Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
21.12.2004. Der Prospect versucht mit all den Barbaren zu leben, die englisch sprechen, wenn auch schlecht. Outlook India hat Sonia Gandhis Geburtstagsparty besucht - und war entsetzt über die Unterwürfigkeit der Gäste. Culturas wählte das Buch des Jahres: Roberto Bolanos "2666".  Der Economist sucht nach dem weisesten Narren der letzten 50 Jahre.  Und Istvan Eörsi begündet in ES, warum alle Gesellschaftstheorien ausgedient haben. 

Prospect (UK), 01.01.2005

Skeptisch blickt der Oxford-Professor Richard Jenkyns auf die Flut von Büchern, die die englische Sprache gegen die Barbarei verteidigen wollen. Verständnis hat er für den allgemeinen Eindruck, gerade in politischen Kreisen werde Sprache machiavellistisch manipuliert. Tony Blair sei dafür das beste Beispiel: "In seiner jüngsten Rede sagte er: 'Ich kann mich entschuldigen' (für die Mehrdeutigkeiten in der Irak-Krise), und die Zeitungen berichteten am nächsten Morgen beides: Dass er sich entschuldigt hatte und dass er sich nicht entschuldigt hatte." Es gehe eben um die Art des Sprachgebrauchs, und nicht um hochfahrende Korrektheit, wie im Falle eines Oxford-Dekans, der auf den grammatikalischen Fauxpas eines Besuchers hin sagte: 'Ich bin hocherfreut zu sehen, dass Sie in Oxford angekommen sind. Dasselbe gilt jedoch nicht für das Verb to contact.' "

Weitere Artikel: Ben Lewis überlegt, warum die Malerei, obwohl sie schon seit 120 Jahren für tot erklärt wird, immer noch lebt und gegenwärtig sogar in neuer Blüte steht. John Hemming berichtet, wie sich die in Brasilien lebenden eingeborenen Stämme nach ihrer Kontaktierung durch die Außenwelt verändert haben und dass sie sich mit großem Geschick für ihre eigenen Rechte einsetzen. Wouter Bos plädiert dafür, den Mord an Theo van Gogh nicht als Scheitern von Integration zu deuten, sondern als die niederländische Version des 11. Septembers. Beth Breeze vergleicht amerikanisches und britisches Wohltätigkeitswesen. Und schließlich wettert Michael Lind gegen den Snobismus der amerikanischen Demokraten, die allen Ernstes glauben, sie könnten Wahlen gewinnen, indem sie sich über die in den Vorstädten - glücklich - lebende amerikanische Mitte hinwegsetzen.
Archiv: Prospect

Outlook India (Indien), 27.12.2004

Eigentlich wollte Sonia Gandhi ihren Geburtstag am 9. Dezember in aller Stille begehen, doch dann wurde eine Riesenparty daraus: Lange Reihen von Ministern nahmen Aufstellung, "Parteiarbeiter stimmten Gesänge an und tanzten unter gigantischen Plastikschildern, die Gandhi als 'Heilige, Mutter, Mutter Indien, Stern und Stolz' priesen", schreiben Smita Gupta und Sheela Reddy. Nun diskutiert das Land, ob es sich bei solchen Verehrungsexzessen um einen "nationale Wesenszug der Unterwürfigkeit" handelt oder um eine politische Kultur. Gupta und Reddy zitieren den selbstanklagenden Kommentator Inder Malhotra: "Jawaharlal Nehru tat sein Bestes, um dies zu verhindern. Wenn jemand seine Füße berührte, brachte ihn das furchtbar auf - im Gegensatz zu vielen anderen Parteiführern, die ihre Füße noch vergrößert hätten, nur um besser derart angefleht werden zu können. Indira Gandhi unternahm selbstverständlich niemals etwas dagegen, aber sie war kultiviert genug, nicht über das seltsame Verhalten ihrer Anhänger erfreut zu sein. Aber nun verbreitet es sich überall wie ein Geschwür. Es ist ein Maßstab für unseren nationalen Verfall."

Eric Hobsbawm spricht im Interview über das barbarische letzte Jahrhundert, die derzeitige dreifache Weltkrise (Internationale Anarchie, Globalisierung, Armut) und das Ende der Geschichte: "Die Schnelligkeit des Wandels ist so groß, dass die traditionellen Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwunden sind. Dafür ist auch die moderne Technologie verantwortlich. Im 20. Jahrhundert diente sie als ein Modus der Problemlösung, für den Geschichte irrelevant war. Man hat uns glauben gemacht, dass es für jedes Problem eine technische Lösung gibt, von der Errichtung einer Brücke bis zur Errichtung einer Demokratie. Geschichte ist also nicht mehr notwendig."

Weitere Artikel: Sadanand Menon schreibt einen poetischen Nachruf auf die bedeutende geistliche Sängerin Madurai Shanmukhavadivu Subbulakshmi, deren Karriere sieben Jahrzehnte währte. Rajesh Ramachandran ist den Spuren des legendär brutalen und vor kurzem nach einer jahrzehntelangen Laufbahn erschossenen Wilderers, Schmugglers und vielfachen Mörders Veerappan gefolgt, um herauszufinden, was aus dessen lukrativem Handel mit Sandelholz geworden ist. Und Prem Shankar Jha schaltet sich in die seit Wochen andauernde Debatte um die Inhaftierung des unter Mordverdacht stehenden hohen Hindu-Priesters Jayendra Saraswati und fragt: "Was, wenn er unschuldig ist?"

Nur im Netz: die Nominierten für den diesjährigen Bad-Sex-Award der Londoner Literary Review - mit den entsprechenden Textstellen.Gewinner ist übrigens Tom Wolfe.
Archiv: Outlook India

Point (Frankreich), 20.12.2004

In einem Interview spricht der junge türkische Intellektuelle Levent Ylmaz über seinen gerade erschienenen Essay "Le temps moderne. Variations sur les Anciens et les contemporains" (Gallimard) und die Eignung der Türkei für einen EU-Beitritt. Zur Meinung von Peter Sloterdijk befragt, wonach sich die Türkei nie ganz von ihren imperialistischen Träumen verabschiedet hätte, sagt Ylmaz: "Der Traum einer Türkei, die von Bulgarien über Turkestan oder den Kaukasus bis zu den islamischen Republiken Asiens reicht und der seit der Auflösung der Sowjetunion von einigen gehegt wird, ist längst ausgeträumt. Der Irak-Konflikt hat die Türken noch ein wenig mehr darin bestärkt, dem Orient den Rücken zu- und sich eher Berlin und Paris hinzuwenden - so, wie Ende des 19. Jahrhunderts, als Guillaume II und Abdulhamid sich verbündeten. Herr Sloterdijk wird sich also andere Argumente suchen müssen."
Archiv: Point

Culturas (Spanien), 19.12.2004

In der Kulturbeilage der katalanischen Tageszeitung La Vanguardia, schreibt Miquel Cuenca einen interessanten über ein auch hierzulande wenig bekanntes weiteres Opfer von Golfkrieg eins und zwei: die von dem Lauten- bzw. Oud-Großmeister Munir Bashir gegründete irakische Akademie für arabische Musik in Bagdad. "Bashirs Geschichte ist eine arabische Version des 'Falles Furtwängler': Anspruchsvollste Kunst unter einem verbrecherischen Regime." Die Zukunft von Bashirs Erbe ist dem Autor zufolge mehr als ungewiss: "Traditionell wurde die irakische Kunstmusik durch ein besonderes System des Selbstlernens weitergegeben: Der Schüler muss das musikalische Wissen seines Lehrers rauben, er muss ihm lange unbemerkt zuhören, sich seinen Stil aneignen, um sich schließlich in einem ersten Konzert der Öffentlichkeit zu stellen, einem Publikum von Fachleuten, unter diesen auch der von ihm verehrte Meister, der nichts von dem Diebstahl wissen darf. Aber nach Tod oder Emigration so vieler Meister, bei wem sollen da die heutigen Schüler noch stehlen?"

Die Kritiker von Culturas haben gewählt: Die besten Bücher des Jahres 2004. Bei den spanischsprachigen Titeln steht unangefochten an erster Stelle Roberto Bolanos kürzlich postum veröffentlichtes Monumentalepos "2666" (siehe auch hier): "'2666' ist dazu berufen, nicht nur der große spanischsprachige Roman des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts zu sein, sondern auch eines dieser fundamentalen Werke, die die Gesamtheit einer Literatur bestimmen. Wir befinden uns hier vor einer neuen Art, die Welt (nicht mehr) zu verstehen", dekretiert J. A. Masoliver Rodenas. Immerhin gleich an zweiter Stelle in der Gunst der Kritiker steht Gabriel Garcia Marquez' durchaus umstrittener neuer Roman "Memorias de mis putas tristes" ("Erinnerung an meine traurigen Huren"). Unter den fünf besten nicht-spanischsprachigen Titeln sind diesmal gleich zwei deutsche: "Tintenherz" von Cornelia Funke ("la Rowling alemana") und Ilse Aichingers Erstling aus dem Jahr 1948, "Die größere Hoffnung".

Archiv: Culturas

Gazeta Wyborcza (Polen), 18.12.2004

Im Wochenendmagazin der polnischen Tageszeitung spricht der französische Mediävist Jacques Le Goff in einem langen Interview über den Eurozentrismus der mittelalterlichen Chroniker, über den antiimperialen und pazifistischen Charakter der europäischen Konstruktion und die mittelalterlichen Ursprünge Europas: "Europa entsteht durch seine Zuwanderer. Diese manifestieren ihre Zugehörigkeit durch die Annahme des Christentums, was aber gleichzeitig viel mehr bedeutet - die Akzeptanz der Spielregeln und Institutionen, die das Wesen des Kontinents bestimmen. Zum Christentum überzutreten war im Mittelalter etwa so wie heute die Mitgliedschaft in der UNO. So war das im Falle der Skandinavier, der Ungarn und der Slawen."

Abgedruckt ist außerdem die flammende Liebeserklärung, die Juri Andruchowytsch der Dame Europa in Straßburg machte (mehr hier).
Archiv: Gazeta Wyborcza

Plus - Minus (Polen), 18.12.2004

Vor knapp 13 Jahren verkündete der erste und letzte Präsident der UdSSR, Michail Gorbatschow, die Auflösung der Sowjetunion. Das Magazin der Rzeczpospolita widmet dem "gescheiterten Zauberlehrling" ein ausführliches Porträt und rekonstruiert die politischen Wendungen zwischen 1986 und 1991. Paradoxerweise war es der Protege des früheren KGB-Chefs und Generalsekretärs Jurij Andropow, der das System zu Grabe tragen musste, wobei er sich spätestens seit 1988 großer Beliebtheit im Westen erfreute. "Gorbi trat ab als gescheiterter Reformator, der Russland verändern und es mit der Welt versöhnen wollte. Ein Politiker der eine persönliche Niederlage hinnehmen musste - er verlor schließlich Macht und Staat - ohne den jedoch die Welt heute ganz anders aussehen würde. Nachdem die alten Konflikte durch neue ersetzt wurden, wird die historische Dimension von Gorbatschow immer mehr sichtbar. Möglicherweise war er einer der europäischsten Politiker, die Russland hervor gebracht hat. Vielleicht ist er deshalb gescheitert", überlebt der Publizist Slawomir Popowski.
Archiv: Plus - Minus

Economist (UK), 17.12.2004

In Anlehnung an König James I., dem die widersprüchlichsten Eigenschaften nachgesagt werden, sucht der Economist den "weisesten Narren" der letzten 50 Jahre und bittet seine Leser um Vorschläge. "Er oder sie sollte grundsätzlich ein Idiot sein, aber ein gewitzter oder ein gerissener. Die Kandidaten brauchen keine Christen sein, aber sie müssen noch leben, oder es im Laufe der letzten 50 Jahre getan haben. Sie können aus der Welt der Politik, der Universität oder der Wirtschaft stammen - oder vielleicht aus Kirche, Bühne oder Journalismus. Oder sonstwoher: Auf der 'Titanic' wurde einer von ihnen gesehen, wie er in Richtung Bar lief, während alle anderen zu den Rettungsbooten stürmten."

Das Jahresende naht und, wer weiß, vielleicht auch das Ende der Welt, amüsiert sich der Economist und widmet seinen Aufmacher der langen - weil dem Ausbleiben des tatsächlichen Weltendes geschuldeten - Tradition der Weltendphantasien.

Weitere Artikel: In Erwartung reicher Gaben sagt der Economist dem Weihnachtsmann brav sein Gedicht auf - ein gereimter Rückblick auf das Jahr 2004. Desweiteren geht er der Frage nach, ob George Bush religiöser ist als der amerikanische Durchschnitt, und ob er ernsthaft glaubt, einen göttlichen Auftrag zu erfüllen. Eine Frage, die sich bei dem Fernsehprediger Billy James Hargis erübrigt, wie ein Nachruf feststellt. Außerdem gibt es noch mehr Zeichen und Wunder: Wir lernen die letzten Führerkulte der Welt kennen, erfahren, warum man im Ölparadies Irak für Benzin Schlange stehen muss und dass es noch Amerikaner gibt, die voller Hochachtung von Europa sprechen.
Archiv: Economist
Stichwörter: Bush, George, Irak, Titanic, Idiot

Al Ahram Weekly (Ägypten), 16.12.2004

Khaled Dawoud war einer von fünf arabischen Reportern, die vor einigen Tagen Zugang zu den Gefängnisanlagen von Guantanamo Bay erhielten. Bis ins Detail beschreibt er die fünf verschiedenen "Camps" und die Zellen, die den Besuchern vorgeführt wurden. "Die Gefangenen in Guantanamo haben keinen Zugang zu Zeitungen und wissen nicht, was in der Außenwelt geschieht, außer, was ihre Befrager ihnen sagen. Der Chefvernehmer sagte, er informiere die Gefangenen über bestimmte Ereignisse, wenn das seinen Untersuchungen nützen würde, wie der Tod des palästinensischen Präsidenten Jassir Arafat oder die afghanischen Wahlen vor zwei Wochen. "Aber nicht alle Gefangenen wissen notwendig, dass Iraks Präsident Saddam Hussein gefangen genommen wurde", oder dass der Irak jetzt besetzt ist, fügte er hinzu. Auf die Frage, welche nützlichen Informationen denn Gefangene geben könnten, die seit drei Jahren von der Außenwelt abgeschnitten sind, erklärte er, sie könnten immer noch Informationen über den Hintergrund von Al-Qaida geben, ihre Taktik, Rekrutierungsmethoden und das finanzielle Netzwerk."

Rania Khallaf stellt den Dichter Girgis Shoukry, dessen Gedichte vor kurzem auf Deutsch erschienen sind, als einen Vertreter der jüngeren Generation ägyptischer Schriftsteller vor, die an einer Poetik des Alltäglichen arbeiten und damit das Bild arabischer Dichtung im Ausland verändern könnten. Shoukry selbst will von derlei Klassifikationen nichts hören, und überhaupt - wer liest denn schon? "Klar kann man von einer gegenwärtigen poetischen Bewegung sprechen, aber worauf es letztlich hinausläuft, ist eine Gruppe unabhängiger Stimmen. Das Paradox (...) ist doch, dass wir auf die essenzielle Rolle von Poesie für das soziale und kulturelle Leben pochen, während die Regierung noch damit beschäftigt ist, über Wege aus dem Analphabetismus nachzudenken. Die maximale Auflage eines Romans oder Lyrikbandes in staatlich finanzierten Verlagen ist 3.000. Wer also liest uns?"
Archiv: Al Ahram Weekly

Nouvel Observateur (Frankreich), 16.12.2004

Im Debattenteil sind Auszüge aus einer Rede zu lesen, die der spanischstämmige Schriftsteller Juan Goytisolo (mehr) auf der Buchmesse in Guadalajara anlässlich der Verleihung des Juan-Rulfo-Preises hielt. Er spricht darin über den Wahnsinn in der Welt, sein bewegtes Leben und seine literarischen Vorlieben und bekennt sich zum Pessimismus, aber auch zur "Klarsichtigkeit", die ein "Vorteil des Pessimismus" sei. "Kann man den posthumen Roman Tolstois ergründen und dabei mit verschränkten Armen zusehen, was alles im Kaukasus geschieht? Das 'Herz der Finsternis' lesen und ohne ein Stirnrunzeln an der Wiederholung der Massaker, in deren Kontext das Buch steht, beteiligt sein? Edward Said lesen und die Zeitungsseite mit der täglichen Chronik der Demütigung und des Leidens der Palästinenser überblättern? Wir können heutzutage keine Unwissenheit mehr vorschützen."

Als "Höllenfahrt" beschreibt eine Reportage das Schicksal des prestigereichen Verlags Editions du Seuil, der Anfang dieses Jahres von den Großkonzernen Herve und La Martiniere geschluckt wurde. Entlassungen, die Abwanderung vieler Autoren in andere Konzernteile und die Wut der Buchhändler hätten 2004 zu einem "annus horribilis" gemacht.

Außerdem zu lesen ist ein Interview mit Arnaud Desplechin über seinen neuen Film "Roi et Reine", der auf den Filmfestspielen in Venedig lief und nun ins Kino kommt; und in einem Gespräch philosophieren die Schauspielerinnen Isabelle Huppert und Catherine Frot, Hauptdarstellerinnen in Alexandra Lecleres Film "Soeurs fachees", über die besondere Beziehung zwischen Schwestern.

Beszelö (Ungarn), 20.11.2004

In der ehemaligen Samizdat-Zeitschrift Beszelö liefert der Balkan-Experte György Szerbhorvat eine Momentaufnahme von Politik und Kultur in Serbien - dazu gehört auch Emir Kusturicas preisgekrönter Film "Das Leben ist ein Wunder". Er spielt im neu erbauten Privatdorf des Filmemachers, das im Film ein typisches altes serbisches Dorf darstellen soll. Die künstliche Siedlung ist "mit einer Kirche, einer Bibliothek und einem auf Öko-Lebensmittel spezialisierten Kleinunternehmen ausgestattet. Windmühle und Swimming-Pool werden noch gebaut." Die serbischen Medien sendeten einen ganzen Sonntagnachmittag live aus dem Privatdorf und erheiterten die Zuschauer mit dem kleinen Spaß, dass "Kusturica schnell zum Bürgermeister seines Dorfes gewählt werden kann, ... weil hier nicht die Bewohner den Bürgermeister wählen, sondern umgekehrt: Kusturica hat die Bürger seiner Siedlung ausgesucht. Ich möchte ihm doch nicht gratulieren, weil der international bekannte Regisseur und Globalisierungskritiker immer noch in erster Linie westeuropäische Politiker ... und weniger Slobodan Milosevic für die Balkan-Krise verantwortlich macht."

Die Literaturkritikerin, Verlegerin und Übersetzerin Anna Gacs analysiert den Generationswechsel osteuropäischer Filmemacher. In Filmen der älteren Generation, zum Beispiel von Istvan Szabo (mehr hier), komme meistens eine lokale oder regionale, historische Erfahrung zum Ausdruck. Aus den Werken jüngerer Regisseure, zum Beispiel von Benedek Fliegauf (mehr hier) sei dieses lokale Element plötzlich verschwunden. Für sie sei die Erfahrung zentral, dass "ihre künstlerische Positionen nicht mehr eindeutig im Kontext westlicher Diskurse und lokaler Erfahrungen bestimmt werden können. Das ist einserseits befreiend, andererseits frustrierend: wir haben unseren - nach innen ein bisschen peinlichen, nach außen Identität sichernden - exotischen Charme verloren."
Archiv: Beszelö

Elet es Irodalom (Ungarn), 10.12.2004

Für den Schriftsteller Istvan Eörsi haben sämtliche Gesellschaftstheorien ausgedient: "Keine christlich geprägte Partei würde die Bankiers aus der Kirche jagen oder den Reichen den Zutritt zum Himmel verbieten; es gibt keinen liberalen Staat, der die schönen Prinzipien der Gleichheit vor dem Gesetz und der gleichen Würde um das Prinzip der realen und globalen Chancengleichheit ergänzen würde, und es gibt keine sozialistische Partei, die eine lebensfähige, humanistische Alternative zur Marktwirtschaft, dem Hauptgrund aller gesellschaftlichen Ungleichheit bieten kann. (...) Ohne den Anspruch auf eine Weltanschauung werden wir schnell in die Nacht der postmodernen Weisheit galoppieren, wo es keine ernstzunehmenden Kriterien für unsere Bewertungen gibt, wo unsere Handlungen nicht mit ihren Folgen zusammenhängen. Diese Einstellung führt dramaturgisch gesehen dazu, dass auf der Bühne alles passieren kann."

Internet schlägt Fernsehen - stellt der Medienwissenschaftler Peter György fest. Die Online-Medien, zum Beispiel das beliebte Informationsportal Index.hu, berichteten am Abend des Volksentscheids über die ungarischen Minderheiten viel kompetenter und schneller, als die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender. "Die Medien können von Politikern ... ein einziges Mal Aufrichtigkeit erzwingen: in den Augenblicken des Schocks. Je mehr Zeit ihnen bleibt, sich zu fassen, desto schlimmer für die Öffentlichkeit. Es wäre deshalb wichtig gewesen, die politische Elite zu jenem Zeitpunkt zu befragen, als die Ergebnisse noch unbekannt waren, statt idiotische deutsche Fernsehfilme zu senden."

Die Kulturwissenschaftlerin Julia Sonnevend zeigt das Jahr 1989 aus der ungewöhnlichen Perspektive eines zehnjährigen Kindes. Sie verbrachte "viele tausend Stunden" in der Schule, doch es half ihr kein bisschen, die sich zunehmend verrätselnde Welt, "die sogenannte Wende" besser zu verstehen. "Die Schule plante im voraus nichts, erwartete nichts, weder von uns, noch von sich selbst. All die politischen, öffentlichen und privaten Veränderungen, die sich um 1989 außerhalb der Schule ereigneten, fand ich großartig und bewegend. Aber sie blieben - den Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen ausgenommen - irgendwie außerhalb. Und wir waren mit ihrer Beurteilung endlos allein, auf uns gestellt." Für die Ratlosigkeit und das geringe Wissen ihrer Generation über die Geschichte macht Sonnevend daher die Schulen verantwortlich.

New York Times (USA), 19.12.2004

Christopher Hitchens (mehr) taucht mit Hilfe von drei Neuerscheinungen tief und amüsiert in die Hippiezeit ein und ist hocherfreut, dass man durch die Lektüre die Epoche erleben kann, ohne sie je erlebt haben zu müssen. "Die Fotos (und ein gewisser durchdringender Qualm, den manche Leute, so wie ich, nie inhaliert haben) sind die beste Gedächtnisstütze. Das Durchblättern der glänzenden Seiten von 'Hippie' heißt, tiefe Züge zu nehmen. Ich schlug mein Exemplar bei einem Manifest von Frank Zappa auf, in dem er zugab, dass 'Ein Freak ist kein Freak, wenn alle Freaks sind', um wenig später festzustellen: 'Exzentrisch aussehen und sich dementsprechend benehmen IST NICHT GENUG.' Wie wahr. Und doch, wie lange hat es gedauert, um das herauszufinden."

Rachel Donadio untersucht, was an den immer lauter werdenden Klagen der amerikanischen Literaturszene über Zensurmaßnahmen der Regierung dran ist und warum die iranische Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi die Außenhandelskontrollbehörde verklagt hat. Tatsächlich gibt es "strenge Einfuhrbeschränkungen für Bücher aus dem Iran, Sudan, Kuba und anderen Ländern, die unter einem US-Embargo stehen. Nach diesen Regelungen wird der Kauf von Rechten ungeschriebener Bücher oder die editorische Arbeit an Werken ohne eine solche Lizenz als 'Servicebeitrag' gewertet, was mit Handel mit dem Feind gleichzusetzen ist. Das wiederum kann mit Gefängnis oder Geldstrafen bis zu einer Million Dollar geahndet werden. Die Verleger argumentieren, dass diese Regelung den ersten Zusatz der Verfassung verletzt."

Weiteres: Die größten Romanfiguren des Christopher Isherwood waren immer er selbst, hat Brooke Allen aus Peter Parkers etwas zu voluminöser Biografie (erstes Kapitel) der englischen Dichter- und Homosexuellenikone herausgefunden. Die Auswahl "Living with Jazz" (ein Auszug über Armstrong und Ellington), in der 136 von Dan Morgensterns Jazzkritiken und Essays versammelt sind, preist Alfred Appel Jr. als eines der "essentiellen Bücher über Musik" und zählt es zur Grundausstattung eines ernstzunehmenden Bücherregals. Ruth Franklin dankt Imre Kertesz (mehr) dafür, dass er mit seinem Roman "Liquidation" (erstes Kapitel) die literarische Beschäftigung mit Auschwitz erneuert hat. Als "passend, vielleicht sogar hilfreich" in diesen dunklen Zeiten lobt Jay Winik Michael Kauffmans Buch "American Brutus", das die Hintergründe des Attentats auf Abraham Lincoln untersucht. Damals sollte nämlich nicht nur Lincoln, sondern die ganze Regierung in einer koordinierten Anschlagserie ermordet werden. Hier das erste Kapitel.

Im New York Times Magazine porträtiert die famose Lynn Hirschberg den unabhängigen Filmvermarkter Bob Berney, der so schwierige Kleinproduktionen wie "Monster" und "My Big Fat Greek Wedding" oder Heikles wie "The Passion of the Christ" zu Riesenerfolgen machte. Hirschberg besucht Berney, als dieser gerade darüber grübelt, wie man "The Woodsman" mit einem pädophilen Kevin Bacon an den Mann bekommen soll, und das in den USA. "Man muss Kevin Bacons mutige Rollenwahl betonen und gleichzeitig den Inhalt des Films herunterspielen. Das ist knifflig: Das Wort 'pädophil' kommt in der 38-seitigen Pressebroschüre nicht vor, und das Poster ist ein Foto Bacons, wie er auf eine schimmernde rote Kugel herunterschaut."

Weitere Artikel: Jonathan Cohn macht darauf aufmerksam, dass gemeinnützige Krankenhäuser, die von der Steuer befreit sind, damit sie auch die Armen versorgen, angefangen haben, mittellose Patienten zu verklagen. Jeffrey Rosen untersucht, wie Blogs das Privateste verschwinden lassen. Und in der Titelgeschichte stellt Michael Lewis die neue Heilsfigur des Football vor, den 21-jährigen Quarterback Eli Manning.
Archiv: New York Times