Magazinrundschau

Ich vermisse die Zukunft

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
02.03.2021. Der New Yorker fragt: Was wird aus der Frauenbewegung in Afghanistan, wenn die Taliban übernehmen? In Elet es Irodalom schreibt Laszlo F. Földenyi einen Abschiedsbrief an die Universität für Theater- und Filmkünste in Budapest. Der Guardian porträtiert eine echte Superheldin: Frida Guerrera, die in Mexiko verschwundene Frauen aufspürt. Pitchfork hört futuristischen Pop aus dem Japan der 80er, als der Kapitalismus noch als positive Utopie erschien. Die New York Times erzählt, was die ultraorthodoxen Juden in Israel durch Corona lernten.

New Yorker (USA), 08.03.2021

In einem Artikel der aktuellen Ausgabe fragt sich Dexter Filkins, was aus Afghanistan wird, wenn die US-Truppen abziehen. Die Verhandlungen mit den Taliban gestalten sich schwierig: "Die Unterhändler der afghanischen Regierung müssen Zugeständnisse machen oder die Gespräche werden scheitern und die westlichen Länder werden die Bevölkerung allein lassen. 'Ich werde mit Zähnen und Klauen für die Rechte kämpfen, die wir uns erobert haben, aber es besteht das Risiko, diese Rechte wieder einzubüßen', sagt Fatima Gailani, Delegierte der Regierung und Frauenrechtlerin. Ein Ort, um dieses Risiko besser einzuschätzen, ist das Center für die Entwicklung der Kompetenzen von Frauen in Kabul. Es gibt Näh- und Cateringkurse in Zusammenarbeit mit einem Restaurant. Das Center bietet auch Frauen und Kindern Schutz, die vor den Gefahren einer Gesellschaft fliehen, in der in vielen Teilen weiterhin uralte Gesetze herrschen. Fast jeden Tag kommt eine Frau, die vor einer Zwangsheirat geflohen ist oder sich scheiden ließ und von ihrer Familie verstoßen wurde … Würde dieser Schutzraum ein Taliban-Regime überleben?" Was Frauen blüht, die sich emanzipieren, konnte man zuletzt im Januar sehen, als zwei Richterinnen in Kabul auf dem Weg zur Arbeit erschossen wurden.

Für einen anderen Beitrag besucht Ian Urbina die Einwohner von Bolong Fenyo, einem Küstenort in Gambia, wo die globale Fischfarm-Industrie große Umwälzungen in Gang setzt - auf Kosten der Einheimischen: "Die am schnellsten wachsende Lebensmittelsparte ist die Aquakultur, sie ist 160 Milliarden Dollar schwer und verantwortlich für ca. die Hälfte des weltweite Fischkonsums. Während der Pandemie ging der Verkauf in Restaurants und Hotels zwar zurück, doch dafür aßen die Leute zu Hause mehr Fisch. Die USA importieren 80 Prozent ihrer Meeresfrüchte, hauptsächlich aus Aquakulturen, vor allem aus China … Einerseits profitiert die Umwelt davon. Richtig ausgeführt verbraucht Aquakultur weniger Frischwasser und Ackerland und produziert weniger Kohlenstoff als herkömmliche Landwirtschaft. Aber es gibt versteckte Kosten. Wenn Millionen Fische zusammengepfercht leben, produzieren sie eine Menge Abfall. Die Folge ist eine dicke Schleimschicht auf dem Meeresboden, die Pflanzen und andere Tiere erstickt. Der Stickstoff- und Phosphorgehalt nimmt zu und führt zu Algenwachstum und dem Absterben einheimischer Wildfische. Außerdem werden Touristen abgeschreckt."
Archiv: New Yorker

Elet es Irodalom (Ungarn), 26.02.2021

Der Kunsthistoriker und Literaturwissenschaftler László F. Földényi leitete bis Ende Februar den Lehrstuhl für Kunsttheorie an der Universität für Theater- und Filmkünste (SZFE). Mit Ende Februar kündigte er seine Stelle mit weiteren 25 Hochschullehrern aufgrund der vor sechs Monaten von der Regierung verordneten Umwandlung der SZFE in eine regierungsnahe Stiftungsuniversität (mehr dazu hier). Földényi nimmt nun auf den Seiten von Élet és Irodalom Abschied von der SZFE. "Die Zerschlagung der SZFE und das Einverleiben der Ruinen ist ein trauriges Kapitel in der ungarischen Theatergeschichte. Doch ist es lediglich ein Baustein in einem System, das auch in anderen Bereichen systematisch zerstört. Sei es den Denkmalschutz, die Landwirtschaft, Umweltschutz, den Plattensee, das Bau- oder das Gesundheitswesen, das Netzwerk der öffentlichen Kulturinstitutionen, die Selbstverwaltungen, das Vereinswesen, den sozialen Schutz, die CEU, das Bildungswesen, die Kirchenförderung - die Reihe kann beliebig fortgesetzt werden. Überall passiert, was an der SZFE geschah. Nach der Logik: 'Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns' hält die gegenwärtige Regierung Zerstörung für Aufbau. Und schlägt erbarmungslos dort zu, wo es noch eine Lücke aufspürt. Es gibt keinen Kompromiss, keine Verhandlungsbereitschaft, keine Flexibilität. Es gibt nur alles oder nichts."

Guardian (UK), 25.02.2021

73.000 Menschen gelten in Mexiko als vermisst, viele davon mutmaßlich entführte oder ermordete Frauen. Mexiko ist für Frauen einer der gefährlichsten Orte der Welt außerhalb von Kriegszonen. Meaghan Beatley porträtiert vor diesem Hintergrund die Journalistin Frida Guerrera, die nach allem, was man liest, fast schon als Superheldin durchgehen muss: Sie recherchiert zu den verschwundenen Frauen, hat Mörder überführt, Fälle aufgedeckt und Frauen zurückgebracht. "Guerrera macht diese Arbeit zum Teil auch, weil die Polizei regelmäßig daran scheitert. 'Sie sind unfähig', erzählt sie mir. Die Journalistin Lydiette Carrión, die mehr als sechs Jahre lang dazu recherchierte, wie der Staat von Mexiko Untersuchungen von Morden an Frauen handhabt, hat herausgefunden, dass Fälle oft wie Bälle von einem Ermittler zum nächsten gespielt werden, dass Müttern mitunter die Knochen von Opfern gezeigt werden, mit der Frage, ob sie ihre Tochter identifizieren könnten. Der Anstieg der Gewalt nach dem Beginn des Drogenkriegs vor 15 Jahren hat die mexikanische Polizei überrollt - und die meisten Gewaltverbrechen bleiben unaufgeklärt. Diese Inkompetenz der Polizei wird durch Korruption noch komplizierter: Bundesstaatliche Mittel, die eigentlich für die Ausbildung und Bezahlung fähiger lokaler Polizeikräfte gedacht sind, versickern in den Behörden. Auch spielt Frauenfeindlichkeit eine große Rolle: Viele Polizeibeamte nehmen erst einmal an, dass junge Frauen einfach mit ihren Freunden abgehauen sind, und weigern sich, vor Ablauf einer Frist von 72 Stunden einen Fall aufzunehmen - und das, obwohl ein Protokoll klar besagt, dass mit einer Suche sofort begonnen werden sollte."
Archiv: Guardian

Artalk (Tschechien / Slowakei), 24.02.2021

Die tschechische Kunsthistorikerin Milena Bartlová stellt die Frage, warum die Künstler in ihrem Land so wenig auf das Corona-Sterben reagieren, und geht in einem Essay der Darstellung von Epidemien in der Bildenden Kunst nach - auch wenn Vergleiche von Covid mit etwa dem Schwarzen Tod im Mittelalter derzeit als geschmacklos übertrieben abgetan würden nach dem Motto: "Wir sind schließlich eine moderne Gesellschaft und keine Dummköpfe, die nicht einmal wussten, dass sich die Pest bakteriell über Rattenflöhe verbreitete. Stellen Sie sich vor, damals dachten sie sogar ganz naiv, man könne sich über das Einatmen 'verdorbener' Luft anstecken!" Im Gegensatz zu zahlreichen barocken Siechtumsdarstellungen in der Malerei oder den vielen Pestsäulen auf städtischen Plätzen sei in der Tschechoslowakei schon die Spanische Grippe erstaunlich wenig in Kunst oder Denkmälern zum Ausdruck gekommen, wohl auch, weil die Euphorie der Staatsgründung 1918 davon abgelenkt habe: "Auf den Denkmälern 'Gefallen im Weltkrieg', die bei uns noch in den kleinsten Dörfern zu finden sind, lesen wir nicht, wie viele der Opfer durch eine ansteckende Krankheit, daunter die Spanische Grippe umkamen (…) Einer Krankheit zu erliegen ist nicht heldenhaft, weniger noch, als das Opfer einer Atombombe, eines Atomkraftwerks oder des Angriffs vom 11. September zu werden. Es ist nur banal, traurig und ein bisschen peinlich." Die fehlende künstlerische Reaktion habe aber vor allem damit zu tun, dass die tschechische Gesellschaft "kein gemeinsames Narrativ" habe: "Wenn wir mit anderen mitteleuropäischen Ländern vergleichen, sehen wir, dass das politisch sicherer ist, denn für autoritäre politische Kräfte ist es leicht, sich so eines Narrativs zu bedienen und es auszunutzen, sei es das ungarische Trauma der kleinen Nation oder der polnische katholische Patriotismus."
Archiv: Artalk

Pitchfork (USA), 24.02.2021

Eine Regel des Youtube-Algorithmus besagt offenbar: Wer nur lange genug in den Tiefen des Musikarchivs, das der Videodienst längst darstellt, gräbt, landet per Empfehlung irgendwann automatisch im heute so benannten City Pop, der Hochglanz-Popmusik, wie sie im prosperierenden Japan der 80er gespielt wurde. Längst hat sich im Westen darum eine ganze Subkultur gebildet, berichtet Cat Zhang. Manche Stücke, die seinerzeit in Japan gerade mal fünfstellig absetzten und heute vergessen wären, haben mittlerweile Zugriffszahlen im beträchtlichen Millionenbereich - etwa "Plastic Love" von Mariya Takeuchi, dessen unglaublichen Youtube-Erfolg dieses Video zu erklären versucht. "Auf Youtube schwelgen die Hörer in ihren Erinnerungen an Japan: 'Ich erinnere mich an die Zeit, als ich mit offenem Fenster durch die Nacht von Tokio fuhr. An den Gebäuden leuchtete Neon, alle hatten eine gute Zeit. Die 80er waren großartig', schreibt ein Kommentator unter dem populären Mix 'warm nights in tokyo [ city pop/ シティポップ]', bevor die Illusion sich verflüchtigt: 'Moment Mal, ich bin 18 Jahre alt und lebe in Amerika.' ... Als ich mit dem Musikwissenschaftler Ken McLeod sprach, erklärte er, dass viele internetbasierte Genres eine Art 'retro-futuristischer Melancholie' hegen, aber auch eine Obsession mit dem 'sich beschleunigenden Kollaps des Kapitalismus, wie ihn der Kollaps des japanischen Traums darstellt'. Die Boomzeit Japans, mit ihren Neon-Metropolen und schier unendlichen Konsumfreiheiten, verkörpert das verlorene Versprechen der kapitalistischen Utopie, die in der Rezession der 90er zerschmettert wurde. Beim Genuss dieser Musik können die Hörer diesen schönen, naiven Optimismus, der diese Zeit scheinbar definierte, zugleich auskosten und betrauern. ... Wie es ein Kommentator unter einem Youtube City Pop ausdrückte und darin viel Zustimmung fand: 'Ich vermisse die Zukunft.'" Und wenn man sich das Vorschaubild dieses Mixes ansieht: Wer nicht?

Archiv: Pitchfork

Merkur (Deutschland), 01.03.2021

Claus Leggewie wirft anhand einiger Neuerscheinungen (vor allem Raphaëlle Branches Studie "Papa, qu'as-tu fait en Algérie? Enquête sur un silence familial") und älterer Bücher noch einmal einen Blick auf das Trauma des Algerienkriegs und erweist sich als ein profunder Kenner der Materie (tatsächlich hat er schon 1984 ein Buch über die deutschen Helfer der "Kofferträger" des FLN veröffentlicht). Auch für die "Pieds noirs", also die am Ende des Kriegs in die Metropole geflüchteten Algerienfranzosen (die übrigens oft spanischer oder italienischer Herkunft waren) findet er gerechte Worte: "Die rund 800.000 Pieds-noirs, die Algerien in einer wahren Massenflucht verließen, wurden als 'rapatriés' registriert, obwohl die große Mehrheit nicht aus Frankreich stammte oder seit Generationen in Nordafrika gelebt hatte. Frankreich bot ihnen weder Heimat noch Vaterland und kümmerte sich wenig um die materiellen und emotionalen Verluste der Pieds-noirs. Eher fungierten sie, darin den deutschen Heimatvertriebenen ähnlich, summarisch als Sündenböcke."
Archiv: Merkur

Wired (USA), 25.02.2021

Sextapes - also Aufnahmen von Stars und Promis in einschlägigen Situationen - sind die schmierige Schattenseite des Glitz'n'Glam von Hollywood. Dass es drumherum ein ganzes Wirtschaftssystem gibt, in dessen Netz ein gewisser Kevin Blatt sitzt, der damit seit geraumer Zeit gut verdient, wusste hierzulande vielleicht noch nicht jeder. Blatt ist jedoch überzeugt, durchaus ethisch in dem unmoralischen Geschäft zu handeln, entnehmen wir Amanda Chicago Lewis' Reportage: Weil er einen Großteil der ihm zugespielten Aufnahmen - natürlich nach großzügigen "Honoraren" - gar nicht erst in die Öffentlichkeit geraten lässt. Auch ansonsten ist Blatt von sich und seiner Arbeit sehr überzeugt: "In den Monaten, als die MeToo-Bewegung an Fahrt aufnahm, stiegen seine Geschäfte ums Fünffache, nachdem mehr und mehr Frauen sich dazu entschlossen, einflussreiche Männer an ihre Übergriffe in der Vergangenheit zu erinnern. Doch als die Berichte über Hollywoods Belästigungs- und Missbrauchsprobleme sich erhärteten, dämmerte es Blatt, dass seine Kompetenzen - Schweigegeld und rechtlich verbindliche Übereinkünfte - selbst Aufmerksamkeit auf sich zogen. Experten hinterfragten die zugrunde liegende Ethik dahinter, Frauen Geld dafür zu bezahlen, dass sie über ihre Erfahrungen Stillschweigen bewahren. Irgendwie war es Blatt stets gelungen, sich selbst für einen guten Typen zu halten, indem er all diese berühmten Leute vor Peinlichkeiten bewahrte. Jetzt aber fragte er sich: War er vielleicht tatsächlich der Böse?"
Archiv: Wired
Stichwörter: Hollywood, Sextapes, Metoo, #metoo, Chicago

HVG (Ungarn), 02.03.2021

Der Serienproduzenten Gábor Krigler erzählt im Interview von der Serienidee "Balaton-Brigade", eine Stasi-Agentengeschichte am Plattensee in den 1980er-Jahren, bei der Ildikó Enyedi Regie führen soll. Die Idee (mehr dazu bei Variety) wird in dieser Woche auf der diesjährigen Berlinale vorgestellt. "Als wir uns überlegten, wer für die Balaton-Brigade als Regisseur in Frage kommen könnte, dachten wir zunächst, dass wir dafür bestimmt einen deutschen Regisseur brauchen. Dann haben wir erkannt, dass dies kein Kriterium ist. Warum sollten wir diese Aufgabe aus unserer Hand geben? So haben wir Ildikó Enyedi aufgesucht, die diese Zeit durchlebt und eine deutsche Bindung hat, denn sie ist mit einem Deutschen (Wilhelm Droste) verheiratet und verbringt viel Zeit in Deutschland. (...) Tatsächlich ist das internationale Publikum unsere Zielgruppe, obwohl es zu 70 Prozent eine deutsche Geschichte ist. Von den vier Hauptsträngen hat einer einen ungarischen Helden. Sehr wichtig war mir aber, dass wir uns in den Kopf des Stasi-Agenten hineinversetzen konnten, der grundsätzlich der Böse in einer Agentengeschichte wäre, doch wir gehen der Geschichte aus seiner Perspektive nach, wie er gedacht und Kompromisse geschlossen habt."
Archiv: HVG

New York Times (USA), 25.02.2021

Ronen Bergman schildert die ultraorthodoxen Juden in seiner faszinierenden Reportage über Israel und Corona als ein paradoxes Inbild jenes kühnen und permanenten Muddling through, das Israels Existenz immer neu gewährleistet: Sie glauben fest, dass Israel, ja die Welt, untergeht, wenn der letzte Thoraschüler aufhört, die Schriften zu studieren. Entsprechend abgeneigt waren sie, die Lockdown-Maßnahmen der Regierung zu akzeptieren. Am Ende und nach vielen Infektionen ließen sich aber viele von ihnen doch darauf ein, andere wieder nicht. Bergman zieht das vorsichtig optimistische Fazit, dass sich Säkulare und Orthodoxe in der Krise ein wenig angenähert haben, während sich allerdings auch die radikalsten Sekten neue Chancen ausrechnen. Auf jeden Fall versteht man, warum Israel so schnell impft - aus Angst vor einer Implosion der ganzen Gesellschaft. Ein Zitat des Politologen und Spezialisten für die ultraorthodoxe Kultur Haim Zicherman beschreibt die Lage am präzisesten: Die Ultraorthodoxen widersetzten sich dem säkularen Staat, zumindest momentweise, aber "dieser Ungehorsam, sagt Zicherman, brachte das 'Inselmodell' zum Einsturz, das über Jahrzehnte die Verhältnisse zwischen den säkularen und ultraorthodoxen Communities bestimmte und das darin bestand, 'dass die Säkularen in bestimmten Gebieten und die Haredim in anderen Gebieten lebten und sich die beiden nicht vermischen. So dass da keine Reibung ist. Dass die ultraorthodoxe Stadt Bnei Brak am Sabbat geschlossen werden kann und in Tel Aviv ein Gay Pride-Parade abgehalten wird, und alles ist ok. Nun ist klar geworden, dass es in Israel keine Inseln gibt und alle in einem Strang verbunden sind und sie sich gegenseitig beeinflussen wie unterschiedliche Decks auf einem Schiff.'"

Besprochen wird Kazuo Ishiguros Roman "Klara and the Sun" (den auch der Guardian rezensiert).
Archiv: New York Times