Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
19.12.2006. Prospect überlegt, ob Kapitalismus Demokratie braucht. In Tygodnik Powszechny behauptet der Schriftsteller Jerzy Pilch: Glückliche Menschen schreiben keine Bücher. Die Revista de Libros feiert den chilenischen Boswell Adolfo Bioy Casares. Der Economist verfrachtet FU und Humboldt-Uni in den Flughafen Tempelhof. Die Gazeta Wyborcza fürchtet, Castros Kuba könnte Pinochets Chile nacheifern. In Le Point mahnt Bernard-Henri Levy, dass mit Castro bald noch ein lateinamerikanischer Diktator straflos im Bett sterben wird. Magyar Hirlap erinnert an die von Stalin ausgelöste Hungersnot in der Ukraine. Das TLS erzählt, wie Margaret Thatcher von einem spanischen Außenminister bezirzt wurde. Die Weltwoche wird von Taliban entführt. In der New York Times denkt Peter Singer über faires Spenden nach.

Prospect (UK), 01.01.2007

Der Publizist Will Hutton und der Wirtschaftswissenschaftler Lord Meghnad Desai diskutieren die Frage, ob China tatsächlich die Zukunft gehört. Hutton bestreitet dies und verweist dabei auf "Chinas lediglich partielle Konversion zum Kapitalismus": "Kapitalismus ist viel mehr als nur das Streben nach Profit und die Freiheit, Preise festzulegen, die Chinas Reformen ermöglicht haben. Die effiziente Nutzung der Ressourcen hängt auch von einem Netzwerk unabhängiger Überprüfungs- und Rechenschaftsprozesse ab, die von Menschen aus verschiedenen Zentren der Macht abgewickelt und sowohl vom Gesetz als auch vom Privateigentum unterstützt werden. Ein demokratisches Wahlsystem ist nichts anderes als der Schlussstein einer solchen Struktur."

Desai hingegen glaubt nicht an die notwendige Bindung von Kapitalismus und Demokratie: "Es wäre schön, wenn Individualismus, Freiheit und Pluralismus die notwendige Grundlage des Kapitalismus bilden würden. Tatsächlich geht es aber auch ohne sie. Sicherlich setzt der Kapitalismus Kräfte frei, die autoritäre Regime untergraben können, doch sie tun es auf ungleichmäßige und keineswegs zwangsläufige Art und Weise."
Archiv: Prospect

Tygodnik Powszechny (Polen), 17.12.2006

Der polnische Schriftsteller Jerzy Pilch verrät im Interview mit Andrzej Franaszek etwas über seine Gründe zum Schreiben: "Schreiben ist wie eine Therapie. Wenn mehrere Stunden schreiben am Tag zu deiner beruflichen Pflicht wird, wird die Welt, die aus deinen Worten entsteht, realer als die wirkliche Welt. Sie gibt dir innere Ruhe und große Sicherheit. Grundsätzlich denke ich, dass glückliche Menschen keine Bücher schreiben."

Außerdem: Der Film "Workingmen's death" des Österreichers Michael Glawogger bewegte Jakub und Maciej Wisniewski dazu, sich intensiver mit dem Phänomen Arbeit in globaler Perspektive zu beschäftigen. Das Fazit der Ausführungen: "Was wir sehen, ist nicht das Ende der Arbeit als solche, sondern das Ende der Arbeit, wie wir sie kennen. Sie wird sich den Wandlungen des Kapitalismus anpassen müssen, wie sie es stets getan hat. Nach Mark Twain kann man sagen: die Kunde vom Tod des Arbeiters ist übertrieben."

Spectator (UK), 18.12.2006

Dass sich die Anzahl an verliehenen Preisen in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt hat, kann Boris Johnson nur zu gut verstehen. Denn alle profitieren von dem Rummel. "Jede Branche hat mindestens ein Magazin, und die Unternehmen erwarten von ihm die fröhliche Vertretung ihrer Interessen. Deshalb veranstaltet das Magazin - und es gibt Hunderte von ihnen, von PR Week to New Civil Engineer - eine Preisverleihung, um die Moral zu heben, das Korpsgefühl zu stärken und sich selbst zu feiern. Jedes Jahr wächst das Ansehen, die Aufregung steigt, das Geld fließt üppiger. Das Magazin bucht ein Hotel, und natürlich spendiert das Haus gerne das Abendessen, bis zu 1.800 Portionen - das Limit im Grosvenor House. Ein Handel wird ausgemacht. Das Magazin lädt diverse Industrievertreter in die unterschiedlichen Preisklassen ein, und bis zu tausend Firmen zahlen anstandslos die 150 bis 200 Pfund Antrittsgebühr, weil ihre Augen schon glänzen beim Gedanken an den siebeneckigen Plastikklumpen, den es zu gewinnen gilt."

Rachel Johnson probiert Schuhe mit Masai Barfuß-Technik aus, die sie zwar hässlich findet, die aber immerhin die Füße von Emma Freud, Jemima Khan oder Cherie Blair verunstalten. "Nachdem man sich durch die Liste von Verbesserungen gearbeitet hat, die dieses plumpe Schuhwerk einem auf magische Weise ohne Operation oder Fitness-Studiobesuch beschert, würde man auch jedem glauben, der MBTs als Antwort auf den Klimawandel, die globale Erwärmung und den Frieden im Nahen Osten rühmt."
Archiv: Spectator
Stichwörter: Geld, Johnson, Boris, Klimawandel, Emma

Revista de Libros (Chile), 17.12.2006

Alvaro Bisama stellt fest, dass die chilenische Literatur sich ihres größten Dämons noch längst nicht bemächtigt hat: "Bis heute ist Augusto Pinochet das unbewältigte Ungeheuer des chilenischen Romans. Natürlich gibt es einige Romane, in denen er auftaucht, aber selbst in den besten - 'Casa de Campo' von Jose Donoso, 'Nocturno de Chile' von Roberto Bolano (erscheint auf Deutsch im Februar 2007) - bleibt er eine Randfigur, nirgends steht er im Zentrum der Erzählung. Es ist genau wie bei Franco, den Pinochet bewunderte: Niemand war imstande, von ihm zu erzählen, keiner brachte den Mut dazu auf."

Rafael Gumucio ist hingerissen von Adolfo Bioy Casares' soeben posthum erschienener 1600 Seiten starker Biografie seines Busenfreundes Jorge Luis Borges: "Ein monströses, erschöpfendes, absurdes, aber irgendwie auch heroisches und unglaublich befreiendes Buch. Denn darin tummeln sich die beiden unbekümmert wie zwei riesige vergnügte Kindsköpfe. Vorbild war ganz offensichtlich James Boswells 'Life of Johnson'. Darüber, dass Boswell - wie Bioy weiß - gemeinhin als der größte Narr der englischen Literatur betrachtet wird, dürfte Bioy sich durch die Tatsache hinwegtrösten, dass Johnsons Werk - seinerzeit bewundert als Gipfel angelsächsischer Intelligenz - heute vor allem in Boswells Biografie fortlebt."

Figaro (Frankreich), 16.12.2006

In einem Kommentar ärgert sich Francois Simon, Restaurantkritiker des Figaro, angesichts der Internationalität etwa der Slow Food-Bewegung über die Arroganz und Selbstbezüglichkeit der Franzosen, was ihre Essgewohnheiten angeht. "Auf dem Gastronomiesektor herrscht hierzulande eine derartige Selbstzufriedenheit, dass die gesamte Welt von unserer Selbstbeweihräucherung ausgeschlossen scheint. Einträchtig quittiert unser Land bolivianische Nüsse oder die argentinische Yakon-Wurzel mit einem verächtlichen Seufzer des Desinteresses. Mit köstlich altmodischer Großmäuligkeit fordern wir in unserem lieblichen Land die ganze Welt heraus. Ja, wir waren einmal Weltmeister der Gastronomie. Wir haben uns auf unseren Lorbeeren ausgeruht. Und in der Zwischenzeit sind der Welt die Augen aufgegangen. Nachdem sie uns bewundert hat, hat sie sich an die Arbeit gemacht. Heute kann man auf der ganzen Welt göttlich speisen."
Archiv: Figaro
Stichwörter: Gastronomie, Slow Food

Economist (UK), 18.12.2006

Ein Jahr nach seinem Amtsantritt als Präsident hat John Roberts dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten schon merklich seinen Stempel aufgedrückt, und dieser Stempel lautet "Bescheidenheit", meint der Economist. "Bescheidenheit ist das Kernstück von John Roberts' Rechtsphilosophie und bedeutet in erster Linie das Gegenteil eines 'juristischen Aktivismus'. Roberts glaubt fest daran, dass Richter sich darauf beschränken sollten, die Gesetze auszulegen, statt gesellschaftliche Probleme lösen zu wollen."

Weitere Artikel: Über Licht und Schatten im Leben und Wirken von Ariel Sharon geben zwei neuere Biografien Auskunft (Uri Dans "Ariel Sharon: An Intimate Portrait" sowie Nir Hefez' und Gadi Blooms "Ariel Sharon: A Life"), doch halten sich beide nach Ansicht des Economist zu sehr in ihrem Urteil zurück. Geradezu ins Schwärmen gerät er über Michael Bloombergs jüngst bekannt gegebene Visionen für ein "zukunftsfähiges" New York, in dem 2030 neun Millionen Einwohner nur zehn Minuten bis zum nächsten Park gehen müssen. Es ist wirklich süß vom Economist, dass er Begeisterung auch für eine Berliner Planung entwickelt, die zwei finanzielle Kernprobleme der deutschen Hauptstadt mit einer Klappe schlagen soll: Der Flughafen Tempelhof als Sitz einer mit der Freien Universität fusionierten Humboldt-Universität. (Könnten wir da nicht auch noch die drei Opern unterbringen?) Und schließlich: Der Nachruf auf Chiles Ex-Diktator Augusto Pinochet gerät zum Porträt eines glanzlosen und biederen Schurken.
Archiv: Economist

Gazeta Wyborcza (Polen), 16.12.2006

Der Träger des Sacharow-Preises und Anführer der weißrussischen Opposition Alexander Milinkiewitsch spricht im Interview über die Folgen der Proteste nach den gefälschten Wahlen im Frühjahr und die weitere Vorgehensweise: "Eine zweite Orange Revolution ist in dieser Diktatur nicht denkbar. Aber die Menschen haben gesehen, dass man kämpfen muss. Wir werden sie auf die Straße bringen, weil nur Demonstrationen Präsident Lukaschenko zum Nachgeben zwingen können. Aber noch wissen wir nicht, wann das passieren wird. Wir arbeiten an den Bürgern und helfen ihnen, die Angst aus den Köpfen zu bekommen."

In einem lesenswerten Essay blickt der Reporter Artur Domoslawski auf Lateinamerika nach dem Tode Pinochets und denkt über den Einfluss nach, den der chilenische Diktator noch immer hat. "Sein Rezept, brutale Repressionen und neoliberale Wirtschaftsreformen, hat viele Nachahmer gefunden, die mit mehr oder weniger Geschick agiert haben. Das Erbe dieses Phänomens belastete Südamerika in den neunziger Jahren und führte zu der Gegenbewegung der letzten Zeit, mit den Siegen Chavez', Lulas, Morales und anderer. Das einzige Land, das in den Achtzigern einen anderen Weg ging, war Kuba. Fidel Castro wurde für viele Rebellen auf dem Kontinent ein Symbol. In der realen Politik aber hat er verloren - die neuen, linken Bewegungen haben die kubanischen Methoden verworfen und gehen einen neuen Weg. Ironie der Geschichte ist, dass Castros Nachfolger dem Modell Pinochets nacheifern könnten: rauher Kapitalismus plus Autoritarismus."
Archiv: Gazeta Wyborcza

Point (Frankreich), 14.12.2006

In seinen Bloc notes beklagt Bernard-Henri Levy, es sei eine Schande für Chile und die ganze Welt, dass Pinochet straffrei in seinem Bett sterben konnte. Aber es gebe noch einen zweiten Diktator, der, im Gegensatz zu Pinochet, bisher noch nicht einmal Gegenstand des Versuchs einer Anklage geworden sei: Fidel Castro. Levy schreibt: "Auf, Kameraden und Freunde! Ein bisschen Zusammenhalt! Noch einmal anstrengen bitte, um sich als wahre Demokraten und Republikaner zu erweisen! Es bleibt euch, uns, nur sehr wenig Zeit, um im Namen aller Folteropfer sämtlicher süd- und mittelamerikanischen Diktaturen zu wünschen, dass Fidel Castro für die gleichen Verbrechen wie die von Pinochet einstehen möge."

Vorgestellt wird außerdem ein Band mit von Elisabeth Levy moderierten Gesprächen zwischen dem Philosophen Alain Finkielkraut und dem ehemaligen Präsidenten von Medecins sans frontieres Rony Brauman: "La discorde : Israel-Palestine, les juifs, la France" (Mille et Une Nuits).
Archiv: Point

Foglio (Italien), 16.12.2006

Jeder Journalist wirbt für irgendetwas, schreibt Giampiero Mughini, der vom Presserat in Lazio für seinen Auftritt in einer Handywerbung gerügt wurde. "Ich rede etwa von dem sehr sympathischen Carlo Rossella, ein großartiger Journalist, den ich seit 30 Jahren kenne und über den ich einen Roman schreiben würde, wenn ich die Disziplin dafür hätte. Er ist die perfekte Inkarnation der Mischung aus großem journalistischen (und literarischen) Talent und absolut keinem ethischen Rückgrat. In seinen Journalen ist die Produktplatzierung eine Konstante, eine ständige Versuchungsanordnung zur Unmöglichkeit, Nein zu sagen."

Alle Spionage- und Agentengeschichten der Gegenwart hat Shakespeare in "Hamlet" schon erzählt, winkt Siegmund Ginzberg ab (erst hier und dann hier). "Es gibt sogar Polonium. Die Giftmörder enden so böse wie ihre Opfer, dahingerafft von ihrem eigenen Gift. Ab einem gewissen Punkt verliert man die Übersicht, wer nun wen ermorden will, auf wessen Rechnung und um wen zu rächen."

Weitere Artikel: Gabriella Mecucci besichtigt das "Haus der ersten Republik", einen sechsstöckigen Palazzo in der römischen Via Cristoforo Colombo, wo unter anderem Pietro Nenni, Antonio Giolitti und Ugo La Malfa wohnten. Und Ugo Bertone stellt den in Italien lebenden, in Frankreich geborenen und Polnisch sprechenden Finanzmagnaten Romain Zaleski vor.
Archiv: Foglio

Guardian (UK), 16.12.2006

Der Dichter Simon Armitage erzählt von einem Abenteuer: wie er beschloss, das um 1400 entstandene Epos "Sir Gawain and the Green Knight" neu zu übersetzen (Das Zitat "Forthi, iwysse, bi zowre wylle, wende me bihoues" mag die Notwendigkeit hinreichend erläutern). Zuerst galt es, schwitzend in Boots und Parka, die Hürde der British Library zu nehmen. "Die Frau am Schalter scheint hin- und hergerissen zu sein, ob sie mich nun ernst nehmen oder ihrer Hand in Richtung Panikknopf bewegen soll. Ich bin im Lesesaal der British Library und habe gerade gefragt, ob ich das Originalmanuskript von 'Sir Gawain and the Green Knight' sehen dürfte. Hinter mir haben die paar Dutzend Leser, die sich über antike Karten und Dokumente beugen, meine unerhörte Anfrage mitbekommen und schauen mich über ihre Brillengläser hinweg an. Die Frau sagt: 'Sie wissen, dass das eines unserer wertvollsten Stücke ist? (...) Es gibt kaum Bilder darin.'" Inzwischen ist seine Übersetzung bei Faber & Faber erschienen, am 21. Dezember liest Sir Ian McKellen die Übersetzung auf BBC Radio 4.
Archiv: Guardian

Magyar Hirlap (Ungarn), 16.12.2006

Auf Stalins Betreiben wurde 1931-33 eine künstliche Hungersnot in der Ukraine ausgelöst. Historiker schätzen, dass damals Millionen Menschen starben. Vor einigen Tagen hat das ukrainische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das die künstliche Hungersnot von 1931-33 zum Völkermord erklärt und seine Leugnung strafbar macht. In Russland wird das Thema weiterhin totgeschwiegen, was den ungarischen Historiker Miklos Kun an die Versuche, die Gulags und den Holocaust zu relativieren, erinnert. "Während in ukrainischen Dörfern die verzweifelten, vor Hunger irre gewordenen Menschen die grünen Zweige der Bäume aßen, wurde ukrainisches Lebensmittel auf Stalins Befehl in anderen sowjetischen Republiken im Rahmen des sogenannten 'sowjetischen Dumpings' zum günstigen Preis verkauft ... Bei seiner Reise durch die Sowjetunion erklärte G. B. Shaw gegenüber der Presse in Moskau, dass er noch nie so gut gegessen habe, wie während der 'angeblichen' Hungersnot in der Ukraine. Die KP hat dem weltberühmten Dramatiker bestimmt ein üppiges Abendessen in Kiew spendiert, aber er konnte doch mit seinen eigenen Augen sehen, wie ukrainische Bauer auf der Straße an Hunger sterben."
Archiv: Magyar Hirlap
Stichwörter: Gulag, Stalin, Josef, Kp

Times Literary Supplement (UK), 15.12.2006

Als größten Polemiker unserer Zeit preist Richard Wilson den Guardian-Kommentator Simon Jenkins, dessen neues Buch "Thatcher & Sons: A revolution in three acts" Wilson so großartig findet, dass er ihm einfach nicht zu glauben traut. Zum einen sind ihm die Fakten über den Thatcherismus der Labourparty zu deprimierend: "1995 gabe die britische Regierung 300 Millionen Pfund für Managementberater aus, 2003 waren es 1,7 Milliarden, ein Jahr später 2,5 Milliarden." Die Anekdoten über Margaret Thatcher dagegen sind zu schön: "Ich mag vor allem die über den spanischen Außenminister, der zu Thatcher gesagt haben soll: 'Mir wurde von ihrer außerordentlichen Intelligenz berichtet, Madam, aber niemand hat mich vor ihrer Schönheit gewarnt.' Douglas Hurd dachte, sie würde explodieren, aber von wegen: Jahrelang fragte sie jeden Spanier, den sie traf: 'Was ist eigentlich aus ihrem charmanten Außenminister geworden?'."

George Steiner erklärt sich zwar in Bezug auf Georg Büchner für etwas befangen - sein Urgroßonkel, der Publizist Karl Emil Franzos, hatte Büchners Schriften 1878 zu publizieren begonnen - muss aber angesichts der Ausgabe der "Dichtungen, Schriften, Briefe und Dokumente" im Klassikerverlag feststellen: Der Mann war ein Genie. Nach Lektüre mehrerer Neuerscheinungen zum Thema konstatiert Alastair Sooke: "Satan ist wieder en vogue." Und Jon Barnes stellt David Standishs Kulturgeschichte der Täuschung "Hollow Earth" vor.

Espresso (Italien), 21.12.2006

Der allzeit bestens informierte Umberto Eco meint, dass mittlerweile wirklich niemand mehr auf die Zeitung wartet, um Neuigkeiten zu erfahren. "Vor einigen Jahren rief mich ein befreundeter Journalist um sechs Uhr abends an und erzählte mir, dass Craxi gestorben war. Gleich danach hat mich aus anderen Gründen meine Sekretärin angerufen, und ich teilte ihr die Neuigkeit gleich mit. Sie wusste es schon, irgendjemand hatte es ihr per Handy mitgeteilt. Ich rief meine Frau an: sie wusste es ebenfalls schon, man hatte sie angerufen, bevor im Fernsehen darüber berichtet wurde. Jetzt sagen Sie mir, wozu man noch eine Tageszeitung braucht. Eine Zeitung ist dazu da, Fakten mit Meinungen zu verbinden."
Archiv: Espresso
Stichwörter: Eco, Umberto

Nepszabadsag (Ungarn), 14.12.2006

Judit Kosa übt scharfe Kritik an jüngsten Versuchen, Ungarns Geschichte zu verklären. Anlass sind Gabor Koltays Dokumentarfilm über den autoritären "Reichsverweser Miklos Horthy", der bis 1944 ungarisches Staatsoberhaupt war (mehr über den historischen Kontext hier), sowie György Moldovas Monografie (mehr hier) des ungarischen KP-Chefs Janos Kadar: "Beide versuchen, bedeutende Epochen des 20. Jahrhunderts, komplexe politische Systeme, extrem zu vereinfachen, als ob sie mit kleinen Kindern redeten. Beide zeigen Kadar und Horthy unabhängig von den Ergebnissen der Geschichtsschreibung. Kadar wird in zwei dicken Bänden als gerechter Führer seines Volkes, als puritanischer Kleinbürger, als Opfer der Geschichte inszeniert. Auch der Film über den Reichsverweser Horthy hat Überlänge und stilisiert ihn zum Retter der ungarischen Nation, als Familienvater vornehmer Gesinnung und als letzte Zuflucht der vom Holocaust bedrohten ungarischen Juden. Beide Bilder sind zum Entsetzen und Verzweifeln falsch. Sie dienen lediglich dazu, die Ansichten der Autoren zur politischen Situation Ungarns heute publik zu machen."

Nach den Krawallen haben ungarische Intellektuelle den parteipolitischen Zank und die strikte Teilung Ungarns in zwei politische Lager satt. Neue Bürgerinitiativen wie 'Ich liebe Ungarn' setzen sich für einen parteiübergreifenden zivilen Dialog ein, berichtet Zsolt Greczy. Dafür ist ihnen jedes Mittel recht! Hier geht es zu einem Videoclip, in dem viele bekannte ungarische Musiker einen Song über Ungarn, das Land "der friedlichen Mehrheit" singen.
Archiv: Nepszabadsag

Weltwoche (Schweiz), 14.12.2006

Urs Gehriger und Sami Yousafzai protokollieren ebenso nüchtern wie fesselnd, wie sie in Afghanistan von Taliban entführt wurden: "Der Alte, der uns zuerst wie ein Retter erschienen ist, befiehlt seinen Leuten, unsere Taschen zu leeren. Pässe, Geldbörsen, mehrere hundert Dollar, Digitalkamera, sogar meine Brille, alles wird uns entrissen und auf einen Haufen in den Sand geworfen. Dann schreitet der Alte auf uns zu, zielt mit dem Gewehr auf uns und befiehlt: 'Niederknien, in einer Reihe!' Bis zu diesem Zeitpunkt hat mich die Hoffnung nie verlassen. Doch jetzt lassen die inneren Kräfte nach. So sinnlos kann ein Leben nicht enden, versuche ich mir verzweifelt einzureden. Dabei weiß ich, dass Entführungsfälle oft genauso banal und tragisch verlaufen."

Bisher hat sich noch fast jede Prognose als falsch erwiesen, und die wirklich umwälzenden Ereignisse hat niemand vorhergesehen, bilanziert Michael Miersch die Geschichte der Prophezeiungen: Weder den Siegeszug der Pille noch des Autos hat jemand geahnt: "'Die Computer der Zukunft werden vielleicht nur noch 1,5 Tonnen wiegen', spekulierte die amerikanische Zeitschrift Popular Mechanics 1949. Der damalige IBM-Chef prognostizierte: 'Ich glaube, es gibt einen weltweiten Bedarf von vielleicht fünf Computern.' '640 K', davon war Bill Gates noch 1981 überzeugt, 'sind genug für jeden.' Und im Jahr 2001 schrieb die deutsche Tageszeitung Die Welt: 'Das Internet wird kein Massenmedium, weil es in seiner Seele keines ist.'"
Archiv: Weltwoche

Przekroj (Polen), 14.12.2006

Mit großer Beunruhigung registriert Igor T. Miecik den Wiederaufbau des russischen Imperiums unter Putin. Durch die politischen Morde der letzten Zeit, die immer stärkere Einschränkung der nach 1991 erkämpften Bürger- und Menschenrechte, die Machtspiele der ehemaligen KGB-Agenten im Kreml und die immer rigidere Kontrolle des Wirtschaftslebens, besonders im strategisch erachteten Energiesektor, "hat auch Europa keine Zweifel mehr: Russland kleidet sich in die Gewänder eines Imperators und wird zum Energiehegemon. Die Frage, welche Verbündeten dem Land in so einem Spiel noch bleiben, beantwortete der einflussreiche Vizepremier Sergej Iwanow: Schon Zar Alexander III. sagte - Russland hat zwei Freunde: die Armee und die Flotte." Noch unterstütze die Bevölkerung Putins Politik, aber wie Janajews Putsch 1991 gezeigt habe, nützen selbst die besten Waffen nichts mehr, wenn die Bürger die Gefolgschaft verweigern. "Für die nächsten Jahre kann so ein Erwachen der russischen Gesellschaft aber nicht erwartet werden", prophezeit ein düsterer Miecik.

Vorige Woche beging man in Polen den 25. Jahrestag der Ausrufung des Kriegsrechts durch General Jaruzelski. Aus diesem Anlass erinnert Cezary Lazarewicz an die Geschichte des wohl bekanntesten Fotos aus dieser Zeit. "Am 31. August 1982 rief die im Untergrund agierende Solidarnosc zu Demonstrationen anlässlich des zweiten Jahrestag ihrer Anerkennung auf. In Folge einer brutalen Polizeiaktion starben im niederschlesischen Lubin drei Demonstranten. Aber nur der Tod des 28-jährigen Michal Adamowicz ging in Bildern um die Welt und wurde zum Symbol der Repression der Kommunisten". Erst seit 1992 ist der Fotograf Krzysztof Raczkowiak namentlich bekannt. Die Todesschützen wurden nie gefunden.
Archiv: Przekroj

al-Sharq al-Awsat (Saudi Arabien / Vereinigtes Königreich), 13.12.2006

Abu Dhabi boomt - nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell. Zwei Artikel räumen mit einem gängigen Klischee auf: Statt als kulturloser Einöde, in der sich alles um Öl und Geld dreht, beschreiben sie das Emirat am Golf als regionales Zentrum einer kulturellen Blüte. Salman Dusri fasst das Problem zusammen, mit dem sich die Kulturpolitik des Staates konfrontiert sieht: "Wie kann ein Land seine kulturelle Identität bewahren, während es gleichzeitig versucht, mit aller Macht vom ökonomischen Aufschwung zu profitieren?" Die Lösung: Finanzierung von kulturellen Aktivitäten jeder Art, die sich vor allem an die breitere Bevölkerung richten.

Ausländische Hilfe ist dabei offenbar willkommen. So berichtet Muhammad al-Mazdiwi von der Eröffnung eines Außencampus der renommierten Pariser Universität Sorbonne in Abu Dhabi. Die Einrichtung eines Guggenheim-Museums ist bereits beschlossen (mehr hier), über eine Filiale des Louvre wird gegenwärtig noch verhandelt (mehr hier). Nicht ohne Genugtuung beobachtet Mazdiwi, mit welchem Selbstbewusstsein die arabischen Unterhändler dabei gegenüber den Franzosen auftreten. Er zitiert ein Mitglied der französischen Delegation mit den Worten: "Wenn wir nicht schnell mit ihnen zu einer Einigung kommen, dann werden andere große Museen, vor allem Sankt Petersburgs Eremitage, zur Stelle sein, um ein ähnliches Projekt anzugehen."

Elet es Irodalom (Ungarn), 15.12.2006

Wohltätigkeit, ehrenamtliches Engagement und weitere Zeichen von gesellschaftlichem Zusammenhalt gibt es zwar in Ungarn, werden aber von der Gesellschaft nicht gewürdigt, klagt der Autor Peter Esterhazy: "Von der Politik aus gesehen: die Linke, beziehungsweise die ungarische Parodie der Linken, zeigt eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber Traditionen: Die Vergangenheit sollte überwunden werden, immer nach vorne schauen, vor Angst erstarrt 'Fortschritt' als Zauberwort murmeln. Die Rechte, beziehungsweise die Parodie der Rechten, belügt sich selbst, wenn sie meint, dass es keine Probleme mit der Vergangenheit gebe: Wir - und nur wir - seien ihre glorreichen Besitzer, alles wäre in Ordnung, wenn die Linke nicht ständig dagegen anstinken würde. Verantwortung können wir nur alle gemeinsam übernehmen, aber mit dem Gemeinsamen haben wir in der Neuzeit fast nur schlechte Erfahrungen gemacht."

Verleger aufgepasst! Der Schriftsteller Miklos Vamos feiert Ernö Szep, einen der bekanntesten ungarischen Schriftsteller der Vorkriegszeit, der 1919 durch den Liebesroman "Lila Akazien" bekannt wurde, dessen Feuilletons und Chansons zu den wichtigsten Zeitdokumenten und dessen "Drei Wochen in 1944" zu den schockierendsten Berichten über den Holocaust gehören. "Als Holocaust-Überlebender stellte er sich nach dem Zweiten Weltkrieg immer so vor: 'Ich war einmal Ernö Szep.' Nach zeitgenössischen Darstellungen wirkte er wie ein kleiner Junge, als er nach zwei Weltkriegen Abschied von sich selbst nahm." (Hier und hier zwei feuilletonistische Texte von Ernö Szep in deutscher Übersetzung)

New York Times (USA), 17.12.2006

Wieviel sollte ein Milliardär spenden - und wieviel Sie? Unter dieser Überschrift prüft der Bioethiker Peter Singer im Magazin der New York Times, unter welchen Kriterien eine Spende als gerecht angesehen werden kann. Hätten Bill Gates und Warren Buffett nicht locker mehr als zusammen rund 60 Milliarden Dollar stiften können? Immerhin hatten sie dabei keine Hintergedanken, im Gegensatz zu Mutter Teresa. "Interessanterweise wurden weder Gates noch Buffett durch die Vorstellung motiviert, im Himmel für ihre guten Taten auf Erden belohnt zu werden. 'Ich kann an einem Sonntag morgen einiges mehr tun' als in die Kirche zu gehen, sagte Gates einem Times-Reporter... In einem Land, in dem 96 Prozent der Bevölkerung sagen, sie glaubten an eine höhere Macht, ist das eine bemerkenswerte Aussage. Es bedeutet, dass Gates und Buffett wahrscheinlich weniger selbstsüchtig in ihrer Wohltätigkeit sind als Mutter Teresa, die als gläubige Katholikin an Belohnung und Strafe im Jenseits glaubte."

Außerdem: Zev Chafets besucht eine Prediger-Familie, die New Yorks Finanzwelt den Teufel austreiben will. Im Interview mit Deborah Solomon erklärt der Mitbegründer der Zagat-Restaurantführer, Tim Zagat, wie industriell hergestellte Fette unser Leben verändern. Und Tom Mueller stellt einen Mann vor, der Psychogramme von Kunsträubern erstellt und selber ein Auge auf Berninis Ludovica-Statue hat.
Archiv: New York Times