Magazinrundschau

Gute und schöne Häuser

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
05.07.2022. Die New York Times beobachtet das Verschwinden der gemäßigten Demokraten. Die LRB blickt auf die trostlose Lage der afghanischen Bevölkerung. Deník Referendum verteidigt russische Filme auf dem Filmfestival von Karlovy Vary. INews bewundert die Opferbereitschaft regierungskritischer Russen. In Magyar Narancs weigert sich Anna T. Szabo, ihre Vergangenheit zu bereinigen. Der Guardian erkundet die intellektuellen Kampftechniken von Janet Malcolm und Joan Didion.

New York Times (USA), 29.06.2022

Jason Zengerle fragt sich in einem epischen Artikel (eine Stunde Lesezeit), warum es nicht mehr "gemäßigte" Demokraten gibt, obwohl die Wähler dankbar für solche Kandidaten wären - aber unter den Funktionären und bestimmenden Parteimitgliedern dominieren die Linken. Im Artikel zeigt sich, wie komplex die politischen Prozesse in der Partei sind, und wie sehr die Partei aufs Prozedurale fixiert ist. Beim "Gerrymandering" also dem Zuschneiden von Wahlkreisen, ist man inzwischen übrigens genauso skrupellos wie die Republikaner. Zengerle erzählt auch nochmal die Geschichte des Meinungsforschers David Shor, der aus einem parteinahen Thinktank rausgeschmissen wurde, weil er die Daten des schwarzen Politologen Omar Wasow wiedergegeben hatte. Dieser hatte herausgefunden, dass die demokratische Partei nach "Black Riots" regelmäßig Stimmen verlor. "Jetzt kann er seine Meinung frei äußern. Shor gründete das Datenanalyseunternehmen Blue Rose Research mit und begann, mehr zu twittern und Interviews zu geben, in denen er seine Theorie erläuterte. 'Ich denke, das Kernproblem der Demokratischen Partei ist, dass die Leute, die die Demokratische Partei leiten und als Funktionäre arbeiten, viel gebildeter und ideologisch liberaler sind und häufiger in Städten leben, und das spiegelt sich letztendlich in unserem Kandidatenpool wider', sagte er im Oktober letzten Jahres im Times-Podcast von Ezra Klein. 'Wenn man sich innerhalb der Gesamtmitgliedschaft der Demokratischen Partei umschaut, gibt es dreimal so viele gemäßigte oder konservative Nicht-Weiße wie linke Weiße, aber linke Weiße sind unendlich viel stärker vertreten. Das ist nicht nur moralisch problematisch, es führt auch zu einem Mitgliederschwund."
Archiv: New York Times
Stichwörter: Mitgliederschwund, Thinktanks

London Review of Books (UK), 07.07.2022

In einem ellenlangen Report berichtet Zain Samir von der miserablen Lage in Afghanistan, wo sich nach dem Abzug der westlichen Streitkräfte und der Machtübernahme der Taliban religiöser Dogmatismus, Korruption, Armut und Opiumhandel zu einer allumfassenden Trostlosigkeit verbinden: "In Kandahar sitzen Frauen in verblichenen Burkas am Straßenrand und springen auf, wenn sie einen Pickup mit Taliban an sich vorbeifahren sehen. Die Frauen rennen den Lastwagen hinterher, in der Hoffnung, dass sie Nahrungsmittelhilfe verteilen. Auch die Männer stehen Schlange, um Taliban-Hilfsgüter zu erhalten. Die meisten von ihnen sind ehemalige Farmpächter, die durch Dürre und Krieg von ihrem Land vertrieben wurden. Im Hauptkrankenhaus von Kandahar sagte mir ein Arzt, dass sich die Zahl der Kinder, die an akuter Unterernährung leiden, im letzten Jahr mehr als verdoppelt hat. 'Wir päppeln sie auf, es geht ihnen etwas besser, ihre Mütter bringen sie zurück in ihre Dörfer und ein paar Wochen später sind sie wieder da.' Die Mütter bekämen zwar Lebensmittelpakete für ihre Kinder, aber das reiche nie aus, weil sie keine andere Wahl hätten, als die Rationen auf alle ihre Kinder, ob krank oder gesund, aufzuteilen. In jedem Krankenhausbett liegen drei, manchmal vier Kinder, winzige Skelette mit freiliegenden Rippen und aufgeblähten Mägen. Es gibt kaum einen Größenunterschied zwischen fünfjährigen Kindern aus dem Panjwayi-Distrikt außerhalb von Kandahar und zweijährigen Kindern aus Helmand. Die Zahlen sind furchtbar: Unicef schätzt, dass zwei Millionen afghanische Kinder wegen akuter Unterernährung behandelt werden müssen. In einem Land, in dem 97 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, ist dies eine Krise, die nicht leicht zu lösen sein wird."
Stichwörter: Afghanistan, Taliban

INews (Großbritannien), 29.06.2022

Die wenigen Russen, die es wagen, sich noch gegen den Krieg auszusprechen, brauchen eine Opferbereitschaft, die an Selbstaufgabe grenzt. Rob Hastings porträtiert in Inews, einer Tageszeitung, die einst als Ableger des Independent gegründet wurde, ausführlich Alexej Nawalnys Anwalt Sergej Davidis, der auch für Memorial arbeitet und heute im litauischen Exil lebt. Unter anderem erzählt Hastings, die Geschichte eines Freundes von Davidis: "Alexej Gorinow, Mitglied des Bezirksrats von Krasnoselski in Moskau, wurde verhaftet, nachdem er sich während einer Sitzung im April gegen den Einmarsch in die Ukraine ausgesprochen hatte. Zusammen mit seiner Ratskollegin Elena Kotenochkina wird ihm ein kriminelles Komplott und Gefährdung der Öffentlichkeit durch 'Untergrabung der Autorität und Diskreditierung der amtierenden Regierung und der russischen Streitkräfte' vorgeworfen. 'Der Rat hatte über einen Malwettbewerb für Kinder diskutiert', erklärt Davidis. 'Gorinow hatte nur gesagt, dass er es für unmöglich halte, während des Krieges Unterhaltungsveranstaltungen zu organisieren, wenn in der Ukraine viele Menschen, darunter auch Kinder, getötet werden. Das wurde als Verbrechen betrachtet, und ihm drohen zehn Jahre Gefängnis.' Während seiner Anhörung in der vergangenen Woche stand Gorinow hinter Glas und ließ sich fotografieren. In der Hand hielt er ein selbstgeschreibenes Schild, auf dem auf Russisch stand: 'Ich bin gegen den Krieg.'"
Archiv: INews

Merkur (Deutschland), 01.07.2022

Die deutsche Russlandpolitik ist gescheitert, das steht für den Politikwissenschaftler Ulrich K. Preuß fest, aber heißt das auch, dass sie von vornherein ein Fehler war? Und gar im Sinne Talleyrands schlimmer als ein Verbrechen? Preuß verteidigt Frank-Walter Steinmeiers Politik der Annäherung durch Verflechtung als absolut legitim und vom Grundgesetz sogar geboten gegen die Vorwürfe des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk, gegen bellizistische Medien und gegen die "normativ hochgerüsteten Grünen": "Die Idee, ein Ende des Krieges oder zumindest einen stabilen Waffenstillstand mit mehr oder noch effizienteren Kriegswaffen erzwingen zu wollen, führt in eine im Wesentlichen von Trümmern gesäumte Sackgasse. Dass ausgerechnet die Grünen diesen fantasielosesten aller Wege zum Frieden verfolgen, ist fast schon tragisch zu nennen. Wer unter ihnen hat das Beispiel des 4. August 1914 vor Augen, jenes Tages, an dem die Reichstagsfraktion der SPD aus patriotischem Pflichtgefühl den Kriegskrediten für die kaiserliche Regierung zustimmte und damit die Schleusen für einen 'gerechten Krieg' mit verheerenden Folgen öffnete?"

Weiteres: Der Philosoph Gunnar Hindrichs denkt über das Zivile und das Kriegerische bei Habermas und Arendt nach.
Archiv: Merkur

Deník Referendum (Tschechien), 01.07.2022

Ähnlich wie in Cannes gibt es derzeit auch bei dem Filmfestival in Karlovy Vary Diskussionen über einen russischen Filmbeitrag. Der ukrainische Botschafter in Tschechien, Jewhen Perebyjnis, protestierte in einem offenen Brief gegen die Teilnahme des (auch schon in Venedig gezeigten) Films "Kapitän Wolgokonow flieht" (mehr hier). Der Film sei Beispiel eines bekannten "Tricks der russischen Propaganda", die manchmal die Entstehung eines angeblich unabhängigen Films unterstütze, der für den Vertrieb im Ausland bestimmt, in der russischen Heimat aber überhaupt nicht zu sehen sei. Außerdem hätten die Regisseure zuvor schon propagandistische Filme gedreht. Die tschechische Festivalleitung hat die Einladung des Films jedoch verteidigt: Er sei eine indirekte Kritik am heutigen Regime und rege außerdem zur Diskussion an. Der Journalist Filip Outrata hält das in seinem Kommentar für die einzige richtige Antwort: "Kultur und Kunst können ebenso wie die Sprache zu Geiseln der politischen Macht werden, sie können auf vielfältige Weise missbraucht werden. Aber sie sind nicht wehrlos, sie können sich auf ihre eigene Art der Macht entgegenstellen. Der Streit um die russische Kultur und die Versuche, sie zu boykottieren, sind ein Anlass, tiefer über die dunkle Kehrseite menschlicher Kreativität, ihre oftmals enge Verbindung zur Macht, aber auch ihr kritisches und befreiendes Potenzial nachzudenken, und dadurch die Kraft der Kultur noch umfassender für den Dialog zwischen Menschen, Nationen und Traditionen zu schätzen und zu nutzen."

Netzpolitik (Deutschland), 02.07.2022

Die Versäulung des Internets schreitet voran. Die Medienkonzerne, die einst Google und in geringerem Maße Facebook für ihre Omnipräsenz und Dominanz de Werbemarkts scharf kritisierten, sind längst lukrative Verträge eingegangen, über die sie schweigen, Springer mit Facebook, Murdoch mit Google. Durch verschiedene hochbezahlte Angebote an die ehemaligen Platzhirsche der Medienlandschaft hat Google die Unternehmen an den Tropf der Gefügigkeit gebunden. Alexander Fanta schildert bei Netzpolitik ausführlich den Weg, den Google dabei in den letzten zwanzig Jahren zurückgelegt hat. Zu den lächerlichsten Kaschierungen der Medien-Subventionen durch Google zählt das Google News Showcase: "Google verspricht die Auszahlung von einer Milliarde Dollar über drei Jahre hinweg an mehr als tausend Nachrichtenmedien in einem Dutzend Ländern, von Brasilien bis Australien. Im Gegenzug liefern die Medien Inhalte für eine Funktion namens News Showcase. Showcase besteht aus ein paar läppischen Nachrichtenpanels, die in den Eingeweiden der Google News-App versteckt sind. Doch sein Hauptziel erreicht das Produkt: dass die Medienhäuser für die Erlaubnis, ein paar händisch kuratierte Nachrichten in Googles App zu zeigen, monatliche Geldzahlungen erhalten. Von netzpolitik.org eingesehene Verträge zeigen, dass Google versucht hat, mit Showcase mögliche Klagen zur Durchsetzung von Urheberrechtsansprüchen abzuwenden."
Archiv: Netzpolitik

Magyar Narancs (Ungarn), 05.07.2022

Die Dichterin Anna T. Szabó veröffentlichte vor kurzem Band mit gesammelten und neuen Gedichten, was sie zu einer nicht ganz einfachen Revision ihres bisherigen Werkes zwang, wie sie im Interview erklärt: "Ohne Scham alles zu zeigen, ist eine wichtige Erfahrung. Dass der Mensch es nicht nötig hat, den Weg, den er ging, zu verfälschen. Ich habe mich mit Dichtern beschäftigt, die ständig ihre Werke umschrieben. Das ist natürlich auch eine Möglichkeit, doch ich schulde der jungen Dichterin, die ich war, soviel, dass ich meine Vergangenheit nicht umschreiben will. Ich habe nichts bereut und ich schäme mich nicht, denn es ist das schlechteste, was einem Dichter, insbesondere einem weiblichen Dichter (sic!) passieren kann, dass er sich schämt. Man muss freilich reflektieren. Übrigens bin ich auch meinen Vorfahren dankbar, ich bin kein Vatermörder-Typ. Es prägt mich stark, woher ich stamme und das akzeptiere ich."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Szabo, Anna T.

Elet es Irodalom (Ungarn), 05.07.2022

Der Architekt Péter Sugár, der auch an der Technischen Universität Budapest lehrt, erklärt in einem Gespräch mit seiner Kollegin Zsófi Dankó, warum ihm ästhetische Aspekte beim Bauen nicht reichen: "In Architektenkreisen herrscht die Überzeugung, dass die Lösung für alles darin besteht, gute und schöne Häuser zu entwerfen. So fragen wir jedoch nicht nach den Problemen. Wenn jemand gute und schöne Häuser entwerfen will, kann man das an der Uni und später im Beruf lernen. Ich aber sage den Studenten stes, dass ihre große Leistung eventuell nicht darin liegen wird, ein schönes oder gutes Haus zu bauen, sondern vielleicht darin, dass sie verhindern, dass etwas gebaut oder abgerissen wird. Uns umgibt zurzeit eine ganz andere Realität und man muss mit gutem Beispiel vorangehen, man muss authentisch bleiben. Dass wir innerhalb der Architektur eine soziale Haltung vertreten ist notwendig und authentisch. Es ist zu wenig, schöne und gute Häuser zu entwerfen, denn es entspricht schlicht und einfach nicht der Realität, die uns umgibt … Soziale Interesse und Sensibilität sind keineswegs selbstverständlich in Zeiten, in denen vor allem die Interessen der Mittelschicht bedient werden."
Stichwörter: Mittelschicht

Guardian (UK), 03.07.2022

Dass Janet Malcolm und Joan Didion ihre Gesprächspartner wie japanische Geisha bezirzten, hatte nichts mit Charme zu tun, stellt Peter Conrad klar, es war die bevorzugte Kampftechnik dieser beiden Starjournalistinnen, die nun, nach ihrem Tod, in die ruhmreiche Reihe "The Last Interview" aufgenommen wurden: "Janet Malcom verdiente sich ihren Platz aufgrund der Kämpfe, die zu führen sie gewählt hatte. In einem Fall, der die Gerichte zehn Jahre lang beschäftigt hielt, war sie gleich zweimal von einem Psychoanalytiker wegen Rufschädigung verklagt worden, den sie in ihrem Buch über die Freud-Archive 'einen intellektuellen Gigolo' nannte. Am Ende freigesprochen, bedauerte Malcolm nichts: 'Die Freiheit, grausam zu sein', glaubte sie, gehört zu den unangetasteten Privilegien des Journalismus'. Als sie einem Interviewer ihre Wohnung beschrieb, wies sie anerkennend auf die Risse im Sofa, das ihre Katze 'böse zerkratzt' hatte. Joan Didion suchte nie die Auseinandersetzung wie Malcolm, sie verdankte ihren Ruhm auch ihren modischen Accessoires. Während sie in Malibu lebte und in Hollywood als Drehbuchautorin arbeitete, kreuzte sie am Pacific den Küsten-Highway in einer kanariengelben Corvette; später, mit achtzig Jahren, als sie hinter ihrer eulenhaften Sonnenbrille geradezu schmerzlich verwundbar aussah, ließ sie sich zum Gesicht der französischen Modemarke Celine machen. Didions Interviewer erwähnen die Blässe und Zerbrechlichkeit, doch sie bemerken auch alle die krallenhafte Stärke ihrer Hände und die Intensität ihrer blauen Augen. Diese kleine, schrumpfende Frau trotzte jeder Gefahr während ihrer Einsätze als Kriegsreporterin in El Salvador, und im 'Jahr des Magischen Denkens', das sioe nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes schrieb, enthüllte sie die sentimentale Selbsttäuschung hinter der Trauer. Mit derselben natürlichen Toughness, widersetzt sie sich Interviewern, die ihr berufliche Geheimnisse entlocken wollen: 'Ich weiß nicht', antwortet sie schulterzuckend auf Fragen nach existenziellen Sprüngen in ihren Romanen, um dann etwas offener hinzuzufügen: 'Das ist nichts, was ich zu genau untersuchen möchten.'"
Archiv: Guardian