Magazinrundschau

Wie eine Waffe

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
26.04.2022. Der New Yorker erzählt in einer epischen Reportage, wie kommerzielle Spionagesoftware mit dem Einverständnis auch westlicher Regierungen gegen die eigenen Bürger eingesetzt wird. Osteuropa erklärt, warum die Zerstörung Mariupols schon mit der Annexion der Krim begann. In Eurozine fordert der belarussische Lyriker und Philosoph Ihar Babkou den Westen auf, endlich die postkolonialen Theorien der Osteuropäer zu Russland zur Kenntnis zu nehmen. Himal würdigt die Filmgeschichte Sri Lankas im Allgemeinen und die Filme von Sumitra Peries im Besonderen. Die London Review berichtet vom Lockdown in Shanghai.

New Yorker (USA), 26.04.2022

Kommerzielle Spionagesoftware ist ein riesiger, um die 12 Milliarden Dollar schwerer Markt. Für die Produkte, etwa der israelischen NSO Group, interessieren sich vor allem Regierungen. Ausspioniert werden neben Verbrechern und Terroristen katalanische Separatisten, saudische Frauenrechtsaktivistinnen, rumänische Staatsanwälte für Korruptionsbekämpfung, amerikanische ITler und ganz normale Apple-, Facebook- oder Googlenutzer. Die amerikanischen Techgiganten haben jetzt begonnen, sich mit Klagen dagegen zu wehren. Die Regierungen auch westlicher Staaten sind über die Spionage immer nur dann empört, wenn es sie selbst trifft. In der Regel genehmigen sie den Einsatz im eigenen Land jedoch. Und das ist die Krux, lernt man aus einer umfangreichen Reportage von Ronan Farrow. "'Fast alle Regierungen in Europa nutzen unsere Tools', sagte mir Shalev Hulio, Geschäftsführer von NSO. Ein ehemaliger hochrangiger israelischer Geheimdienstmitarbeiter fügte hinzu: 'NSO hat ein Monopol in Europa.' Deutsche, polnische und ungarische Behörden haben zugegeben, dass sie Pegasus nutzen. Auch die belgischen Strafverfolgungsbehörden verwenden es, obwohl sie es nicht zugeben wollen. (Ein Sprecher der belgischen föderalen Polizei sagte, dass sie 'den rechtlichen Rahmen für den Einsatz eingreifender Methoden im Privatleben' respektiert). Ein hochrangiger europäischer Strafverfolgungsbeamter, dessen Behörde Pegasus nutzt, sagte, dass es einen Einblick in kriminelle Organisationen gebe: 'Wann wollen sie das Gas lagern, wann wollen sie den Sprengstoff anbringen?' Er sagte, dass seine Behörde Pegasus nur als letztes Mittel und mit gerichtlicher Genehmigung einsetzt, räumte aber ein: 'Es ist wie eine Waffe. . . . Es kann immer passieren, dass eine Person sie falsch einsetzt.' Die Vereinigten Staaten sind sowohl Nutzer als auch Opfer dieser Technologie. Obwohl die National Security Agency und die C.I.A. über eigene Überwachungstechnologie verfügen, haben andere Regierungsstellen, einschließlich des Militärs und des Justizministeriums, nach Angaben von Personen, die an diesen Transaktionen beteiligt waren, Spionagesoftware von privaten Unternehmen gekauft." Als WhatsApp mit NSO-Tools gehackt wurde, beschloss Facebook die Sache selbst zu untersuchen und "die Strafverfolgungsbehörden nicht sofort zu benachrichtigen, da es befürchtete, dass die US-Beamten die Hacker informieren könnten. (Ihre Bedenken waren berechtigt: Wie die Times berichtet, empfing das FBI Wochen später NSO-Ingenieure in einer Einrichtung in New Jersey, wo die Behörde die gekaufte Pegasus-Software testete)."

Weiteres: Matthew Hutson denkt über erneuerbare Speicher für erneuerbare Energie nach. Kelefa Sanneh porträtiert den Rapper Fivio. Rebecca Mead berichtet über ökologischen Städtebau in Skandinavien. Lauren Michele Jackson liest die Tagebücher Alice Walkers. Keith Gessen bespricht einen neuen Roman des ukrainischen Autors Andrej Kurkow. Amanda Petrusich hört die neue CD von Arcade Fire. Und Anthony Lane sah im Kino Roger Michells "The Duke".
Archiv: New Yorker

Osteuropa (Deutschland), 26.04.2022

Findet in Mariupol ein Völkermord statt? Die Zerstörung der Stadt hat nicht erst mit der Bombardierung der Stadt begonnen, betont der Jurist Otto Luchterhandt, der die Geschichte der Stadt sehr genau konstruiert. Seit der Annexion der Krim und der Besetzung des Donbass arbeite Russland zusammen mit den von ihn aufgestachelten Separatistentruppen daran, die Stadt unter ihre Kontrolle zu bringen: "Seit 2014/2015 ist Mariupol infolge der die Region Schlag auf Schlag treffenden schweren Völkerrechtsverletzungen Russlands nur noch ein Schatten seiner einstigen Größe. Bewirkt haben das die Annexion der Krim, der die Meerenge von Kertsch strangulierende Bau der Autobahnbrücke über den Kertsch-Jenikale-Kanal und die Russland dadurch erleichterte Usurpation des Asowschen Meeres (2018), der von Russland gegen die Ukraine verdeckt geführte Krieg und die Installierung von separatistischen Marionettenregimen im östlichen Donbass. Nun hat Russland durch seinen Krieg gegen die Ukraine Mariupol weitgehend zerstört und die Stadt praktisch unbewohnbar gemacht. Ihre Wirtschaftsbetriebe sind zerstört oder stillgelegt. Die Metallbranche der Ukraine ist dadurch um ein Drittel geschrumpft.  Alle diese Verluste werden aber durch die schweren und schwersten Völkerrechtsverbrechen in den Schatten gestellt, deren Opfer die Bürgerinnen und Bürger Mariupols geworden sind. Die Ausradierung der Stadt rückt Mariupol, wie der am 16. März aus ihr entflohene griechische Konsul Androulakis unter der Wucht des Erlebten erschüttert festgestellt hat, in eine Reihe mit 'Guernica, Coventry, Aleppo, Groznyj und Leningrad'."
Archiv: Osteuropa

Eurozine (Österreich), 26.04.2022

Seit 1990 arbeiten belarusische Intellektuelle an einer kritischen Dekonstruktion des russischen Imperialismus, schreibt der Lyriker und Philosoph Ihar Babkou in einem von Eurozine übernommenen Artikel bei Dekoder. Dabei rekurrieren sie auch auf postkoloniale Theorien, denn eigentlich gründe die ideologische Doktrin der "russischen Welt" auf einem postkolonialen Verhältnis Russlands zu den osteuropäischen Nachbarstaaten. Babkou fordert, diese Stimmen auch in Westeuropa endlich wahrzunehmen: "Die heutige 'Russische Welt' umfasst Praktiken des brutalen und aggressiven Neoimperialismus, die vor allem gegen die direkten Nachbarstaaten gerichtet sind. Sie trägt aber auch eine allgemeine 'geopolitische' Vision von der ganzen Welt in sich. Die Vorstellung von einer Zukunft der Menschheit, in der starke Herrscher effektiv und straffrei Ressourcen und Territorien unter sich aufteilen. Die wichtigste konzeptionelle Emotion, die der 'Russischen Welt' zugrunde liegt, ist die postkoloniale Haltung eines Beleidigten, die an die Oberfläche tritt als ein 'Warum mag man Russland nicht', 'Warum werden Russlands Interessen nicht berücksichtigt' und 'Warum haben sie Russland vergessen'. Daher sind die Kriege an der Peripherie und die Destabilisierungsversuche der globalen Ordnung nur als Instrumente von Bedeutung, um Russlands Eintritt in die schöne neue Welt zu ebnen, in der es auch 'Rechte haben' wird. Recht auf Krieg. Auf Lügen. Auf Mord und Inhaftierung kritischer Stimmen. Auf zynisches Ignorieren der öffentlichen Meinung. Auf eine Welt, in der mit Russland 'gerechnet werden' muss."
Archiv: Eurozine

Elet es Irodalom (Ungarn), 22.04.2022

Im Interview mit Nikolett Antal spricht der Schriftsteller Ákos Kormányos u.a. über die Darstellung körperlicher Versehrtheit in der Literatur. Kormányos erhielt für seinen Gedichtband "Töredezettségmentesítés" (Defragmentierung) ein Literaturstipendium von zwei unabhängigen Literaturorganisationen für 2021/22. Der Dichter thematisiert in diesem Band seine eigene körperliche Behinderung. Außerhalb der literarischen Welt arbeitet er als Psychologe auf der Onkologiestation des Klinikums der Universität Szeged. "Ich wollte nicht 'alles ist immer gut' schreiben. In der Psychologie mag ich es auch nicht, wenn jemand sagt, dass in allem immer etwas Gutes steckt und das muss um jeden Preis erkannt und gesehen werden. Es nervt mich auch total, wenn ich höre, dass man auch als Behinderter ein volles Leben leben kann. Ich lebe ein rundes Leben, voller von Freude und Glücksmomente, doch ich denke auch, dass ein volles Leben etwas Anderes ist. Dazu kommt noch, dass ich als Psychologe in der Onkologie arbeite. Dort ist es wichtig, auch über Traurigkeit und Schmerz zu sprechen. ... Es ging um die Frage: wie man dieses Thema zur Belletristik formen kann. Dafür war die Distanz gut, denn ich dachte, dass wenn ich Distanz wahren kann, wenn ich mechanisch anatomische Abläufe schildern kann, was wiederum Empathie weckt, dann funktioniert das Thema, über das ich wirklich sprechen will. Ich wollte nicht schreiben, dass es mir weh tut, denn der Leser muss dieses Gefühl selbst entwickeln." (Hintergrund:  )

New York Times (USA), 23.04.2022

Mit Interesse könnten einige Thalia- und Hugendubel-Manager Elizabeth A. Harris' Artikel über Barnes & Noble lesen. Die größte amerikanische Buchhandelskette schaffte unter dem neuen Manager James Daunt die Rekonversion vom Bösen in der Branche zu einem Akteur, den sogar unabhängige Verlage und Buchhändler schätzen. Denn Barnes & Noble ist in der amerikanischen Provinz meist der einzige, der überhaupt noch an die Existenz physischer Bücher erinnert. Und gleichzeitig heißt der Hauptfeind heute natürlich Amazon. Daunt renovierte die Kette vor allem, indem er sie dezentralisierte und lokalen Managern weit mehr Einkaufs- und Präsentationsbefugnisse gab. "Barnes & Noble hat auch aufgehört, von Verlegern Gebühren für die Platzierung bestimmter Bücher an gut sichtbaren Stellen wie am Eingang oder im Schaufenster zu verlangen. Das war wie Geld für nichts, sagt Daunt, aber es verursachte eine Kaskade von Problemen: Bücher, die niemand kaufen wollte, wurden an prominenter Stelle präsentiert, und große Bestellungen, die sich nicht verkauften, mussten zurückgeschickt werden. (Eine Besonderheit im Buchgeschäft ist, dass unverkaufte Bücher gegen volle Gutschrift an die Verlage zurückgegeben werden können, eine Praxis, die noch aus der Zeit der Depression stammt. Die Versand- und Bearbeitungskosten können erheblich sein.) Jetzt können die Filialleiter selbst entscheiden, welche Bücher sie bewerben wollen."
Archiv: New York Times
Stichwörter: Buchhandel, Barnes And Noble

Himal (Nepal), 19.04.2022

Uditha Devapriya wirft einen Blick in die Filmgeschichte Sri Lankas und hier ganz besonders auf die Filme von Sumitra Peries, eine der ersten Filmemacherinnen des Landes, die zudem noch eine genuin eigene Stimme entwickelte: Die bestimmenden Themen ihres Werks sind "die Unschuld der Kindheit, die Last der Frauen in patriarchalen Gesellschaften, der Abgrund zwischen Reich und Arm und die Qualen jugendlicher Liebe. Ihre Filme ließen das Formelhafte und den fantastischen Rausch der Lied-und-Tanz-Feste des südasiatischen Blockbusters hinter sich und bekamen sodie Nuancen des Landlebens in Sri Lanka zu fassen, ohne in ihrer Kritik des männlichen Chauvinismus und des Patriarchats einzubüßen. Indem sie die Handlungsmacht von Frauen in den Vordergrund rückte, erweiterte Sumitra meisterlich die Geschichte der Frauen, die im Zentrum ihrer Filme liegt, um die Abhängigkeit von Männern zu untersuchen, aber auch wie Männer Frauen ausbeuten und manipulieren. ... Ihre Filme stießen auf viel Lob. Dennoch hat sie auch verletzende Kritik erfahren müssen. Einige Kritiker bezeichneten ihre Filme als 'weibisch' und warfen ihr vor, nicht ausreichend 'feministisch' zu sein, da ihre Frauenfiguren sich ihren Notlagen beugen." Doch "alles in allem zieht sie es einfach vor, sich an die Prinzipien des Kinos der realistischen Ära zu orientieren: 'Ich möchte Frauen so darstellen wie sie sind, statt so, wie sie sein sollten.'" Einen kleinen Eindruck ihres Schaffens vermittelt dieser Trailer:

Archiv: Himal

Aktualne (Tschechien), 18.04.2022

Ende April erscheint in Tschechien der neue Roman "Bílá voda (Weißwasser)" der Schriftstellerin Kateřina Tučková, der sich wieder einem interessanten historischen Kapitel widmet: Bíla voda ist ein Kloster in einem kleinen Dorf an der polnischen Grenze, in dem die Kommunisten Anfang der Fünfzigerjahre Hunderte von Ordensschwestern internierten. Im Gespräch mit Tomáš Maca berichtet die Autorin von ihren Recherchen: "Von solchen Internierungsklostern gab es in der totalitären Tschechoslowakei mehrere; insgesamt über siebentausend tschechischer und viertausend slowakischer Nonnen waren in ihnen untergebracht. Die meisten befanden sich in den Sudetengebieten, die nach dem Krieg verwaist waren, sodass man die Nonnen dort fernab von den Blicken der Menschen wegsperren konnte." Das Dorf Weißwasser habe wegen der damaligen Undurchlässigkeit der Grenzen buchstäblich am Ende der Welt gelegen, es führte nur ein einziger Weg dorthin, und es gab nur das Kloster, eine psychiatrische Anstalt und wenige bewohnte Häuser. "Wenn die Nonnen das Dorf verlassen wollten, mussten sie eine Erlaubnis einholen. Der Passierschein wurde ihnen von den Zuständigen meist nur für einen halben Tag ausgestellt, was bei der Ablegenheit des Ortes für sie nicht viel Sinn hatte." Im Rahmen der Schauprozesse endeten einige der landesweiten Klostervorsteherinnen dann als politische Gefangene. "Neben der Beseitigung der ältesten Ordensschwestern hat mich aber vor allem die Art erschüttert, wie die Kommunisten mit den jüngsten Nonnen umgingen (…) Es wurden Männer dafür bezahlt, sie zu verführen und zu schwängern, sodass sie nicht mehr in ihre Orden zurückkehren konnten. Im besten Fall sollten sie sie verliebt machen, aber natürlich ist auch von Vergewaltigungen die Rede." Und noch ein weiteres interessantes Kapitel hat Tučková in ihrem Roman verarbeitet: "In der Untergrundkirche Koinótés, die Bischof Felix Davídek in Opposition zur offiziellen Struktur der tschechoslowakischen katholischen Kirche gegründet hatte, wurden nach den vorhandenen Quellen sechs Frauen zu Priesterinnen geweiht." Es sei eine Möglichkeit für die internierten Nonnen gewesen, ihren Glauben weiter zu praktizieren, nachdem die Kommunisten ihnen die männlichen Priester entzogen hatten. Namentlich bekannt sei jedoch nur Ludmila Javorová, weil die andern Priesterinnen anonym bleiben wollten.
Archiv: Aktualne

Tablet (USA), 13.04.2022

Die Figur des "Public Intellectual", der sich mit gemäßigt linken Positionen an ein gebildetes, aber breites Publikum wandte, ist in Amerika verschwunden, fürchtet Michael Lind. An seine Stelle sind Uni-Institute und NGOs getreten, die von Stiftungen großzügig finanziert werden. Sie normen die Diskurse. Ein Beispiel: "In den 1990er Jahren konnte noch als ein untadeliger Progessiver gelten, wann man sich gegen Fördermaßnahmen aussprach, die auf 'Rasse' beruhten und statt dessen für neutrale, universelle Sozialprogramme plädierte, die Afroamerikanern zwar überproportional, aber nicht ausschließlich helfen würden. Um das Jahr 2000 verkündeten jedoch mehrere fortschrittliche Medien gleichzeitig, dass 'die Debatte über 'Affirmative Action' beendet ist'. Heute werden neutrale Reformen, wie sie der demokratische Sozialist und schwarze Bürgerrechtsführer Bayard Rustin und der Marxist Adolph Reed vertraten, links der Mitte als 'farbenblinder Rassismus' stigmatisiert, und Progressive müssen im Namen der 'Equity' eklatante und wohl auch illegale Diskriminierungen gegen weiße Amerikaner und 'weiß-nahe' Asiaten unterstützen, aus Angst, als Ketzer abgestempelt zu werden."
Archiv: Tablet
Stichwörter: Rassismus, Affirmative Action

London Review of Books (UK), 21.04.2022

Der Lockdown für ganz Shanghai hat die Stadt, die sich so gern als Musterbeispiel des neuen Chinas präsentiert, zutiefst beschämt, erzählt Mimi Jiang, die auch zu berichten weiß, dass der Omikron-Ausbruch in einem Quarantäne-Hotel für Reisende aus Hongkong seinen Anfang nahm, dessen veraltete Klimaanlage die Viren verbreitete: "Als Wissenschaftler Alarm schlugen, war es bereits zu spät für die dynamische Null-Covid-Strategie. Seitdem herrscht Chaos. Die Führung war sich über das weitere Vorgehen uneinig. Die Mehrheit der Ärzte neigte zu einem sanften Ansatz: Die Sterblichkeit bei Omikron ist gering und die meisten Menschen erholen sich innerhalb weniger Tage, so dass Schnelltests und Zuhausebleiben ausgereicht hätten. Einige Beamte waren ebenfalls dieser Meinung, da Chinas Finanz- und Handelszentrum zu wichtig sei, als dass es hätte geschlossen werden können. Leider schloss sich sonst niemand dieser Meinung an. Als auch in den Nachbarprovinzen positive Fälle auftraten, reagierten die lokalen Behörden verärgert und stellten Belohnungen in Aussicht, wenn jemand Besucher aus Shanghai meldete. Dann - heißt es - beschwerten sie sich in Peking über das verantwortungslose Verhalten der Shanghaier. Peking schickte ein Inspektionsteam, dem nicht gefiel, was es sah. Im Netz wurde gewitzelt, dass Shanghai versuchte, still liegen zu bleiben, während seine Bruderprovinzen versuchten, ihm aufzuhelfen: Das Ergebnis waren Sit-ups ohne Ende."

Stefan Collini liest zum hundertsten Bestehen der BBC zwei neue Bücher: einen etwas schwärmerischen Insider-Report von David Hendy sowie eine kritische-nüchterne Geschichte von Simon Potter. Und auch wenn beide ein wenig darüber hinwegtäuschen, dass die BBC als riesiger halb-kommerzialisierter hybrider Behemoth längst nicht mehr die nationale Institution ist, die sie während des Zweiten Weltkriegs oder des Kalten Krieges war, referiert er freudig die Geschichte der Feindschaft zwischen der BBC und Downing Street: "Wer schon immer glaubte, die BBC würde sich am Ende den Wünschen der jeweiligen Regierung beugen, führt oft den Generalstreik von 1926 an. Der amtlichen Position gegen den Streik wurde viel Sendezeit gegeben, der Position der Streikenden nicht. Als der BBC-Direktor John Reith in der Downing Street bei Stanley Baldwin eruierte, ob sie einen Aufruf des Erzbischofs von Canterbury senden könnten, der beide Seiten aufforderte, in kameradschaftlichem Geist die Feindseligkeiten zu beenden, wurde ihm mild-drohend beschieden: 'Dem Premier wäre lieber, wenn Sie es nicht täten.'... Die Labour-Regierungen der sechziger und siebziger Jahre waren der BBC ebenso feindlich gesinnt, Tony Benn verglich sie mit der 'katholischen Kirche des Mittelalters, darauf bedacht, aus der Position des Mittelschicht-Establishment die Gedanken zu kontrollieren'. Harold Wilson, der einen Hang zum Misstrauen hatte, glaubte, die BBC würde gegen ihn konspirieren, und schlug Mitte der siebziger Jahre vor, die Gebühren abzuschaffen, um den Sender direkt unter Regierungskontrolle zu bringen. Vorhersehbar war, dass Margaret Thatcher die British Bastard Corporation hasste, wie ihr Mann sie gern nannte. Der Falklandkrieg wurde zum unvermeidlichen Reizthema, als Thatcher dagegen wütete, dass Reporter stets von den britischen Streitkräften sprachen, nicht von 'unseren Truppen'."