Magazinrundschau

Der Wert absoluter Freiheit

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Freitag Mittag
02.05.2014. In Wired besucht Gideon Lewis-Kraus die nervenzehrende Welt der Start-Ups. In HVG möchte der Jazzgitarrist Ferenc Snétberger keineswegs als "Vorzeigezigeuner" tituliert werden. Der New Yorker folgt dem mexikanischen Drogenboss El Chapo in seinen stillen Ruhestand hinter Gittern. Rue 89 spielt die saitenlose Harfe. Und die New York Times informiert uns, dass wir demnächst von unseren Haustieren verklagt werden könnten.

Wired (USA), 01.05.2014

Umwerfend ist Gideon Lewis-Kraus große Wired-Reportage aus der fremden Welt der Start-ups im Silicon Valley. Dafür mietete er sich im Hacker House, einer Schlafstation für aufstrebende Hacker ein. Sie geben ihre Zeit, ihre Jugend, ihren Verstand - aber wofür genau? "Eines Nachts ging ich mit einer Gruppe von Gründern aus verschiedenen Start Ups einen trinken, dabei waren eine Videochat App, eine Dating App, zwei Ernährungs-Apps, einer, der was mit Drohnen zu tun hat, und eine App, die uns helfen wollte, besser miteinander zu kommunizieren. Um halb elf kam die Kellnerin und fragte, ob wir eine zweite Runde wollen. Ich bestellte noch einen Whisky, aber alle anderen guckten mit verhohlener Angst in ihre Smartphones."
Archiv: Wired

HVG (Ungarn), 16.04.2014

In Ungarn wurde jüngst der Jazzgitarrist Ferenc Snétberger mit dem Kossuth-Preis, dem höchsten staatlichen Preis für Künstler, ausgezeichnet. Im Gespräch mit János Dobszay und Zoltán Kelemen berichtet Snétberger, der mit seiner Frau in Deutschland lebt, über sein Engagement als "Reisebotschafter der Sinti und Roma": "Beim Verein Sinti-Allianz wurde mir klar, dass einige schon seit Jahrzehnten gegen Rassismus und Diskriminierung kämpfen. Ausdrücke wie "Vorzeigezigeuner" oder "Dekorationszigeuner" mag ich überhaupt nicht. Es ging darum, dass jeder sein Gesicht zeigen kann. Wenn dafür gekämpft werden muss, dann tue ich das gerne. Es wäre gut, wenn das immer mehr Menschen tun würden, auch in Ungarn."

Hier ist Snétbergers brasilianisch inspiriertes Stück "Buké, az élet show" zu hören:


Archiv: HVG

New Yorker (USA), 05.05.2014

Patrick Radden Keefe folgt dem Haken schlagenden Boss des mexikanischen Sinaloa-Kartells, Joaquín Guzmán Loera, bekannt als El Chapo, bis zu dessen Verhaftung am 22. Februar 2014. Aber was heißt hier "Verhaftung": "Einige behaupten, Guzmán habe das alles so gewollt. Er ahnte, dass seine Zeit gekommen war und entschied sich für den stillen Ruhestand hinter Gittern. Ein Nebenprodukt der Korruption in Mexiko ist der Zynismus, den jede offizielle, von der Regierung ausgegebene Geschichte sogleich hervorruft. In ihrem Buch "Narcoland" behauptet die mutige Journalistin Anabel Hernández, Guzmáns Einfluss sei so stark und das politische System Mexikos so verrottet gewesen, dass die ganze Chapo-Geschichte eine einzige Farce sein könnte. Guzmán wurde in Puente Grande inhaftiert, doch in Wirklichkeit war er der Chef dort, seine Flucht eine abgekartete Sache zwischen ihm und Vicente Fox persönlich (Fox hat das heftig bestritten). Guzmán war ein Jahr auf der Flucht, aber jeder wusste, wo er sich aufhielt, und die Behörden logen, als sie behaupteten, sie könnten ihn nicht erwischen. Hernández" Buch verkaufte sich mehr als 100.000 Mal in Mexiko. Mit ihrem Hang zum Konspirativen und ihrem bitter-wissenden Ton traf sie ins Schwarze. Keine Überraschung also, wenn viele meinen, dass auch Guzmáns Ergreifung in Mazatlán nichts als ein theatralischer Akt war, vom Drogenkönig selbst inszeniert."

Weitere Artikel: Judith Thurman porträtiert den amerikanischen Modedesigner Charles James, dem das Metropolitan Museum of Art ab 8. Mai eine Ausstellung widmet. Und Hilton Als bewundert am Broadway Michelle Williams als Sally (in "Cabaret").
Archiv: New Yorker

Rue89 (Frankreich), 27.04.2014

Yohav Oremiatzki stellt sechs neue Instrumente vor, darunter das Karlax, die Baumgitarre und die saitenlose Harfe (Bild), aber auch eine App, die Alltagsgeräusche in Musik verwandeln kann. Während das Karlax aussieht wie eine Mischung aus Klarinette und Laserpistole und den Datenaustausch zwischen verschiedenen elektronischen Geräten erlaubt, hat die saitenlose Harfe ihre traditionelle Form zwar behalten, ist aber eine Art Bewegungsmelder: "Die Harfe ist mit einer 3D-Kamera verbunden. Sie funktioniert wie eine Webcam, aber es wurden Infrarot-Sensoren hinzugefügt, um die Position der Daumen zu orten, wie bei den Spielkonsolen. Das Sichtfeld der Kamera ist eingeschränkt, man hat nur die Töne von zehn Saiten. Fügt man ihr eines Tages jedoch Kameras auf die Gesamtharfe hinzu, ist man in der Lage, den Klang sämtlicher Saiten wiederzugeben." Hier ein kurzer Eindruck.
Archiv: Rue89
Stichwörter: Musikinstrumente, Rue89, Harfe

New Republic (USA), 21.04.2014

Gerade sind Vladimir Nabokovs Vorlesungen über russische Literatur auf Deutsch erschienen. Als Ergänzung empfehlen wir in The New Republic diese Originalvorlesung von Nabokov vom 4. August 1941 über die schlimmsten Sünden, die man beim Übersetzen russischer Erzählungen begehen kann. Hier der Anfang: "Three grades of evil can be discerned in the queer world of verbal transmigration. The first, and lesser one, comprises obvious errors due to ignorance or misguided knowledge. This is mere human frailty and thus excusable. The next step to Hell is taken by the translator who intentionally skips words or passages that he does not bother to understand or that might seem obscure or obscene to vaguely imagined readers; he accepts the blank look that his dictionary gives him without any qualms; or subjects scholarship to primness: he is as ready to know less than the author as he is to think he knows better. The third, and worst, degree of turpitude is reached when a masterpiece is planished and patted into such a shape, vilely beautified in such a fashion as to conform to the notions and prejudices of a given public. This is a crime, to be punished by the stocks as plagiarists were in the shoebuckle days."
Archiv: New Republic

ADN cultura (Argentinien), 11.04.2014

An einem sehr speziellen, aber umso eindrücklicheren Beispiel illustriert die Historikerin María Oliveira-Cézar den gnadenlosen Zynismus der Geschichte des Holocaust: "Am 26. Januar 1944 sah sich der kurz zuvor durch einen Putsch an die Macht gelangte und dem Faschismus nahestehende General Pedro Pablo Ramírez durch äußere Umstände gezwungen, die bisherige Neutralität Argentiniens aufzugeben. Nur einen Tag nachdem er widerwillig alle diplomatischen Beziehungen zu Deutschland abgebrochen hatte, ordnete Adolf Eichmann von Berlin aus telegrafisch die sofortige Verhaftung aller im besetzten Frankreich lebenden argentinischen Juden an, die bis dahin, eben weil sie die argentinische Staatsbürgerschaft besaßen, zumindest von den Deportationen ausgenommen worden waren. Die deutschen Beamten vor Ort deportierten daraufhin, ohne Wissen der argentinischen Botschaft, einen Teil der Verhafteten, während sie den Rest, um sich für alle Fälle weiterhin die guten Beziehungen zu den Argentiniern zu sichern, retteten, indem sie ihn offiziell der Fondation Rothschild übergaben. Der einzige, armselige Trost für die Deportierten besteht darin, dass sie sich nicht einmal im Traum hätten ausmalen können, dass der unmittelbar für ihr Martyrium Verantwortliche später ausgerechnet in ihrem Heimatland Zuflucht finden sollte."
Archiv: ADN cultura

New York Review of Books (USA), 08.05.2014

In der New York Review of Books liest die Historikerin Anka Muhlstein bewegt Georges Prochniks Buch "The Impossible Exile" über Stefan Zweigs letzten Jahre. Und sie versteht, wie den Autor trotz anhaltenden Erfolgs der Mut verließ, bis er sich 1942 zusammen mit seiner Frau das Leben nahm: "Ein Weg, Stefan Zweig zu verstehen, ist der Gegensatz zu Thomas Mann, der ungefähr zur selben Zeit in die USA kam und dabei kraftvoll erklärte, dass er das bessere Deutschland repräsentiere: "Wo ich bin, ist Deutschland. Ich trage meine deutsche Kultur in mir. Ich lebe im Kontakt mit der Welt und ich betrachte mich selbst nicht als gefallenen Menschen." Zweig fehlte es an derlei Selbstvertrauen, er beklagte, dass sich mit der Emigration auch das eigene Gravitationszentrum verlagert." Der Hauptunterschied zwischen beiden Männern bestand darin, dass Mann zum deutschen Großbürgertum gehörte, seine Wurzeln reichten über Generationen hinweg tief in die Geschichte des Landes, während Zweig, ein Jude, der den Zionismus ablehnte, vor allem eines schätzte: "Den Wert absoluter Freiheit, unter den Nationen zu wählen, sich selbst überall als Gast zu fühlen". Prochnik besitzt ein genaues Gespür dafür, wie schmerzlich sich die Selbstwahrnehmung von Menschen im Exil ändert, er zeigt, wie der elegante Wiener Autor - berühmt, frei zu gehen, wohin er möchte, so wenig an jüdische Tradition gebunden, dass seine Mutter ihn fälschlich verdächtigte, konvertiert zu sein - verzweifelt, als er sich selbst zurückversetzt fand in die Rolle des Wandernden Juden."

Außerdem: Hermione Lee liest Updike. Paul Krugman bespricht den schon überall besprochenen Thomas Piketty. Und Wendy Doniger schildert den Nachhall auf das Einknicken Penguins vor Hindu-Nationalisten, die das Einstampfen von Donigers Buch über den Hinduismus gefordert hatten. Eins vor allem hat Doniger daraus gelernt: Nicht nur in Indien, auch in den USA und überall auf der Welt muss man Blasphemiegesetze bekämpfen.

La regle du jeu (Frankreich), 24.04.2014

Philippe de Lara erklärt, inwiefern Putins Regime an das Stalins erinnert und sich Putins gegenwärtige Politik gegenüber der Ukraine durchaus mit der Deutschlandpolitik der UdSSR in der Nachkriegszeit vergleichen lässt. Zwar sei die aktuelle Situation natürlich anders, insofern das wirtschaftlich und demografisch geschwächte Russland keine siegreiche Macht mehr sei und in der Ukraine auf eine echte demokratische Revolution stoße: "Die Deutschlandpolitik der UdSSR nach 1945 legt zwei Lektionen nahe. Die erste ist die permanente Schwankung der Mittel der sowjetischen, später russischen Außenpolitik trotz der Konstanz ihrer Ziele: das Reich zu vergrößern. Sie pendelt immer zwischen Kontrolle und Beeinflussung, brutaler Eroberung und geschickter Hegemonie." Die zweite Lektion sei die entscheidende Rolle der deutsch-russischen Beziehungen. Seit dem Hitler-Stalin-Pakt sei die wirtschaftliche und militärische Kooperation beider Länder eine "unheilvolle Konstante in der Geschichte des Kontinents … Begreift Deutschland, dass eine russische Intervention in die Ukraine heute das gesamte europäische System bedroht?"
Archiv: La regle du jeu

New York Times (USA), 27.04.2014

Im Magazin der New York Times fragt Charles Siebert den Juristen und Präsidenten des "Nonhuman Rights Project" Steven Wise, ob Tiere justiziable Personen sein können, die ihre Eigner verklagen können. Eine spannende Frage, weniger absurd, als sie zunächst erscheint: "Vor zehn Jahren wäre Wise für seine Bemühungen ausgelacht worden. Was die Sache heute realistisch erscheinen lässt, hat zum Teil mit den Fortschritten in der neurologischen und genetischen Forschung zu tun, die zeigt, dass Tiere wie Schimpansen, Orkas und Elefanten über Selbstbewusstheit, Selbstbestimmung und einen Sinn für die Vergangenheit wie für die Zukunft verfügen. Sie haben eigene Sprachen, komplexe soziale Beziehungen und die Fähigkeit, Werkzeug zu benutzen. Sie trauern, fühlen mit und vererben ihr Wissen. Mit anderen Worten, sie haben die gleichen Eigenschaften, die wir für spezifisch menschlich hielten. Wise möchte diese Tatsache nutzen, um seine Klienten zu "autonomen Lebewesen" zu erklären, die in der Lage sind "frei zu wählen, sich selbst zu definieren und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, ohne dabei reflexartig oder nach Maßgabe angeborenen Verhaltens zu agieren". Für Wise sind diese Fähigkeiten die Mindestanforderung für justiziable Personen." Dazu gibt es eine Videodoku, in der Wise den Unterschied zwischen einer Sache und einer Person erläutert.

Außerdem im NYT Mag: Gretchen Reynolds erklärt kurz und wissenschaftlich, warum Schokolade gut für uns ist.
Archiv: New York Times
Stichwörter: Tierrechte, Autonome, Elefanten