Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
10.05.2005. Im Nouvel Obs ruft Jürgen Habermas der französischen Linken zu: Sagt ja zu Europa. In Foreign Affairs klärt Bernard Lewis islamische Despoten über die Sünde des Istibdad auf. Im polnischen Plus-Minus erinnert Norman Davies die Westeuropäer an Stalins "kleine Sünden". Der Economist würdigt Stalins einzige gute Tat. Im Guardian vermisst Adam Thorpe eine gemeinsame Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Elet es Irodalom feiert die jüngste ungarische Historikergeneration. Der New Yorker stellt fest: Pop macht schlau. Al Ahram porträtiert arabisch-amerikanische Stand-Up-Komiker. Die New York Times versucht Emir Kusturica zu verstehen.

Nouvel Observateur (Frankreich), 05.05.2005

Der Countdown für das französische Referendum zur europäischen Verfassung läuft, die Chancen für eine Zustimmung sollen jüngsten Meldungen zufolge wieder gestiegen sein. In einem exklusiven Beitrag für den Nouvel Obs meldet sich Jürgen Habermas zu Wort und erklärt unter der Überschrift "Das illusorische Nein der Linken", dass eine Ablehnung der Verfassung "ganz Europa für lange Zeit in eine Depression stürzen" würde. Er schreibt: "Wie wünschenswert die Bändigung und Zivilisierung des Kapitalismus auch wäre, käme eine Ablehnung der Verfassung durch die Linke meiner Ansicht nach zum falschen Zeitpunkt und wählte die falsche Seite. Natürlich gibt es gute Gründe den eingeschlagenen Weg der europäischen Einigung zu kritisieren. (?) Aber die rechte und fremdenfeindliche Auffassung, wonach die Abschaffung der Grenzen unerwünschte soziale Konsequenzen nach sich zöge, die man durch eine Wendung zum Nationalstaat verhindern könne, ist nicht nur aus normativen Gründen verdächtig, sondern darüber hinaus vollkommen irreal. Eine Linke, die diesen Namen verdient, hat nicht das Recht, sich von dieser Art regressiven Reflexen anstecken zu lassen."

Im Vorfeld der am 11. Mai beginnenden Filmfestspiele von Cannes beklagt der Obs einerseits, die allbekannte "Übermacht" des amerikanischen Kinos, die bewirke, dass der französische Film "von Jahr zu Jahr weniger Raum erobern" könne. Der Artikel berichtet aber gleichzeitig über Erfolge im Ausland. "In Moskau, Peking und New York gilt der französische Film als romantisch, intelligent, humorvoll, 'anders', zuweilen ärgerlich intellektuell; das französische Kino hat auf jeden Fall etwas, das alle anderen nicht oder nicht mehr haben."

Zu lesen ist außerdem eines der seltenen Interviews mit Nick Hornby, dessen Buch "A Long Way Down" bei Plon erscheint (in Deutschland demnächst bei Kiepenheuer & Witsch).

Foreign Affairs (USA), 01.05.2005

Die Zukunft des Nahen Ostens beherrscht die außenpolitische Debatte in den USA. In einem kenntnisreichen Essay verweist der Islamforscher Bernard Lewis auf die lange Tradition von Freiheit und Gerechtigkeit, demokratische Elemente, die im Islam angelegt sind, derzeit aber ignoriert werden. Etwa die Pflicht des Herrschers, sich beraten zu lassen. "Im Koran wird sie explizit betont. Auch in den Überlieferungen des Propheten wird sie oft genannt. Deren Verneinung führt zu Despotismus; im Arabischen istibdad, ist 'Despotismus' ein Begriff mit sehr negativen Konnotationen. Es wird als etwas Teuflisches und Sündhaftes betrachtet. Einen Herrscher des istibdad zu bezichtigen, ist praktisch ein Aufruf zu seinem Sturz."

Ergänzend dazu schildert Fouad Ajami, Nahostexperte an der John Hopkins Universität, den Fall Libanon als Beispiel für den Herbst der Autokraten in der arabischen Welt. Der zu Einschüchterungszwecken verübte Mord an dem früheren Premierminister Rafiq Hariri hat eine Unabhängigkeitsbewegung entfacht, die Syriens Militär aus dem Land getrieben hat.
Archiv: Foreign Affairs

Magyar Narancs (Ungarn), 05.05.2005

Das erste Jahr der EU-Mitgliedschaft ist vorbei. Der Korrespondent Balint Szlanko beobachtete, wie sich die "Neuen" in Brüssel eingerichtet haben: "Man erkennt sie schnell, sie wuseln überall, im EU-Viertel, in den Restaurants, auf Partys, und sie scheinen energiegeladener und ambitionierter als die Vertreter der alten Mitgliedstaaten. Die meisten von ihnen ernteten bald die Anerkennung oder weckten wenigstens die Neugier der 'Alten'. Aber viele von ihnen wissen noch nicht genau, wie sie die Interessen ihres Heimatlandes in den komplexen Strukturen durchsetzen können ... Ihre Strategien sind etwas holprig; es dauert eben seine Zeit, bis sie sich aus Outsider-Aspiranten zu aktiven Gestaltern der Geschehnisse entwickeln. .. Die Ungarn sind da übrigens auch keine Ausnahme. Der aggressiven Polen, die ihren Großmachtillusionen nachjagend ständig auf ihre vermeintliche 'Rechte' hinweisen und mit ihrem Gewicht argumentieren, sind inzwischen alle überdrüssig."

Der "Professor" gegen den "Ritter" - bei der Analyse der Kontrahenten Prodi und Berlusconi ein Jahr vor den Wahlen in Italien hat sich der Publizist Ferenc Laszlo offenbar wunderbar amüsiert: "Die oppositionellen Parteien sind zur Abstimmung ihrer Politik komplett unfähig. Die fast manisch immer Sonderwege gehenden, auf externe Beobachter oft unfreiwillig komisch wirkenden Parteichefs des oppositionellen Lagers behindern die Kollegen nur allzu gern. Die Unbeständigkeit dieser Allianz äußert sich schon darin, dass sie sich nicht einmal auf den Namen ihrer Föderation einigen kann. Sie hieß schon 'Olivenbaum', 'Dreirad' (kein Scherz!), 'Große Demokratische Allianz', dann wieder 'Olivenbaum'... Es ist kurios und menschlich zugleich, dass der verwitterte Charme des in Italien als 'il professore' genannten Romano Prodi ausgerechnet durch seine Abwesenheit (er war Präsident der EU-Kommission in Brüssel) und durch die Unzulänglichkeiten der Zuhausegebliebenen den alten Glanz wiedergewonnen hat."
Archiv: Magyar Narancs

Elet es Irodalom (Ungarn), 06.05.2005

Der Historiker Ignac Romsics feiert die jüngste ungarische Historikergeneration, die immer wieder die fundiertesten Interpretationen über die umstrittensten Kapiteln der ungarischen Geschichte vorlegen, während die älteren Historiker damit beschäftigt sind, alte Streits weiterzuführen. Romsics rezensiert eine Neuerscheinung des jungen ungarischen Historikers Balazs Ablonczy über Pal Teleki, eine der umstrittenen Gestalten der ungarischen Geschichte. Teleki war ungarischer Ministerpräsidenten von 1920-1921 und 1939-1941 (mehr hier). "Keins der beiden Lager im großen Teleki-Streits wird mit diesem Buch zufrieden sein. Weder diejenigen, die Telekis Antisemitismus schön zu reden versuchen, noch jene, die ihn für den Holocaust unmittelbar verantwortlich machen ... Das Buch dokumentiert nämlich schonungslos, dass der Antisemitismus das Denken und die Politik Telekis seit 1919 erheblich beeinflusste. ... Aber es warnt auch davor, die heutige Perspektive mit der Zeit vor 1941 zu verwechseln. Die Wannsee-Konferenz, auf der die Ermordung der Juden beschlossen wurde, fand mehrere Monate nach Telekis Tod statt; die Deportation der ungarischen Juden begann im April 1944. Teleki kann für den Holocaust nicht unmittelbar verantwortlich gemacht werden."

Das ES-Magazin gratuliert dem Literaturwissenschaftler und Essayisten Laszlo Földenyi (mehr hier) zum Friedrich-Gundolf-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und druckt die Laudatio von Ilma Rakusa: "Földenyi, seinem Wesen nach ein melancholischer Metaphysiker, dem die plafonierte Ideenwelt des Kommunismus, unter dem er aufwuchs, keinerlei geistige Nahrung bot, suchte und fand bei den Deutschen das, was er eine seltene 'Sensibilität für die Transzendenz' nennt, idealtypisch verkörpert in den deutschen Romantikern. Heute allerdings sieht sich Földenyi enttäuscht. In seinem kürzlich erschienenen Aufsatz mit dem Titel 'Überschattete Liebe zur deutschen Literatur' beklagt er den Verlust solcher Sensibilität, die zugunsten einer 'Stromlinienförmigkeit des Denkens' aufgegeben worden sei. ... Der Blick von außen sieht oft mehr. Warum also sollten wir nicht von Földenyis Sensibilität lernen? Von seiner Skepsis gegenüber falschen Gewissheiten und dem Design des Glatten und Gutgemeinten? Und wenn uns dabei gelegentlich Schwindelgefühle überkommen, heißt das zuverlässig, dass die Lektion gefruchtet hat."

Espresso (Italien), 12.05.2005

Die Wahrheit hat keine Chance, Vorurteile und Machtgedanken sind immer stärker, klagt Umberto Eco in seiner Bustina di Minerva. Da sind etwa die "Protokolle der Weisen von Zion", deren Entstehungs- wie Wirkungsgeschichte (mehr) sich Will Eisner in seiner Graphic Novel "The Plot" widmet. "Der interessante Teil der Erzählung ist nicht der über die Produktion falscher antisemitischen Propaganda, sondern der Teil, der erzählt, was danach passiert ist, als die Times und dann auch alle seriösen Wissenschaftler bewiesen haben, dass hier eine Fälschung vorliegt. Ich würde sagen, dass die 'Protokolle' seitdem noch stärkere Verbreitung gefunden und ernster genommen wurden als zuvor (ein Blick ins Internet genügt)."

Leider nur im Print zu lesen ist die Vorabberichterstattung zum Festival in Cannes, ein Gespräch mit Festivalleiter Gilles Jacob und eines mit Regisseur Sidney Pollack.
Archiv: Espresso

Gazeta Wyborcza (Polen), 07.05.2005

Die Werbebudgets einiger Kirchen, besonders in den USA, sind größer als die von internationalen Konzernen, bemerken Zbigniew Domaszewicz und Vadim Makarenko in der Gazeta. Dass Kirchen langsam immer mehr von professionellen Werbeagenturen Gebrauch machen, und andererseits die Werbung mit christlichen Motiven spielt, scheint niemanden mehr zu überraschen. "Die Sixtinische Kapelle ist auch nichts anderes als ein Riesenbillboard mit der Message: Gott ist toll!", argumentieren die Werber.
Archiv: Gazeta Wyborcza

New York Review of Books (USA), 26.05.2005

Der Schriftsteller Gary Shteyngart schwärmt von dem russischen Schriftsteller Wladimir Woinowitsch, der einst Hymnen auf die sowjetischen Kosmonauten verfasste, bis er sich vom Regime und dem Agitprop abwandte, nach Deutschland ausreiste und ein wunderbarer Satiriker wurde. In den USA ist gerade sein Buch "Monumental Propaganda" erschienen (auf Deutsch: "Aglaja Rewkinas letzte Liebe"). "Wladimir Woinowitsch ist wahrscheinlich der wichtigste russische Satiriker der vergangenen fünfzig Jahre und, angesichts der Absurdität und Repressivität dieser fünfzig Jahre, einer der subversivsten in der Geschichte der Nation. Wenn die russischen Dichter, wie Dostojewski sagte, allesamt unter Gogols Mantel hervorgeschlüpft sind, dann kommt Woinowitsch direkt aus Gogols Nase. "

Weiteres: Als "überfällige Geschichte amerikanischer Progressivität" begrüßt Jeff Madrick Richard Parkers Biografie des Harvard-Ökonomen, Diplomaten, Präsidentenberater und Beststeller-Autors John Kenneth Galbraith. Brian Urquhart, früherer Unter-Generalsekretär der UN, empfiehlt Sadako Ogata Erinnerungen an ihre Zeit als Hochkomissarin für Flüchtlinge "The Turbulent Decade", wobei er ihren "faszinierenden wie tragischen" Bericht als weiteren Beweis dafür nimmt, dass die UN sich nicht auf humanitäre Leistungen beschränken dürfen.

Höchst interessiert hat Patrick Radden Keefe die Sammlung militärischer Codenamen gelesen, die der Journalist William M. Arkin zusammengestellt hat: "Beim Lesen fällt einem sofort die seltsame Poesie der Begriffe auf: großtuerische Einträge wie 'Mighty Thunder' (eine Übungsserie der Air Force) oder 'Resolute Strike' (eine Operation gegen Taliban im Süden Afghanistans 2003) werden gefolgt von Einträgen wie 'Calypso Wind', 'Optic Windmill', Platypus Moon', 'Sorbet Royale' und, sehr hübsch, 'Zodiac Beauchamp'." Und John Updike würdigt die große Max-Ernst-Retrospektive im Metropolitan Museum New York.

The Nation (USA), 23.05.2005

Nicholas von Hoffman inspiziert den liberalen Radiosender Air America, ein noch recht junges politisches Projekt, mit dem Rush Limbaugh & Co der Kampf angesagt werden sollte. "Einige Leute nahmen an, dass Air America ein Wahljahr-Stunt sei, der nach der Niederlage der Demokraten im vergangenen November wieder verschwinden würde. Linkes Radio wurde als unmöglich angesehen, erklärt der Senderchef Danny Goldberg, weil man dachte, 'dass liberale Ideen zu nuanciert seien, dass der Konsvervativmus in einer einzigartigen Weise vom Ärger befeuert wird, dass Liberalismus elitär und Radio populistisch sei. Das hat sich als völlig falsch erwiesen.'" Bloß, meint Hoffman, den Demokraten fehlen die Helden. Und die Agenda. Bis dahin ist die progressive Radiostation für ihn nur eine leere Hülle voller überforderter Mitarbeiter.
Archiv: The Nation
Stichwörter: Liberalismus

Plus - Minus (Polen), 07.05.2005

Das Magazin der Rzeczpospolita ist ganz dem Jahrestag des 8. Mai gewidmet. Die französischen Historiker Stephane Courtois und Jean-Louis Panne (Herausgeber und Autoren des "Schwarzbuchs des Kommunismus") betonen dabei die Bedeutung des Hitler-Stalin-Pakts, der das Schicksal Polens besiegelte und den Krieg unabwendbar machte. In sehr scharfen Worten kritisieren sie Versuche, die Zeit der Zusammenarbeit zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion aus der europäischen Erinnerung zu tilgen, um keine Zweifel am moralischen Sieg der "Befreier" aufkommen zu lassen. "Warum sollte man an diese düsteren Momente der europäischen Geschichte, vor allem für die Nationen Mittelosteuropas, erinnern? Ganz einfach: heute ist es noch wichtiger als früher, eine gemeinsame europäische Erinnerung und ein gemeinsames Bewusstsein zu schaffen. Dabei sollte die ganze Geschichte, aller europäischen Völker berücksichtigt werden. Nicht etwa um, wie Putin es drohend formuliert hat, die Geschichte neu zu schreiben, sondern um sie überhaupt zu schreiben. Endlich zu schreiben."

Auch der "bekannteste Historiker Polens", der Brite Norman Davies erinnert an die Ambivalenz des sowjetischen Sieges für das östliche Europa, und bemerkt wie die "Vernunftsehe" - die große Koalition gegen Hitlerdeutschland - eine objektive Darstellung des Krieges lange Zeit verhinderte und bis heute das Bild Westeuropas vom Kriegsverlauf im Osten beeinflusst. Die Verbrechen des Gulag, die Zerstörung Warschaus während des Aufstands, die Opfer der Vertreibungen - das alles scheine erst durch neuere Forschungen und Publikationen der Öffentlichkeit bewusst geworden zu sein. "Das westliche Denken wurde von der offiziellen Darstellungsweise des Krieges: Hitler als Inbegriff des Bösen, Stalin als Alliierter mit seinen kleinen Sünden, so sehr beeinflusst, dass eine objektivere Darstellung der Geschichte eine Umdeutung der Verhältnisse, der Ideologien und der Moral voraussetzen würde." Ohne das Verdienst der Roten Armee beim militärischen Sieg über Hitler zu schmälern, sollte man daran erinnern, das Stalins Triumph mit Freiheit und Gerechtigkeit wenig zu tun hatte, schließt Davies.
Archiv: Plus - Minus

Ozon (Polen), 05.05.2005

Was kann man tun, um das gestörte polnisch-russische Verhältnis auf eine neue Ebene zu heben, fragt sich Russlandkorrespondent Andrzej Lomanowski. Alles steht und fällt mit der Interpretation des Zweiten Weltkriegs, meint der Autor. Während man in den meisten europäischen Ländern, insbesondere in Polen oder im Baltikum, wenig zu feiern habe, würden in Russland alle Zweifel an der großen Befreiungstat der Roten Armee als Sakrileg gelten und antieuropäische Ressentiments wecken. Der NATO- und EU-Beitritt der mittelosteuropäischen Staaten, die Revolution in der Ukraine - alles wird im Prisma einer antirussischen Kampagne des Westens gesehen. Die Chance Polens liege aber in "einer selbstbewussten Politik gegenüber Russland, frei von Ressentiments. Dies ist nur im Rahmen der EU möglich. Denn solange die Russen nicht selbst zu einer Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit bereit sind, werden wir diesen Geschichtsstreit nicht gewinnen. Dazu ist aber niemand in Russland bereit - ein Volk und ein Staat in der Krise kann sich keine Selbstkritik leisten."

Weitere Artikel: Die Ruinen des Industriezeitalters, vor allem in Oberschlesien, ziehen immer mehr Freaks aus dem Ausland an, stellt Katarzyna Kalwat fest. Ob Industrietourismus, cross golf oder schicke Büroviertel - die heruntergekommenen Hütten und Zechen haben eine strahlende Zukunft vor sich. Sogar im herausgeputzten Krakau will man den realsozialistischen Vorort Nowa Huta zum Denkmal erklären. Musikalisches Recycling betreibt Wojciech Czern mit seinem Label OBUH, in einem Dorf in der Nähe von Lublin: Experimentelles und weniger bekanntes Material aus den sechziger und siebziger Jahren wird auf Vinyl herausgebracht und beschert dem Studio weltweiten Ruhm - jenseits großer Konzerne und offizieller Kulturpolitik, berichtet das Blatt.
Archiv: Ozon

Economist (UK), 06.05.2005

Der Economist richtet die Augen auf Moskau, wo am 9. Mai die offiziellen Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des V-Day stattfinden. Dass gerade das autoritäre Russland mit großem Pomp den Sieg über die Barbarei feiert und dabei den Hausgeist Stalin und seine Verbrechen vergisst, mag so manchen ironisch stimmen. Doch es ist mehr als legitim, in Moskau zu feiern, findet der Economist, schließlich hat die Sowjetunion, und das sollten die Westmächte nicht vergessen, entscheidend zum Sieg über Hitler beigetragen und dabei 27 Millionen Tote (mehr als alle anderen Alliierten zusammen) beklagen müssen. Die Russen haben Stalin und ihre eigene dunkle Geschichte nicht vergessen, im Gegenteil. Gerade deshalb ist "die Bezwingung Hitlers für viele Russen die letzte (und vielleicht einzige) fraglos gute Tat, die ihr Land je vollbracht hat".

Der Economist bringt auch einen Artikel zur Kapitalismusdebatte in Deutschland und stellt am Beispiel von Daimler Chrysler und anderen vor allem die Lage des Kapitalismus in Deutschland selbst als relativ trübe dar: "Die Aktien vieler Gesellschaften werden zu Discountpreisen gehandelt, weil die Investoren den Eindruck haben, dass diese Gesellschaften schlecht geführt werden."

Weitere Artikel: Das neue China - selbst die Chinesen tun sich schwer es zu verstehen. Drei Bücher, so der Economist, wollen Licht ins Dunkel bringen, und einem gelingt dies vorzüglich, nämlich Rachel DeWoskins scharfsinnigem und warmherzigen Buch "Foreign Babes in Beijing: Behind the Scenes of a New China". Und schließlich werden wir ins MIT eingeladen, zur ersten und letzten Tagung für Zeitreisende (es braucht eben nur eine einzige Tagung, um alle Zeitreisende der vergangenen und zukünftigen Welt zu versammeln).

Im leider nicht frei zugänglichen Aufmacher, der natürlich den britischen Unterhauswahlen vom 5. Mai gewidmet ist, deutet der Economist den Wahlausgang als schmerzhafte Ohrfeige ("Ouch!") für Tony Blairs Labour-Partei und sucht nach Gründen.
Archiv: Economist

Guardian (UK), 07.05.2005

Auch der Guardian steht im Zeichen des Kriegsendes. Als Aufmacher druckt der Guardian Günter Grass' Aufsehen erregenden Text über die verschenkte Freiheit (hier das Original aus der Zeit). Und dazu Simon Armitage's Poem "May the 8th 1945".

Alle schreiben über das Ende des Zweiten Weltkriegs, nur der Schriftsteller Adam Thorpe denkt über den Ersten nach. Während Europa eine im Großen und Ganzen gemeinsame Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg habe, verlaufe die Erinnerung an den Ersten strikt entlang nationaler Grenzen. Einen Internationalismus gebe es hier nicht. "Dieser Krieg hat eine ganze Menge Bücher und Filme produziert, aber es betrifft kein anderes Land als das des jeweiligen Autors (Stanley Kubricks großartiger Film über die Exekution französischer Soldaten 'Wege zum Ruhm', bildet die Ausnahme, war aber auch für 20 Jahre in Frankreich verboten). Auch wenn Verdun - das französische Äquivalent zu Somme oder Passchendaele - jedem französischen Schulkind bekannt und tief in Frankreichs Bewusstsein verankert ist, bedeutet es jenseits des Kanals doch genauso wenig wie der erste Tag an der Somme selbst für gebildete Franzosen."

Archiv: Guardian

New Yorker (USA), 16.05.2005

Mit der beliebten Frage, ob Popkultur nun Fluch oder Segen ist, beschäftigt sich Malcolm Gladwell in seiner Besprechung der als "herrlich unterhaltsam" gelobten Studie "Everything Bad Is Good for You? von Steven Johnson (Riverhead). Ausgangsbasis ist eine zwanzig Jahre alte Studie, die anhand von IQ-Tests gezeigt habe, dass die amerikanische Bevölkerung seit den zwanziger Jahren immer klüger geworden sei - genau um "rund drei Punkte pro Dekade". Ein Teil dieses Effekts sei "zweifellos eine simple Begleiterscheinung des wirtschaftlichen Fortschritts". Aber auch weltweit lasse sich ein weiterer Anstieg der Testergebnisse beobachten, und dies nicht nur bei gut betreuten Kindern in Privatschulen. "Das Mittelfeld der Kurve - das aus Menschen besteht, die vermutlich unter einem sich verschlechternden öffentlichen Schulsystem sowie der Dauerberieselung mit miesen Fernsehprogrammen und geistloser Popmusik zu leiden hatten - wies dieselbe Steigerung auf. Was um alles in der Welt geht hier vor?" Steven Johnson weise nun nach: "Was uns klüger macht, ist genau das, von dem wir immer dachten, dass es uns dümmer macht: die Popkultur."

Weiteres: Jeffrey Toobin beschreibt das Rennen um den Posten des Obersten Staatsanwalts von Manhattan zwischen Leslie Crocker Snyder und dem "legendären", inzwischen 86-jährigen Amtsinhaber Robert Morgenthau. Andy Borowitz empfiehlt Lieblings-Streiche zur Nachahmung. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "The Room" von William Trevor.

Besprochen wird eine Biografie über das "wilde, großartige und gebrochene" Leben der Hollywood-Ikone Tallulah Bankhead. Sasha Frere-Jones porträtiert die Rockbands Mountain Goats und Hold Steady. John Lahr bespricht die Uraufführung von August Wilsons Stück "Radio Golf" ("Meisterwerk"). Und David Denby sah im Kino den französischen Film "Kings and Queen" von Arnaud Desplechin und die Komödie "Monster-in-Law" von Robert Luketic mit Jennifer Lopez und Jane Fonda.

Nur in der Printausgabe: ein Porträt des neuen Papstes und seine Bedeutung für Amerika (online ist ein Artikel von 1965 über die politischen und theologischen Implikationen des Zweiten Vatikanischen Konzils), das Porträt eines "Mumiendoktors" und Lyrik von Kurt Vonnegut, Charles Simic und Deborah Garrison.
Archiv: New Yorker

Al Ahram Weekly (Ägypten), 05.05.2005

Stand-Up-Comedy als Möglichkeit subversiver Repräsentation. Laila Saada berichtet, wie insbesondere immer mehr junge arabische Amerikaner diese Kunst nutzen, um Stereotypen arabischer Identität zu bekämpfen: Einer lässt die Blasen des Vorurteils platzen, indem er seine Zuhörer zum Lachen bringt, ein anderer nennt sich in Anlehnung an eine holzschnittartige Wrestling-Figur Iron Sheikh - die Strategie lautet in beiden Fällen Aneignung und Unterwanderung der Vorurteile: "Ahmed Ahmed betritt die Bühne (?), greift sich das Mikro, wirft einen bedrohlichen Blick ins Publikum und starrt schweigend in den Raum. Dunkles Gesicht, stechende Augen, Bart: Er scheint ein allzu vertrautes Stereotyp zu verkörpern. 'Ich bin Araber', sagte er schließlich. 'Ich bin Muslim. Ich stehe auf der FBI-Liste der meistgesuchten Verbrecher.' Er beschreibt, was man durchmachen muss, wenn man heutzutage in die USA ein- und ausreisen will, imitiert verängstigte Passagiere, panische Stewardessen und feindselige Sicherheitsbeamte. 'Es ist keine gute Zeit, um ein Ahmed im Namen zu haben', klagt er. 'Und ich hab gleich zwei ?' Der Saal wird von Lachen erfüllt, die Spannung löst sich."

"Liebe ist leicht, doch Ägypten ist ein Komplex aus vielen Dingen. Es ist hübsch und voller Bitterkeit, es ist heiteren Gemüts und deprimierend. Ich kann die Sonne in ein Wort fassen und 'Kerze' sagen, doch Ägypten kann ich nicht in ein Wort fassen und 'meine Liebe' nennen. Menschen Ägyptens, lasst mich ausreden: Sie fragten mich, ob ich Ägypten liebe. Ich sagte, ich weiß es nicht. Fragt Ägypten - sie hat die Antworten." So endet das Gedicht, mit dem der 28-jährige Lyriker Tamim Al-Barghouthi vor zwei Jahren zum Sprachrohr einer politisch sehr aktiven Generation wurde, vor allem, als er wegen seiner Teilnahme an Protesten gegen den amerikanischen Krieg im Irak verhaftet wurde. Er ist auch, schreibt Amira Howeidy, ein Politologie-Dozent an der Universität und bereits in seinem jungen Alter ein "Meister der arabischen Sprache und Geschichte", der für seine poetischen Innovationen auf uralte Formen zurückgreift. Und offenbar ist er auch jemand, der vor populistischen Statements nicht zurückschreckt: "Der Fall von Bagdad", sagte er Howeidy, "war das größte Unheil in tausend Jahren arabischer Geschichte."

Außerdem: Rania Khallaf sprach mit Mahmoud El-Wardani über dessen neuen Roman "Mousiqa Al-Maul" (Die Musik der Mall), in der das Einkaufszentrum als Austragungsort und Symbol einer ambivalenten Geschichte elementarer Unsicherheit und postmodernen Unbehagens fungiert. Mohamed El-Assyouti bilanziert das 11. Nationale Filmfestival Ägyptens und beklagt die offizielle Filmauswahl. Und Aziza Sami porträtiert den Architekten Mohamed El-Sawi und seine Vision von "spirituellem Bauen".
Archiv: Al Ahram Weekly

New York Times (USA), 08.05.2005

Elmore Leonards Bücher sind "gnadenlos effiziente Unterhaltungsmaschinen", konstatiert Charles McGrath. In Leonards neuem Roman über "The Hot Kid" Carlos Webster und seinen Aufstieg zur Ikone der Polizei entdeckt McGrath aber so etwas wie eine Ethik des Geschichtenerzählens. "Über die Jahre hat er sein an Hemingway geschultes Ideal eines klaren, einfachen und direkten, ja nahezu transparenten Stils perfektioniert, frei von auktorialen Fingerabdrücken." Nun hat der Rezensent den Eindruck, dass Leonard, der auf die achtzig zugeht, damit beginnt, "seine Berufung zu hinterfragen".

Weitere Artikel: Der wahre Zusammenprall der Kulturen ereignet sich zwischen denjenigen, die an das Unbewusste glauben, also die Religion als Illusion auffassen, und denjenigen, die es ablehnen, also den Glauben als bare Münze nehmen, meint Lee Siegel in seinem Essay zur Neuauflage von Sigmund Freuds "Unbehagen in der Kultur". Eric Foner erfährt aus den "Presidential Recordings" von Lyndon B. Johnson nicht nur viel über die Mechanismen des Regierens, sondern auch einiges über Johnsons farbige Ausdrucksweise (hier einige Beispiele). Laura Kalman empfiehlt "Becoming Justice Blackmun" ihrer Kollegin Linda Greenhouse, nicht nur ein Porträt des bekannten Richters (Nachruf), sondern eine "Horatio Alger-Geschichte der Justiz". James Salter porträtiert Frank Conroy, den langjährigen Leiter des renommierten Schriftsteller-Seminars an der Universität von Iowa, und erinnert sich wehmutsvoll an die Abende mit Conroy und seinem silbernen Martini-Shaker. Kate Zernike hat aus den Briefen des Physikers Richard Feynman mehr über den Popstar erfahren als über den Wissenschaftler.

Dan Halpern versucht im New York Times Magazine aus dem serbisch-muslimischen Regisseur Emir Kusturica schlau zu werden, der mit Ehrungen für seine Filme und mit Schmähungen für seine angebliche Nähe zu Milosevic&Co überschüttet wird. "Kusturica's impulsiver Charakter hat ihm in der Kunst mehr genützt als in der Politik: sein Markenzeichen ist eine außer Rand und Band geratene, raue Energie. Wie brutal sein Thema auch sein mag, seine Filme sind voller Freude, vorangetrieben von Screwball-Klassikern. Und immer gibt es verdammt viel Musik. Wenn es eine Szene in einem Kusturica-Film gibt, in der keine Blechbläser verwickelt sind, kommt bestimmt gleich eine. Währenddessen trotten überall Tiere herum und schleichen sich mit großer Nachdrücklichkeit in die Handlung: magische Truthähne, schwebende Fische, klauende Elefanten, plündernde Bären, eine Phalanx aus Gänsen. Ein zarter Dialog zwischen Liebenden beinhaltet wahrscheinlich einen Hund, der im Hintergrund ausdauernd ein Kissen zerfetzt. Man kann sich eine Szene, in der zwei Männer sich inmitten eines Kriegsgebiets unterhalten, fünfmal anschauen, bevor man bemerkt, dass sich einer der Männer während des Gesprächs wie nebenbei die Schuhe mit einer wild protestierenden Katze poliert."

Weiteres: Genießen wir unsere Vorstellung vom eigenen Selbst, bevor die Wissenschaft sie als Illusion entlarvt, rät Jim Holt, den die neuesten Ergebnisse der Hirnforschung beunruhigen. Melanie Thernstrom berichtet von drei Afrikanerinnen, die als Kinder verschleppt wurden, um Rebellenführern in Uganda als Ehefrau zu dienen. Im Titel informiert Susan Dominus über einen Aufstand der geschiedenen Väter, die sich für eine gerechtere Gesetzgebung zusammenschließen.
Archiv: New York Times