinden soll."
Archiv: Persuasion

El Pais (Spanien), 15.11.2020

Wylie as Wylie can - der berühmt berüchtigte in New York und London ansässige Literaturagent Andrew Wylie macht seinem Spitzenamen "der Schakal" einmal mehr alle Ehre: Der in Valencia beheimatete spanische Verlag Editorial Pre-Textos, seit mehr als vierzig Jahren eine der vornehmsten und kultiviertesten Adressen für die Publikation von Lyrik in der spanischsprachigen Welt, hat, über viele Jahre hin, Übersetzungen von sieben der elf Gedichtbände der frischgebackenen Nobelpreisträgerin Louise Glück veröffentlicht und damit wohl mehr als jeder andere Verlag außerhalb des angelsächsischen Sprachraums. Nun bekam Pre-Textos Post von der Agentur Wylie: die Übersetzungsrechte für Werke Louise Glücks werden ihm nicht verlängert; gleichzeitig bietet die Agentur sie hinter dem Rücken seiner bisherigen Verleger anderen spanischsprachigen Verlagen zur Veröffentlichung an - Kulturkapitalismus der deprimierendsten Art. El País hat mit einem Artikel auf den Vorgang aufmerksam gemacht, zugleich kursiert im Netz ein offener Brief an die Autorin - von der offenbar bislang keine eigene Stellungnahme zu erhalten war - und ihren Agenten. Die Verleger aus Valencia haben zu ihrer Freude inzwischen Solidaritätsbekundungen vieler ihrer spanischen Kollegen erhalten, denen Wylie die Rechte am Werk Louise Glücks angeboten hatte, die sie jedoch unter diesen Umständen ablehnten. Spannend wird zu verfolgen sein, ob sich dennoch ein spanischsprachiger Verlag finden wird, der sich auf den unschönen Deal einlässt.
Archiv: El Pais

MicroMega (Italien), 24.11.2020

Marco Cesario interviewt Gérard Biard, Chefredakteur von Charlie Hebdo, zum Charlie-Hebdo-Prozess, dem Mord an Samuel Paty und der Notwendigkeit des Kampfes gegen religiösen Fanatismus - der in Wahrheit kein religiöser sei: "Wir haben es mit einem strikt politischen Problem zu tun, mit einer politischen Ideologie, die in ihrem Kern totalitär ist. Das französische Gesetz über die Trennung von Staat und Kirche von 1905 ist der Endpunkt eines langen Kampfes, der in der Aufklärung begonnen wurde, um der Macht der katholischen Kirche ein Ende zu setzen. Und ich muss Italienern nicht erklären, wieviel Unheil diese Macht anrichten kann… In gewisser Hinsicht befinden wir uns heute in der selben Situation: Wie sind vom Islamismus, der in bestimmten Bevölkerungsteilen 'Martkanteile gewinnen' will, einem politischen Angriff ausgesetzt. Es ist Zeit und lebenswichtig daran zu erinnern, dass Religionen - alle Religionen - politische Ambitionen haben. Der Vatikan ist, nebenbei bemerkt, ein Staat. Und der Islam übt sein politisches Regime über einen großen Teil der Welt aus. Wir sollten präsent halten, dass eine Theokratie keine Demokratie ist."
Archiv: MicroMega

London Review of Books (UK), 03.12.2020

Ja, die Medien haben sich auf Jeremy Corbyn eingeschossen und der rechte Flügel der Labour Party hat gegen ihn intrigiert, wo und wie er nur konnte, hält James Butler fest, der jedoch erleichtert feststellt, dass in den ersten Bilanzen zu Corbyns Ägide - "This Land" von Owen Jones und "Left Out" von Gabriel Pogrund und Patrick Maguire - der selbstkritische Blick überwiegt. Butler selbst kreidet Corbyn unter anderem Eitelkeit, Führungsschwäche, Planlosigkeit und einen miserablen Pressesprecher an, vor allem aber sein Versagen in der Antisemitismuskrise: "Sie lässt sich nicht wegdiskutieren, und die Aussage des Gründers von Momentum, Jon Lansman, dass er sich 'als Jude benutzt' fühlte, um die Partei zu verteidigen, aber danach ohne Unterstützung dastand, sollte eine Quelle der Schande sein. Pogrund und Maguire berichten von den wiederholten Versuchen, in der Frühphase der Krise die Katastrophe abzuwenden. Nicht jeder Vorschlag war plausibel - es ist schwer vorstellbar, dass Corbyn Jerusalem besucht oder den Besuch einer Schule voller unberechenbarer Teenager riskiert - aber das Versäumnis, auch nur auf einen der Vorschläge einzugehen, ist unentschuldbar. Jones schildert den jämmerlichen Beginn von Shami Chakrabartis erster Untersuchung des Antisemitismus in der Labour Partei im Jahr 2016, als Corbyn laut seinen Kritikern den Eindruck erweckte, Israel und den islamischen Staat gleichzusetzen, und damit einen Streit verursachte, der Chakrabartis Ergebnisse überschattete (die schließlich ins Abseits gedrängt wurden). Die verpasste Gelegenheit, eine Rede im Jüdischen Museum zu halten, und das Versäumnis, auf pro-Corbyn-jüdische Intellektuelle einzugehen, die sich als Ghostwriter oder Berater anboten, waren bestenfalls fahrlässig. Die Streichung jeglicher Entschuldigung aus Corbyns ursprünglicher Erklärung, mit der er seinen zustimmenden Facebook-Kommentar zu einem Wandbild mit einer antisemitischen Karikatur erklären wollte, war, mit den Worten von Corbyns Beraterin Laura Murray, 'verdammt dumm' und 'unsensibel'."

Weiteres: David Runciman bespricht zwei politische Biografien über Henry Kissinger. Andrew O'Hagan liest Don DeLillos Roman "Die Stille" als Ermunterung zu weniger kommunkation.