Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
07.12.2004. Das New York Times Magazine beobachtet Gerard Mortier beim Drei-Wege-Schach. Im Espresso rühmt Oliver Sacks das Gehirn der Alten. In Le Point erzählt Simon Leys, wie ihn die Liebe zu China zum Anti-Maoisten machte. In Folio erklärt uns Peter Brugger, warum auch geduldiges Kratzen hinterm Ohr zu Regen führt. Die New York Review of Books stellt die Firma vor, die acht mal mehr Umsatz macht als Microsoft. In der Gazeta Wyborcza ärgert sich Marcin Bosacki über ignorante Westler, die den Freiheitsdrang der Ukrainer am liebsten ignorieren würden. Im New Yorker schildert Woody Allen den Auftritt von Mickey Mouse beim Prozess Eisner vs. Disney.

New York Times (USA), 05.12.2004

Fernanda Eberstadt hastet für das New York Times Magazine einige Tage hinter Gerard Mortier (mehr) her, nach der Station bei der Ruhr Triennale nun Direktor der Bastille, der Nationaloper in Paris. Eberstadt beschreibt Mortier als visionär, modern und kontrollbesessen. Als ein Beispiel erzählt sie von einem kleinen Scharmützel Mortiers mit seiner künstlerischen Assistentin Hedwig Dewitte, die fragt, ob Esa-Pekka Salonen auch eine seiner eigenen Kompositionen spielen darf, falls er danach fragen sollte. "Mortier, der mittlerweile per Telefon die Neujahrsfeier organisierte und Zugfahrpläne nach Brüssel studierte, wirkte fassungslos. "Darf? Ich - will - das - unbedingt." Dewitte schnitt eine Grimasse in meine Richtung und äffte die diktatorische Art Mortiers nach, als sie bemerkte, dass ihr Chef sie durch einen Spiegel auf dem Kaminsims beobachtete. "Ich spiele Drei-Wege-Schach", warnte Mortier."

Weitere Artikel: Cathryn Jakobson Ramin erzählt von ihrem Selbstversuch mit Adderall (mehr), ein Medikament, das alternden Amerikanern hilft, ein Gedächtnis wie ein Zwanzigjähriger zu haben. Matt Bai unterhält sich mit dem altgedienten demokratischen Abgeordneten Richard Gephardt, der sich einen iPod zulegen und die präsidentiellen Wahlmänner abschaffen will. Und Hiroshi Sugimoto hat seltsam schöne Objekte fotografiert, mit denen deutschen Studenten um die Jahrhundertwende Trigonometrie nahegebracht wurde.

In der New York Times Book Review kündigt Sarah Glazer die Wiedergeburt der E-Books an: Die Verkäufe sind 2003 um 71 Prozent gestiegen, weil mittlerweile fast jeder ein Handy mit großem Bildschirm hat, der den neuesten Dan Brown komfortabel anzeigen kann. Außerdem steige die Akzeptanz für kostenpflichtige Inhalte im Netz, und am allerwichtigsten: Die Frauen scheinen die neue Form des Lesens akzeptiert zu haben - zumindest in den USA.

"Ich kenne den französischen Antiamerikanismus sehr gut, weil ich ihn tausend Mal bekämpft habe", schreibt Bernard-Henri Levy. Nun musste er erkennen, dass es auch amerikanische Frankophobie gibt. Offenbart hat ihm dies "Our Oldest Enemy: A History of America"s Disastrous Relationship With France" von John J. Miller und Mark Molesky. "Das ganze Buch ist eine verrückte Anklage (deren einziges Äquivalent die faschistische französische Literatur der Dreißiger ist) gegen eine diabolische Nation, die Verkörperung des Bösen, dem Körper und der Seele seiner Bewohner das Stigmata eines kranken Willens aufdrückend, der durch die Jahrhunderte nur das eine Ziel hatte: Die Erniedrigung von America the great." (Hier eine Leseprobe aus dem Buch.)

Dabei haben die Amerikaner Frankreich einmal geliebt - einige tun es sogar heute noch: Wenn Charles A. Riley II. nicht gerade die Fakten durcheinander bringt, schafft es seine Geschichte des "Jazz Age in France" durchaus, die Eleganz und den Esprit der 20er Jahre, der Fitzgeralds und Murphys, wieder aufleben zu lassen, lobt Nicholas Fox Weber.

Weiteres: Neil Gaiman ist hingerissen von einer Ausgabe mit Märchen der Brüder Grimm ("grimmer than you thought"), die Maria Tatar zum Teil neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen herausgebracht hat. Vor allem die Ursprungsfassungen haben es ihm angetan: "In der ersten Ausgabe fragt Rapunzel die Zauberin nach den Besuchen des Prinzen, warum ihr Bauch dicker wird." Wie sehr sie den Paten Michael Corleone vermisst hat, merkt Sarah Vowell beim Genuss von Mike Winegardners "feiner, wirbelnder" Fortsetzung der Mafia-Familiensaga "The Godfather Returns". Und Computer-Guru David Gelernter (mehr hier und hier) feiert Charles Nicholls "gescheites wie brillantes" Porträt von Leonardi da Vinci.
Archiv: New York Times

Outlook India (Indien), 13.12.2004

Homecoming! Massenweise kehren im Ausland lebende Inder nach Hause zurück, und das hat nicht nur, entkräftet Sugata Srinivasaraju die nahe liegendste Vermutung, mit dem Zusammenbruch der amerikanischen IT-Branche in den vergangenen Jahren zu tun. Viele entscheiden sich gerade deshalb zur Heimkehr, weil sie es sich leisten können oder weil sie ihre Kinder im Mutterland aufwachsen sehen wollen oder weil Indien ihnen inzwischen weit bessere berufliche Möglichkeiten bietet - und nicht zuletzt, weil die im Ausland erlangte ökonomische Sicherheit ihnen die Möglichkeit bietet, soziale oder künstlerische Herzensprojekte in Angriff zu nehmen. Mit anderen Worten: "Diese NRIs (Non-Residential Indians) kommen nach Indien zurück, weil sie wollen, und nicht so sehr, weil sie müssen."

So auch in "Swades", dem neuen Film des "Lagaan"-Regisseurs Ashutosh Gawuriker, den Namrata Joshi vorstellt: Superstar Shahrukh Khan (mehr) spielt darin einen NASA-Wissenschaftler, der in Indien nach seinem Kindermädchen sucht und in einem Dorf im Norden sein persönliches "vergessenes Indien" wiederfindet. "Überwältigt von den dortigen Problemen, entscheidet er sich, zu bleiben und etwas zu verändern. In einem von Dogmen regierten Dorf überwindet er die Kastentrennung, trägt zur Lösung von Energie- und Wasserproblemen bei und rettet die örtliche Schule vor der drohenden Schließung. Er bringt die Dorfbewohner dazu, eine Bewegung zur dörflichen Selbstverwaltung auf die Beine zu stellen. Ein Willkommen für die New-Age- NRI-NGO: trendy, aber bescheiden, jet-setting, aber verwurzelt!"

Weitere Artikel: Mit der Verhaftung des hochstehenden Hindu-Mönchs Jayendra Saraswati haben die indischen Behörden offensichtlich einen Erdrutsch an weiteren Offenbarungen über Saraswati und einige seiner engen Mitarbeiter ausgelöst - zum Verdacht des Mordes am früheren Manager von Saraswatis Tempels kommen offensichtlich weitere Fälle von Mord, versuchter Mord und Kindesmissbrauch, berichtet S. Anand in der Titelgeschichte. Maria Cuoto kann die Neuauflage von Manohar Malgonkars Coffee-Table-Klassiker "Inside Goa" höchsten wegen der Illustrationen von Mario Miranda empfehlen. Und Shashi Deshpande gratuliert Anita Desai (mehr) dazu, in ihrem neuen Roman "The Zigzag Way" nicht länger am Schauplatz Indien festzuhalten, wie es so viele im Ausland lebende Autoren ewig und drei Tage tun.
Archiv: Outlook India

New York Review of Books (USA), 16.12.2004

Simon Head geht dem Erfolg der Supermarktkette Wal-Mart nach, die, gemessen am Umsatz, inzwischen das größte Unternehmen der Welt ist: "Mit 1,4 Millionen Beschäftigten weltweit ist die Belegschaft von Wal-Mart inzwischen größer als die von GM, Ford, GE und IBM zusammen. Mit 258 Milliarden Dollar macht der Jahresumsatz von Wal-Mart zwei Prozent des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts aus und ist acht Mal so hoch wie der von Microsoft." Die Geheimnisse des Erfolgs: keine Scheu vor unattraktiven Kleinstädten, arme Frauen als Zielgruppe und natürlich die unübertroffene Strategie, Mitarbeiter auszupressen und zu kujonieren: "Zur Disziplinierung der Belegschaft können sich die Wal-Mart-Manager aus einem ganzen Strafkatalog bedienen: Es gibt schriftliche Maßregelungen in Form der Blauen Briefen, mündliche Maßregelungen in Form des Coachings und die Tage der Entscheidung, an denen die Mitarbeiter erklären müssen, warum sie nicht gefeuert werden sollten."

Weitere Artikel: Thomas Powers beschreibt, wie sich die CIA zu einem operativen Arm des Weißen Hauses entwickelt hat, meint aber, sie könne immer noch wichtige Hinweise geben: "Wir können sagen, dass die CIA ähnlich nützlich ist wie der Kanarienvogel in der Kohlemine: Wenn sie Zeichen von Stress zeigt, wissen wir, dass etwas nicht stimmt." Michael Massing gibt die Schuld an George Bushs Wahlsieg den schönfarberischen Irak-Berichten im amerikanischen Fernsehen. Chris Hedges bedauert, dass in den neuen Büchern über den Irak, etwa in Evan Wrights "Generation Kill" oder Jon Lee Andersons "The Fall of Baghdad", nichts darüber steht, wie pathologisch und wie letztendlich verloren dieser Krieg sei.

Einem Streitfall widmet sich die Schriftstellerin Alison Lurie in einem Essay: Jean de Brunhoffs Kinderbuchlegende Babar, dem Elefantenvater, den die einen als gutmütigen Monarchen mit hervorragenden Manieren preisen, und den die anderen als Rassisten und Kolonialisten bei lebendigem Leibe verbrennen möchten.
Stichwörter: IBM, Irak, Microsoft, The Fall

Espresso (Italien), 09.12.2004

Der Neurobiologe und Autor Oliver Sacks erzählt im Titel vom Älterwerden, von Alzheimer und Demenz, aber auch von der Weisheit der Alten. "Wir wissen dass Erkenntnis das ganze Leben lang andauern kann, auch beim Älterwerden oder mit einer Krankheit des Gehirns, und wir können uns sicher sein, dass die ganze Existenz hindurch auch andere Prozesse fortdauern, auf einer noch tieferen Ebene, so dass man am Ende auf dem Gipfel der zahlreichen tiefgehenden Generalisationen und Integrationen steht, die das Gehirn davor vollbracht hat." Soll heißen, mit 90 schreibt man die besten Bücher.

Moses Naim, Chefredakteur der Zeitschrift Foreign Policy, sieht in einem Kommentar schwarz für China, wenn nicht bald wirtschaftliche und finanzielle Kurskorrekturen eingeleitet werden. "Jede Nation, die in den Neunziger in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckte, behauptete - wie die derzeitigen chinesischen Führer - dass die Befindlichkeiten und die Situation des eigenen Landes einzigartig seien. Trotz der Differenzen aber folgen alle Länder, die einen finanziellen Zusammenbruch beklagen, dem gleichen Schema: erst meinen sie, ihre Wirtschaft nicht mit schmerzhaften Regulierungen belasten zu müssen; dann, nachdem sie die Notwendigkeit dieser Korrekturen akzeptiert haben, schieben sie sie so lange hinaus, bis es zu spät ist."

Leider nur im Print: ein Gespräch mit dem Islamforscher Mohammed Arkoun (eine Laudatio hier, sein deutsches Buch hier) über einen Ausweg aus dem Grabenkrieg zwischen Orient und Okzident, ein Interview mit der "donna del belcanto" Daniela Barcellona, die in der Scala singt, ein Bericht über die parteipolitischen Bestrebungen der Muslimbrüderschaft in Ägypten und eine Reportage über den Drogenschmuggel in Neapel.
Archiv: Espresso

Point (Frankreich), 06.12.2004

Der Schriftsteller Simon Leys ist in Frankreich eine legendäre Figur (und in Deutschland leider zu unbekannt). Er beschäftigte sich Ende der sechziger jahre als erster kritisch mit dem Maoismus und der Kulturrevolution ("Les habits neufs du president Mao" - "Maos neue Kleider") und zog damit den Hass seiner Zeitgenossen auf sich. Im Gespräch mit Laurent Theis erklärt er, was er meint, wenn er die Chinesen "das intelligenteste Volk der Welt" nennt. "Diese lapidare Formulierung will nur sagen, dass die Chinesen Menschen sind, die in einem die Lust wecken, bei ihnen in die Schule zu gehen, so viel ist von ihnen zu lernen. Ich finde bei ihnen eine überwältigende menschliche Qualität, zu der sich schon Claudel und Michaux geäußert haben, wenn auch auf ganz verschiedene Art und Weise. Wer auch immer bei Chinesen wohnen durfte, hat dies gefühlt. Somit hatte ich nicht im Traum daran gedacht, dass die Verächter meiner Schriften über die Gräuel des Maoismus mir vorwerfen würden, anti-chinesisch zu sein, wo es doch die Liebe zu China war, die mich zum Anti-Maoisten gemacht hat."

Im Literaturteil stellt Le Point die fünfzehn besten Bücher des Jahres vor (darunter Philip Roths "The Dying Animal", Amelie Nothombs "Biographie de la faim" und Art Spiegelmans "In the Shadow of No Towers"). Und Sarah Weisz meldet mit einiger Sympathie den überraschenden Erfolg von "Kiffe kiffe demain", dem Roman der 19-jährigen Schülerin Faiza Guene über das Leben in der Banlieue.
Archiv: Point

Folio (Schweiz), 06.12.2004

Viel Interessantes enthält das neue Folio zum Thema "Aberglauben". Reto U. Schneider porträtiert den Neurologen Peter Brugger. Der erforscht, warum manche Menschen an Übersinnliches glauben, andere wiederum nicht. Der Zufall spielt eine entscheidende Rolle dabei, meint Brugger, denn dieser wird landläufig unterschätzt. So neigen viele dazu, Zusammenhänge zu entdecken, wo es keine gibt: "Ausdauerndes Tanzen wird früher oder später fast zwangsläufig mit Regen belohnt", so der Neurologe, "obschon geduldiges Kratzen hinter dem Ohr zu vergleichbarem Erfolg führen würde."

Margrit Sprecher betrachtet den selbstverschuldeten Niedergang der Parapsychologie, die in Freiburg eine Art Hochburg hat. Dort sitzt das "Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene", das jüngst eine Untersuchung zum Phänomen Telepathie durchgeführt hat, deren Resultat - es ist "vielleicht" möglich - als Sieg gefeiert und in Sonderdrucken geehrt wird. Außerdem wirkt im Breisgau der parapsychologische Berater Walter von Lucadou, der gerade in Krisenzeiten viel zu tun hat: "Besonders gern plagen die Geister Arbeitslose und Einsame, Sorgen- und Problembeladene. Teenager sind ihnen lieber als Senioren, Frauen ziehen sie Männern vor und Katholiken den Protestanten."

Weitere Artikel: James Hamilton-Paterson, Mitglied der Royal Geographical Society, erklärt, was Wissen dem Glauben voraushat - und was nicht. Andreas Heller widmet sich dem biodynamischen Weinbau. George Szpiro schreibt über das Phänomen der Numerologie. In der Duftkolumne wagt Luca Turin die wahnwitzige Prophezeiung: "Würzige Duftnoten werden bald eine Renaissance erleben und die Welt zurückerobern". Und Andreas Heller singt ein Hohelied auf den Metzgermeister Fritz Schiesser und seine "Churer Beinwurst, dieses archaische Meisterwerk der rätischen Fleischerzunft. Drall wie ein Rugbyball ist die Beinwurst, prall gefüllt mit ausgesuchten Fleischstücken vom Borstenvieh, aber auch mit heute verpönten Köstlichkeiten wie Schwänzchen, Öhrchen und Schnörrli."
Archiv: Folio

Plus - Minus (Polen), 04.12.2004

Obwohl es viele polnische Politiker gerne so sehen möchten, "kann man die Situation in der Ukraine nicht mit der in Polen im August 1980 (Gründung der "Solidarnosc") oder im Juni 1989 (erste freie Wahlen) vergleichen", meint im Magazin der Rzeczpospolita der Mittel- und Osteuropa-Experte Klaus Bachmann. Juschtschenko und Janukowitsch kommen beide aus dem Machtapparat, das Drama (Bachmann interpretiert es als klassisches "Gesellschaftliches Drama") spiele sich daher innerhalb der politischen Elite ab. "Wir haben es hier nicht mit einer Revolution oder einem Umbruch zu tun, sondern lediglich mit einem Machtpoker, der hinter den Kulissen geführt wird, wobei sich beide Antagonisten der sozialen Mobilisierung bedienen. Das kann ein weiterer Schritt in Richtung Demokratisierung der Ukaine sein - muss es aber nicht."

Andrzej Stasiuk sieht das anders: "Es geschehen große Dinge im Osten", schwärmt der Schriftsteller. Er appelliert auch an das Gewissen Europas, denn "es ist ein einsamer Kampf", den die Ukrainer da ausfechten. "Wir in Polen kennen das aus eigener Erfahrung: Wenn man Russland als Nachbarn hat, ist der Mensch doppelt so einsam. Vielleicht ist deshalb unser früherer Präsident Lech Walesa nach Kiew geflogen, und sie haben ihn empfangen wie einen Garibaldi. Meines Erachtens sollten alle dorthin fliegen: Schröder, Blair, Chirac. Leider werden sie das nicht tun. Sie fliegen nur nach Moskau, weil 'Russland in den demokratischen Veränderungen in der ersten Reihe schreitet', wie es Frankreichs Präsident vor kurzem bewusst formuliert hat." Der Text erschien vor einer Woche auf der Internetseite von Stasiuks Verlag und in der Süddeutschen (da kostet er, hier die Zusammenfassung aus unserer Feuilletonrundschau).
Archiv: Plus - Minus

Gazeta Wyborcza (Polen), 04.12.2004

Lernen diese Westler denn nie dazu, fragt sich Marcin Bosacki nach der Lektüre einiger Kommentare zur Ukraine, die im Independent (Peter Unwin: hier), im Guardian (Jonathan Steele: hier), dem Spectator (John Laughland) und dem Figaro standen: Wieder werde das Paradigma der "Stabilisierung" über die Köpfe der Beteiligten hinweg zum höchsten Gut erklärt - wie in den achtziger Jahren. "Die Ignoranz gegenüber dem Willen der Nationen war der größte Fehler der westlichen Sowjetologen und der Grund, warum sie das rasche und größtenteils unblutige Ende des Kommunismus nicht vorhersehen konnten. Die Sowjetologen konzentrierten sich auf die Anzahl der Divisionen, die Maisernte, die Aufstellung der Ehrentribüne bei den Erste-Mai-Feiern und die Fraktionen im Politbüro. Was die Untergebenen des Systems wollten, interessierte sie kaum ... Wir sind nicht blind, deshalb sehen wir, dass Mitteleuropa besser und stabiler ist, seit seine Nationen über ihr Schicksal selbst entscheiden können. Und wir glauben, dass es der Ukraine genauso gehen wird. Wir wissen, dass Freiheit und Wahrheit keine Feinde der Stabilität sind."
Archiv: Gazeta Wyborcza
Stichwörter: Laughland, John, Mitteleuropa

Economist (UK), 03.12.2004

Vieles ist wahr an Tom Wolfes Universitäts-Satire "I am Charlotte Simmons", seufzt der Economist, doch eines habe Wolfe übersehen: "Die akademische Welt ist der Teil Amerikas, der am stärksten von Vielfalt besessen ist, und zugleich der am wenigsten vielfältige Teil des Landes. Einerseits reißen sich die Hochschulen ein Bein aus, um Professoren und Studenten aus den Minderheiten zu gewinnen - mithilfe einer aufblühenden Bürokratie von 'Minderheits-Verantwortlichen'. Wenn es allerdings um Politik geht, ist ihnen die Vielfalt nicht nur gleichgültig, sondern sie sind dagegen regelrecht allergisch." Für Diskussion sei kein Raum, lediglich für das immergleiche Echo linksliberaler Einstellung.

Zwar liegt die Kernaufgabe der UNO in der Prävention, doch muss die UNO angesichts der veränderten Weltsicherheitslage eine neue, angemessene Rechtsgrundlage zur Bewältigung von Konflikten finden, erklärt UN-Generalsekretär Kofi Annan und kommentiert den Bericht, den das von ihm einberufene Forum der Weisen jetzt vorgelegt hat. Dieser verzichte zwar auf eine Änderung des Artikels 51 der UN-Charta, formuliere jedoch fünf grundlegende Richtlinien, die der Situationseinschätzung und somit einem Einschreiten der UNO zugrundeliegen sollen.

Im Aufmacher erörtert der Economist die Frage, wie lange der Dollar seinen Status als weltweit anerkannte Reservewährung noch halten kann. Weiter wird ausführlich darauf eingegangen, inwiefern die amerikanische Währungspolitik zur Gefährdung des Dollars beiträgt.

Weitere Artikel: Der Economist liest Gabriel Garcia Marquez' neuen Roman "Memoria de mis Putas Tristes" als Plädoyer für das Alter und der Chance einer Neugeburt, die es bietet. Der Trubel um den britischen Innenminister David Blunkett hat sich nunmehr zu einem Drama Shakespeareschen Ausmaßes ausgeweitet, bemerkt der Economist. Was durchaus als Zeichen der Anerkennung zu werten ist - schließlich hat nicht jeder das nötige Format zur Shakespeare-Figur. Und schließlich berichtet der Economist, dass die "Voice-over-IP"-Technologie (sprich: Telefonieren übers Internet) kräftig am Sockel der internationalen Telefon-Riesen rüttelt.
Archiv: Economist

Elet es Irodalom (Ungarn), 26.11.2004

Am 5. Dezember 2004 stimmten 10 Millionen ungarische Staatsbürger darüber ab, ob die ca. 3 Millionen Ungarn, die in den Nachbarländern leben, die ungarische Staatsbürgerschaft bekommen dürfen. Die zahlreichen Beiträge in den ungarischen Magazinen zu dieser Frage sind kaum zu überblicken. Kein Wunder: es geht darum, ob die Auslands-Ungarn vom Land ihrer Muttersprache und ihren Verwandten durch die neue EU-Außengrenze hermetisch abgetrennt werden. Das ES-Magazin druckt Meinungen aus unterschiedlichen Seiten der Grenze: Ein Ungarn-Ungar sagt, dass der Trianon-Vertrag ungerecht war, weil er vom fernen Paris aus Millionen von Menschen in die Minderheitensituation zwang, ohne sie zu fragen. "Es ist deshalb die natürlichste Sache der Welt, durch gesetzliche und friedliche Mitteln die Situation der ungarischen Minderheiten zu verbessern." Ein aus Rumänien geflohener Ungar erzählt von einer Scheinehe, die ihm vor zwanzig Jahren die ungarische Staatsbürgerschaft bescherte und prangert die Arroganz der "Inländer" gegenüber den Minderheiten-Ungarn an. Ein in Ungarn lebender Grieche erzählt von dem langwierigen Einbürgerungsverfahren: er war selbst war drei Jahrzehnte staatenlos, obwohl er in Ungarn geboren wurde.

Die ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern sympathisieren mit den konservativen Parteien Ungarns. Ihr Wahlrecht würde also die jetzige Opposition für mindestens zwei Legislaturperioden in die Regierung katapultieren. Das ließ die eigentliche Debatte in innenpolitische Machtkämpfe ausarten. Den Wählern blieb unklar, was die Chancen und Risiken ihrer Entscheidung sein würde, also worüber sie eigentlich abstimmen sollten. Der Volksentscheid war gestern denn auch ungültig, weil nicht genug Bürger abstimmten. Aber die Probleme der ungarischen Minderheiten stehen weiterhin auf den ersten Seiten der Medien, und sie waren und sind auch Thema der ukrainischen Präsidentschaftswahlkampagne sowie im Europa-Parlament. Wie das ausgegangen ist, berichten wir in der nächsten Magazinrundschau.

Weitere Artikel: György Konrad fragt in vielen schönen Fragmenten nach der "Wahrheit der Autobiografie" und geht dabei von zwei Thesen aus, nämlich "im autobiografischen Roman stimmt alles" und "im autobiografischen Roman stimmt nichts". Istvan Szabos neuer Film "Being Julia", eine Somerset-Maugham-Adaption mit Anette Bening und Jeremy Irons in den Hauptrollen, wird freundlich, aber entschieden verrissen.

Times Literary Supplement (UK), 03.12.2004

Einen Streit um aufregende philologische Details bricht Noel Malcolm vom Zaun, der sich eine neue Ausgabe des "Leviathan" zu Gemüte geführt hat, die von Karl Schuhmann und G. A. J. Rogers herausgegebenen wurde. Das Pikante dabei: Der Rezensent ist zugleich Konkurrent, da er selbst an der Hobbes-Gesamtausgabe der Oxford University Press beteiligt ist und hier den "Leviathan" betreut. Er wirft Schuhmann nun einen "Mangel an Vertrautheit mit der Geschichte des Buchdrucks" vor. Während dieser meint, Hobbes habe die Korrektur von Druckfahnen der Druckerei überlassen, vertritt der Rezensent die Auffassung, der Philosoph habe die Fahnen selbst verbessert. "Schuhmann hat sich offensichtlich niemals Percy Simpsons Klassiker zur Praxis des Korrekturlesens in der frühen Moderne angeschaut, der vor fast siebzig Jahren bewiesen hat, dass die Korrektur von Druckfehlern gemeinhin Sache des Autors war." Der Beschuldigte kann sich leider nicht mehr wehren: er erlag 2003 einem Krebsleiden.

M. John Harrison hat mit den neuen Wyoming-Geschichten von Annie Proulx, "Bad Dirt", nutzloses, aber interessantes und amüsantes Wissen angehäuft: "Wir lernen den Preis von Heu und dessen Transportkosten kennen ... Wir lernen, dass das Real Western Stories Magazin 1946 eine Anzeige enthielt für ein 'Gerät, das mittels Kurbeln sanfte Stromstöße durch den Körper schickte, und eine, so versprach die Werbung, sichere Förderung des Haarwuchses bewirkte.'"

Weiteres: Annette Kobak begrüßt die Wiederveröffentlichung der Memoiren der Comtesse de Boigne, die Proust zu der Figur der Marquise de Villeparisis inspiriert hat, und die "Bücher des Jahres" werden vorgestellt: Darunter Titel von Antonia S. Byatt, Nadine Gordimer, Muriel Spark, Richard Sennett und George Steiner.

Nepszabadsag (Ungarn), 04.12.2004

"Modellieren, Kausalitäten erkennen, Wahrscheinlichkeiten und Risiken einschätzen, planen, experimentieren und die Konsequenzen ins Modell einbauen zu können. Sie glauben bestimmt, das wäre hier der Semesterplan eines Philosophiekurses an der Universität. Nein, das ist die Liste der künftig benötigten Fähigkeiten, um das kleine Lebensmittelgeschäft an der Ecke effektiv betreiben zu können" - schreibt die junge Kunsthistorikerin und Essayistin Eszter Babarczy in der größten Tageszeitung Ungarns. Sie erklärt das digitale Planspiel zum Bildungsmedium der Zukunft. Planspiele können nämlich komplexe Syteme allgemein verständlich simulieren und das Konzept "handelnd lernen" umzusetzen. Als Beispiele erwähnt die Autorin ein für Jugendliche entworfenes Planspiel der UNO über internationale Konfliktlösungsstrategien und die Planspiele zur Modellierung eines Gesundheitssystems (Sim Health) oder ökologischer Systeme (SimEarth). "Ernsthafte Computerspiele" - "Entertaining Games with Non-Entertainment Goals" - haben inzwischen schon einen internationalen Verein, wie auch die "Computerspiele mit einer gesellschaftlichen Wirkung". Die ungarische Regierung stellte - zeitgleich mit den Debatten über das neue Haushaltsgesetz im Parlament - ein Spiel online, in dem man eingeladen wird, Finanzminister zu spielen und den ungarischen Staatshaushalt für 2005 nach Lust und Laune umzuschreiben. Man kann auch die Konsequenzen sowie Haushaltskorrekturen anderer Internetnutzer mitverfolgen.
Archiv: Nepszabadsag

New Yorker (USA), 13.12.2004

Recht witzig ist Woody Allens Bericht vom überraschenden Auftritt eines Vertrauten beim Rechtsstreit zwischen Walt Disney und seinem Ex-Präsidenten Michael Eisner.
"Würde der Zeuge bitte seinen Namen nennen?"
"Mickey Mouse."
"Bitte nennen Sie dem Gericht ihre Beschäftigung."
"Animierter Nager."(?.)
"Verstehe ich richtig, dass Herr Eisner mit ihrer Beziehung zu Duffy Duck nicht einverstanden war?"
"Wir stritten uns mehrmals deswegen."

Weiteres: Malcolm Gladwell untersucht das latente Problem mit der überschätzten Glaubwürdigkeit von Bildern. Gestärkt mit den Einsichten aus zwei neuen Büchern des englischen Historikernachwuchses erzählt Joan Acocella noch einmal die Geschichte der Kreuzzüge und überlegt, warum es sie überhaupt gab. Zu lesen gibt es Louise Erdrichs bitterschwarze Erzählung "Disaster Stamps of Pluto".

Besprochen werden unter anderem Keren Anns neues Album "Nolita" (Sasha Frere-Jones hat sogar bis in Anns Pariser Wohnung recherchiert), Mike Nichols Film "Closer" und Zhang Yimous Streifen "House of Flying Daggers" ("Wenn man bedenkt, dass Mei blind ist und aus Rosenblüten und Porzellan zu bestehen scheint, wirkt ihre extensive Mordlust eher überraschend", staunt Anthony Lane.).

Leider nur im Print zu lesen ist David Granns Reportage über den mysteriösen Tod des Sherlock-Holmes-Forschers Richard Lancelyn Green. Hier gibt Grann Lauren Poncaro immerhin eine kleine Einführung in den Fall.
Archiv: New Yorker