Magazinrundschau

Mit deinen Augen, Allen Ginsberg

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
11.08.2015. Das TLS schildert dichterische Osmosen. In Harper's beschreibt Masha Gessen die Angst der Finnen vor einer neuen Finnlandisierung. In Elet es Irodalom fragt der Literaturkritiker Csaba Károlyi, wie man heute noch in den staatlichen Medien Ungarns arbeiten kann, ohne sich zu korrumpieren. Das New York Magazine porträtiert den Meister der Wiederauferstehung: Alki David. In Respekt erklärt der Dominikanerpriester Tomasz Dostatni Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Polen und Tschechen. Vanity Fair fürchtet sich vor zu viel unverbindlichem Sex.

Times Literary Supplement (UK), 07.08.2015

Der britische Lyrikkritiker und -publizist Al Alvarez brachte in den 60er Jahren der englischsprachigen Welt die Dichter Osteuropas nahe. Sein besonderer Liebling war der tschechische Dichter Miroslav Holub, an dem er eine Sache allerdings gar nicht verstand: Dass Holub die amerikanischen Beat-Poeten verehrte, die Alvarez als unpolitisch und nur ums eigene Ich kreisend verdammte, erzählt Justin Quinn in einem wunderbaren Artikel über kulturelle Querverbindungen. Als Holub zum ersten Mal nach Amerika reiste, sah er das Land "mit deinen Augen, Allen Ginsberg", wie er in einem Gedicht schrieb. "Es war eine Art Wiedervereinigung von Brüdern, die bei der Geburt getrennt worden waren. Holub und Ginsberg waren beide Vertreter einer Whitmanschen Dichtertradition, die sich in den Jahrzehnten zuvor transnational verbreitet hatte. Ginsbergs Verbindung zu Whitman ist klar, bei Holub sind die Dinge komplizierter. Ein Kontakt kam zustande durch die tschechische Übersetzung Whitmans direkt aus dem Englischen durch Jiří Kolář and Zdeněk Urbánek in den 1950ern. Aber Holub lernte Whitman auch über das Russische kennen. In ihrem Buch "Lyric Poetry and Modern Politics: Russia, Poland and the West" (2009) beschrieb Clare Cavanagh die wichtigen Kontakte zwischen amerikanischen und russischen Dichtern: "[Majakowski] hatte bereits Tschukowskis frühe Übersetzung [von Whitman] gelesen und kritisiert, obwohl er selbst kein Englisch konnte: Er sprach, notierte Tschukowski, "als hätte er die Gedichte selbst geschrieben"." Holub wiederum dokumentierte seine Entdeckung Whitmans über Majakowski in dem Gedicht "Majakowski" aus dem Band "Achilles a želva" (1961; Achilles und die Schildkröte).

Außerdem: Clare Cavanagh bespricht Bengt Jangfeldts neue Majakowski-Biografie.

Harper's Magazine (USA), 06.08.2015

Masha Gessen, hochbeeindruckt von einem Auftritt der finnisch-estnischen Autorin Sofia Oksanen beim Pen Festival in New York, versteht jetzt, warum nicht nur die baltischen Staaten, sondern auch die Finnen Angst haben vor der neuen Aggressivität Russlands, wie sie in einer langen Reportage aus Finnland schreibt: "Seit Russlands Einzug in die Ukraine widmet sie sich dem Protest gegen die Zerstörung der Welt wie wir sie kennen - und gegen die schnelle und leichte Art des Westens diesen alarmierenden Status quo zu akzeptieren. Oksanen fürchtet, dass ihr Land kurz davor steht, in die stille Panik und allgegenwärtige Selbstzensur zurückzufallen, die das Kennzeichen der Finnlandisierung im Kalten Krieg war. Diesmal jedoch könnte das Land als Russlands Agent dienen, als glattzüngiger Ringer innerhalb der Europäischen Union, der Finnland 1995 zögernd beitrat."

Elet es Irodalom (Ungarn), 31.07.2015

Die Arbeitsbedingungen für Angestellte staatlicher Medien sind so schlecht wie während der Ära Kádár zwischen 1957 und 1989, meint der Literaturkritiker Csaba Károlyi: "Warum sie diese neuerliche lügnerische, korrupte und erniedrigende Welt akzeptieren, bleibt ein Rätsel. Vielleicht ist die Antwort einfacher als gedacht: auch heute muss man leben. Damals versuchten viele, still außenvor zu bleiben. Und als jene Welt zu Ende ging, hieß es, dass sie schon damals Helden waren, kämpfen mussten, um fachlich etwas Niveauvolles zu leisten, womit sie das System mutig von innen sabotierten. Heute könnten wir hoffnungsvoll sagen, dass die hervorragende Arbeit von vielen das jetzige System von innen sabotiert. Sie gehen keine schändlichen Kompromisse ein (oder versuchen es zumindest). Doch ist es nicht von vornherein etwas Schändliches, in einem staatlichen Medienimperium zu arbeiten? Gibt derjenige, der dort arbeitet, nicht letztlich seinen Namen für Lügen, Korruption und Erniedrigung her? Auch wenn er sich von allem Schlechten distanziert und lediglich mit Kultur, Verkehr, Sport oder dem Wetter beschäftigt? Der Wetterbericht wird nach jetzigem Stand nicht verfälscht. Kultur und Sport sind aber bereits problematisch."

New York Magazine (USA), 10.08.2015

Im neuen Heft des New York Magazine stellt uns David Marchese den griechischen Geschäftsmann Alki David vor, der komplette Bühnenshows mit Legenden wie Ray Charles, Elvis oder Jim Morrison plant - als Hologramme, versteht sich. Eine ganz neue, durchaus praktische Art der Celebrity-Vermarktung oder bloß seelenloser Zirkus? "Was vermag ein Hologramm und wo sind die Grenzen? Gut möglich, dass Davids Technologie dereinst ein Abbild des Stars erschaffen kann, das vom Original nicht mehr zu unterscheiden ist, eins, das sich fließend bewegt und die perfekte Performance abliefert. Aber wie lebensähnlich auch immer, ein Hologramm wäre doch immer nur "ähnlich", nicht echt. Auch wenn das Hologramm einer Amy Winehouse noch so pünktlich und immer nüchtern wäre, der charismatische Funke fehlte doch wohl, oder nicht? Mitnichten, meint David, es kommt auf die Qualität des 3D-Modells an, genau wie bei den Wachsfiguren von Madame Tussaud"s. Und die sind immerhin schon seit über 200 Jahren erfolgreich."

Außerdem: Kerry Howley verrät die Zukunftspläne einer rastlosen Serena Williams. Und Rebecca Traister beschreibt die Schwierigkeiten kontrollierter Elternschaft in den USA.
Stichwörter: Hologramm, Zirkus

Grantland (USA), 07.08.2015

Da nimmt ein ganz Großer seines Fachs den Hut: Mit Jon Stewarts Abschied aus der Daily Show geht ein Stück amerikanischer, im Zeitalter von Onlinestreaming tatsächlich aber auch globaler Fernsehgeschichte zu Ende - und dies mit einer rundum gelungenen, eher von Freude als von Kummer geprägten letzten Episode, wie Andy Greenwald glücklich festhält. "Zu tun hat das teilweise auch mit dem Fakt, dass Stewart nicht von irgendwem vor die Tür gesetzt wird - sondern von sich selbst. ... Statt sich weiter abzurackern, kann Stewart in dem gesicherten Wissen die Bühne verlassen, dass sein Erbe an eine sehr spezifische und sehr eigene Phase im amerikanischen Leben gebunden ist. Seine erste Show begann mit einem Witz über Monica Lewinsky; seine letzte Woche fand im Schatten von Donald Trumps Haaren statt. Doch zwischen diesen beiden Witzfiguren gab es genügend Katastrophen. Für Leute meiner Generation, die in den verhältnismäßig gesetzten 80ern und 90ern aufgewachsen sind, war Stewart der essenzielle Hirte in einer Post-9/11-Welt, in der mit einem Mal das Undenkbare das Unausweichliche wurde. Und auch wenn Stewart selbst zur Maschinenstürmerei neigt (...) nahm seine lärmende Zersetzung eines Generationen andauernden, von oben herab argumentierenden Journalismus das Internetzeitalter vorweg und formte es."
Archiv: Grantland

Vanity Fair (USA), 06.08.2015

Wenn man Nancy Jo Sales" Reportage aus dem New Yorker Twen-Milieu Glauben schenken darf, befinden wir uns inmitten einer die zwischenmenschlichen Beziehungen endgültig zersetzenden, technologisch induzierten Zeitenwende. Nicht etwa die NSA oder die Datensilos der großen IT-Konzerne sind daran schuld - sondern der Online-Dating-Hype rund um Apps wie Tinder, OkCupid und andere, die die Anberaumung einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs so leicht machen wie eine Online-Buchbestellung. Die angebliche Folge daraus: Grenzenloser Narzissmus, maximale Bindungsunfähigkeit, ja sogar Bindungs-Desinteresse. Das hat Folgen, erklärt ihr Psychologieprofessor David Buss: ""Apps wie Tinder und OkCupid erwecken den Eindruck, dass es da draußen Tausende oder Millionen potenzieller Paarungspartner gibt", sagt Buss, "Ein Aspekt dabei ist, wie das auf die männliche Psyche wirkt. Gibt es ein Überangebot, oder auch nur ein angenommenes Überangebot an Frauen, neigt das männliche Paarungsverhalten eher zu kurzfristigen Bindungen. Ehen werden instabil. Scheidungen nehmen zu. ... Männer treiben diesen Wandel voran, Frauen müssen sich dem anpassen, um sich überhaupt paaren zu können." Nun, einen Moment mal. "Kurzfristige Paarungsstrategien" scheinen auch für viele Frauen gut zu funktionieren; einige von ihnen wünschen ebenso keine verbindlichen Beziehungen, insbesondere jene in ihren 20ern, die sich auf Ausbildung und Karriere konzentrieren."
Archiv: Vanity Fair

Respekt (Tschechien), 10.08.2015

Glaubensfragen: Martin M. Šimečka unterhält sich mit dem polnischen Dominikanerpriester Tomasz Dostatni über die Unterschiede zwischen Polen und Tschechien - das eine Land gilt als eines der katholischsten, das andere als eines der atheistischsten Länder Europas. Šimečka sieht vor allem historische Gründe: Im Unterschied zu Polen habe Böhmen die Erfahrung einer gewaltvollen Gegenreformation gemacht, die die Tschechen vom Glauben abgebracht habe. Dostatni mag die Tschechen hingegen gar nicht so atheistisch sehen und zitiert Petr Pitharts Begriff von der "scheuen Gläubigkeit": "Sie war zum Beispiel typisch für Václav Havel, für Jan Patočka oder Karel Čapek. Auch in Polen gibt es heute diese Menschen, die eine Distanz zur Kirche wahren, aber nicht gänzlich ungläubig sind." In seiner Heimat konstatiert Dostatni bedauernd eine Verhärtung der Seiten: "In Polen haben wir in Kommunismuszeiten die wichtige Erfahrung gemacht, dass in der demokratischen Opposition Gläubige und Nichtgläubige zusammenfanden. Das half damals sehr dem gemeinsamen Dialog. Heute hingehen herrscht in der Kirche ein großes Misstrauen gegenüber den Nichtgläubigen. Tatsächlich haben sich beide Seiten radikalisiert - immer mehr Menschen sind offen antikirchlich eingestellt, zugleich nehmen die Ultrakonservativen zu. Es herrscht mehr Spannung als Dialog."
Archiv: Respekt

Columbia Journalism Review (USA), 10.08.2015

Politico bleibt eines der der faszinierendsten Medien der Internetära, auch wenn David Uberti in der Columbia Journalism Review notiert, dass der Hype und die explosive Expansion der frühen Jahre vorbei sind. Das Erstaunlichste ist, dass Politico mit der zahlbaren "Pro"-Sektion, in der hundert Journalisten arbeiten, ein echtes Profit Center geschaffen hat. Ein Firmenabo einiger spezialisierter Sektionen kostet 15.000 Dollar im Jahr. Für die europäische Version gelten die gleichen Voraussetzungen wie einst in Washington: "Paneuopäische Politik wird kaum abgedeckt, so die Idee, oder sie wird zumindest nicht attraktiv dargestellt. "Die Leute wollen über Politik lebendige, kluge Texte lesen, die nicht eingebildet wirken, sondern unmittelbar und überraschend, sagt Chefredakteur Matthew Kaminski, "wir schaffen einen Markt für diese Art von Journalismus, niemand anders hat es bislang versucht.""
Stichwörter: Politico, Hypes

La regle du jeu (Frankreich), 07.08.2015

Unter der Überschrift "Die Diktatur der Diplome" beschäftigt sich Pierre Loo mit dem südkoreanischen Bildungssystem und dessen Geschichte. Das Land, in dem das Erlangen von Abschlüssen mit hohem Prestigewert von größter Bedeutung ist, sei ein "Friedhof aufgegebener Berufungen" - Leidenschaften für Philosophie, Literatur, Kunst oder Küche würden unter dem Druck der Eltern einer Karriere bei Samsung, Hyundai oder doch zumindest als Chirurg oder Anwalt geopfert. "Jeglicher sozialer Kontakt konfrontiert Koreaner mit der unerbittlichen Frage: Von welcher Universität ist dein Diplom? Ein gutes Diplom macht einen hochrespektablen Menschen aus einem, ungeachtet des Orts und der Umstände. Es schlägt sich ebenso auf die Ehrerbietung nieder, mit der einem begegnet wird, wie auf den naturgemäßen Einfluss, den man auf sein Gegenüber hat, sofern dieser keinen vergleichbar prestigeträchtigen Abschluss vorweisen kann... Das Schlimmste ist demnach selbstverständlich, gar keinen Studienabschluss zu haben: mangelnde Bildung wird gleichgesetzt mit Mittelmäßigkeit, um nicht zu sagen mit Vulgarität, für die es heutzutage praktisch keine Entschuldigung mehr gibt und die die betreffenden Unglücklichen in die Kategorie Loser verweist."
Archiv: La regle du jeu

Chronicle (USA), 03.08.2015

Nicht völlig ohne Hoffnung ist Justin E.H. Smith, dass die Todesstrafe in den USA auf dem Rückzug ist. Zwar bleibt der rassistische Charakter des Karzeralsystems intakt, notiert er, aber wenigstens bei den Exekutionen stellt er einen Niedergang fest - unter anderem, weil die Behörden immer größere Schwierigkeiten haben, sich die Todesdrogen auf legalem Wege zu beschaffen. "Die Vereinigten Staaten bewegen sich langsam in Richtung internationaler Normen - das heißt Normen demokratischer Staaten, denn in postdemokratischen Staaten blüht das Exekutionswesen nach wie vor. Dabei werden die USA gar nicht von einem Willen beseelt, sich anderen Gesellschaften anzupassen, es ist einfach die innere Vernunft ihrer Gesetze, die sich nach und nach durchsetzt."
Archiv: Chronicle
Stichwörter: Todesstrafe

Intercept (USA), 03.08.2015

Spannend wie ein Thriller erzählt der britische Investigativjournalist Duncan Campbell von seinen wichtigsten Enthüllungen - allen voran dem Five-Eyes-Spionagenetz Echelon - und zieht eine Bilanz seiner Arbeit: "In den vierzig Jahren, die ich über Massenüberwachung berichtet habe, wurde ich dreimal Ziel von Razzien, kam einmal ins Gefängnis; funfmal durften TV-Sendung von oder mit mir auf Druck der Regierung nicht ausgestrahlt werden; mir wurde angedroht, aus einem Helikopter geworfen zu werden; mein Telefon wurde mindestens zehn Jahre lang abgehört, und ich sah dreißig Jahren Haft für angeblichen Geheimnisverrat entgegen. Warum mache ich weiter? Weil meine Ermittlungen ein bis dato unvorstellbares Ausmaß staatlicher Überwachung, Verschwörung und Verschleierung durch britische und amerikanische Regierungen zutage gefördert haben - Praktiken, bei denen es ebenso sehr um Binnenspionage ging wie darum, die Bevölkerung vor angeblichen äußeren Feinden zu schützen und durch die die britische Regierung potenziell die Macht hatte, aus dem Land einen Polzeistaat zu machen."
Archiv: Intercept