Magazinrundschau

Bäume, Bäume, Bäume

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
21.02.2023. Der New Yorker porträtiert Itamar Ben-Gvir, Netanjahus rechtsextremistischen Minister für Nationale Sicherheit. Außerdem taucht er in die Hölle von Südafrikas illegalen Goldminen. Africa is a Country erklärt, warum viele Afrikaner sich nicht als Schwarze sehen. Im Guardian beschreibt Arundhati Roy die korrupte Allianz zwischen Narendra Modi und dem Milliardär Gautam Adani. In La vie des idees erklärt der Marrokaner Soufiane Hennani, was positive Männlichkeit ist. Wired würdigt Thomas Pynchon als Propheten. Die New York Times bestaunt die moosigen Grüntöne des Studio Ghibli Parks.

New Yorker (USA), 21.02.2023

Itamar Ben-Gvir ist im Kabinett Netanjahus Israels neuer Minister für Nationale Sicherheit. Er ist außerdem Vorsitzender der rechtsextremen Partei Otzma Yehudit (Jüdische Kraft), Nachfolgeorganisation der ebenso rechtsextremistischen Kach, und vorbestraft in mindestens acht Fällen, "unter anderem wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und Aufstachelung zum Rassismus", schreibt Ruth Margalit in einem wirklich beunruhigenden Porträt. "'Sein Strafregister ist so lang, dass wir die Tinte des Druckers austauschen mussten, als er vor den Richter trat', sagte mir Dvir Kariv, ein ehemaliger Beamter des Geheimdienstes Shin Bet. Noch im Oktober letzten Jahres weigerte sich Netanjahu, mit ihm die Bühne zu teilen oder sich mit ihm auf Fotos zu zeigen. Doch eine Reihe enttäuschender Wahlen hat Netanjahu dazu bewogen, seine Meinung zu ändern." Und auch die Wähler haben ihre geändert. Vor einigen Jahren noch wurde die Bewegung "als marginal betrachtet. 'Es war ein Witz, wie klein sie war', sagte Kariv, der ehemalige Shin Bet-Beamte. Inzwischen hat sie sich zu einer politischen Partei (Jewish Power), einem finanziellen Arm (Fund to Save the People of Israel) und einer militanten Anti-Assimilationsgruppe (Lehava, oder Flamme) entwickelt. Bei der letzten Wahl stimmte nach einer Schätzung ein Drittel aller israelischen Soldaten für Ben-Gvir. Als er in die Regierung eintrat, betonte er, dass er gemäßigter geworden sei, und versicherte einem Publikum, dass er nicht mehr der Meinung sei, dass 'Araber getötet werden sollten'. Zwei seiner Mentoren von der extremen Rechten brachen sogar mit ihm, weil sie das als inakzeptable Zugeständnisse ansahen. ... Ein Insider sagte mir, dass die Kluft real sei: Marzel ist eine mürrische Figur, ein 'Kahanist der ersten Generation'. Ben-Gvir ist ein 'Kahanist der zweiten Generation', der seine Bigotterie mit einem internetfreundlichen Sinn für Humor abmildert. Einige seiner Aktivisten tragen T-Shirts mit dem Aufdruck 'Notorious I.B.G.'. (In einem seiner TikTok-Videos, das 1,3 Millionen Mal angesehen wurde, tritt er einen Fußball, der seiner Meinung nach arabische Politiker repräsentiert. 'Ich übe gerade, Odeh, Tibi und Abbas nach Syrien zu kicken', sagt er.) Aber die Spaltung half Ben-Gvir auch bei den Wahlen. Er konnte nun plausibel behaupten, dass er nicht mehr das äußerste Ende der israelischen Rechten vertritt."

Kimon de Greef begab sich für den New Yorker in die Hölle von Südafrikas illegalen Minen: "Als der Bergbau in Welkom in den neunziger Jahren zusammenbrach, entstand an seiner Stelle eine dystopische kriminelle Wirtschaft mit Tausenden von Männern, die in die verlassenen Stollen eindrangen und mit rudimentären Werkzeugen nach dem verbliebenen Erz gruben. Da es kaum Kosten oder Sicherheitsstandards gab, konnten diese illegalen Bergleute in einigen Fällen reich werden. Viele andere blieben in Armut oder starben unter Tage. Die Bergleute wurden als Zama-Zamas bekannt, ein Begriff aus der Zulu-Sprache, der frei übersetzt so viel wie 'ein Risiko eingehen' bedeutet. ... Da es schwierig ist, in die Minen einzudringen, bleiben die Zama-Zamas oft monatelang unter der Erde, wo sie von Scheinwerfern beleuchtet werden. Unter Tage können die Temperaturen auf über hundert Grad ansteigen, und die Luftfeuchtigkeit ist erdrückend. Steinschläge sind keine Seltenheit, und die Retter haben schon Leichen gefunden, die von Felsbrocken von der Größe eines Autos erdrückt wurden. 'Ich glaube, sie gehen alle durch die Hölle', sagte mir ein Arzt in Welkom, der Dutzende von Zama-Zamas behandelt hat. Die Männer, die er sah, waren grau geworden, weil ihnen das Sonnenlicht fehlte, ihre Körper waren abgemagert, und die meisten von ihnen hatten Tuberkulose, weil sie den Staub in den unbelüfteten Tunneln eingeatmet hatten. Nach der Rückkehr an die Oberfläche waren sie stundenlang geblendet. ... In keinem anderen Land der Welt findet der illegale Bergbau in so riesigen Industrieschächten statt. Analysten schätzen, dass etwa ein Zehntel der jährlichen Goldproduktion Südafrikas auf den illegalen Bergbau entfällt, obwohl die Bergbauunternehmen, um die Investoren nicht zu beunruhigen, das Ausmaß des kriminellen Handels eher herunterspielen. Die Aktivitäten im Untergrund werden von mächtigen Syndikaten kontrolliert, die das Gold dann in legale Lieferketten einschleusen."

Die erste englische Übersetzung des Berichts von Jacques Besse über seine Schizophrenie und einen höchst imaginativen Spaziergang, der ihm die Musikalität des Straßenlärms offenbart, nimmt Marco Roth zum Anlass, sich diesem schwebenden Text zu widmen, der den Psychoanalytiker Félix Guattari und den Philosophen Gilles Deleuze zu ihrer großen Abrechnung mit der Institution der Psychiatrie und der freudianischen Psychoanalyse inspiriert hat. Nicht nur über die ganz anders strukturierten Denkweisen des Schizophrenen denkt Roth nach, auch darüber, was es bedeutet, sich als Resultat einer krankheitsbedingten Vereinsamung viel auf den Straßen zu bewegen und ständig mit Ordnungsmächten wie Polizei und Psychiatrie konfrontiert zu sein. Aus den von Besse beschriebenen Ereignissen der 1960er Jahre zieht er Parallelen zur heutigen Zeit: "Der New Yorker Bürgermeister, Eric Adams, hat eine aggressivere Durchsetzung des bestehenden Rechts angekündigt, insbesondere durch das New York Police Department, das psychisch Kranken - um in der Bürokratensprache zu bleiben - 'unfreiwillige Unterstützung' leisten soll, auch wenn gar keine direkte Gefahr besteht, dass sie gegen sich oder andere gewalttätig werden. Konkret bedeutet diese 'Unterstützung', dass Menschen, denen das Label 'verrückt' verpasst wird - so wie Jacques Besse - aus dem öffentlichen Raum entfernt und in überfüllten, finanziell unterversorgten und inadäquat ausgestatteten Psychiatrien, Obdachlosenunterkünften oder Gefängnissen verwahrt werden."

Weitere Artikel: Rebecca Mead besucht die Vermeer-Schau im Rijksmuseum. Und Adam Gopnik liest ein Buch über die Gefahren der Lichtverschmutzung.
Archiv: New Yorker

Africa is a Country (USA), 17.02.2023

"Ich bin schwarz, meine Eltern sind es nicht. Ich bin nicht adoptiert", leitet Selorm Quist seinen Artikel ein, immer noch verblüfft darüber, dass sich seine Eltern, vor Jahrzehnten aus Ghana in die USA eingewandert", einfach nicht als Schwarze fühlen, sondern als Ghanaer oder als Afrikaner. Die Zuschreibung "schwarz" bleibt ihnen fremd. Quist hat sich daraufhin bei anderen Ghanaern umgehört und fand heraus, dass seine Eltern kein Einzelfall sind. "Selbst wenn Schwarzsein als Teil der eigenen Identität akzeptiert wurde, erkannten die Befragten durchweg - bei sich selbst und bei anderen, oft bei schwarzen Amerikanern -, dass sie ein bestimmter 'Typ' von Schwarz waren: der akzentuierte, heimatverbundene Typ, der immer mehr Ghanaer als Schwarzer ist. Dies zeigte sich in ihren Mustern der zirkulären Migration und in der Hoffnung auf eine dauerhafte Rückkehr, in ihrem Bemühen, sicherzustellen, dass ihre eindeutig afrikanische kulturelle Heimat auch eine physische bleibt. Obwohl sie die meiste Zeit ihres Lebens in den USA verbracht haben, sahen sich die Befragten in einer Weise mit ihrer ghanaischen Identität verwurzelt, die sich auch durch ihre schwarze Hautfarbe nicht ändern ließ."
Stichwörter: Country

Economist (UK), 18.02.2023

Die Wahlen am kommenden Wochenende in Nigeria sind schon deshalb äußerst bedeutend, weil Land die größte Demokratie Afrikas ist, schreibt ein wie beim Economist üblich anonymer Verfasser. Mehr als zwanzig Jahre lang haben sich zwei Parteien bei der Regierungsbildung mehr oder minder abgewechselt, berichtet er, nun kommt mit Peter Obi ein Underdog dazu, der eine echte Chance hat zu gewinnen, auf den aber im Falle eines Wahlsiegs vor allem riesige Probleme warten: Armut, Arbeitslosigkeit, zivile und nicht zivile Unruhen, ein heruntergewirtschaftetes Bildungssystem und eine dysfunktionale Verwaltung erwarten ihn. Dass Obi, von Haus aus ein Geschäftsmann, "das Zweiparteiensystem so schnell herausfordern konnte, liegt vor allem daran, dass er eine ganz andere Art von Politik in Nigeria anbietet, wo das Wahlkalkül jahrzehntelang weitgehend darauf basierte, dass Politiker Spaltungen entlang der Grenzen von Religion, Ethnizität und regionaler Zugehörigkeit schürten. Die Kandidaten der beiden großen Parteien, Bola Tinubu von der regierenden APC und Atiku Abubakar von der PDP, scheinen ihren Wahlkampf immer noch mit dem Ziel zu führen, ihre ethnische und religiöse Basis zur Wahlurne zu bringen. Herr Obi hingegen hat die wichtigsten Gräben im Land überwunden, indem er Kundgebungen in den Hochburgen seiner Gegner abhielt (insbesondere in der Wirtschaftsmetropole Lagos, der Hochburg von Herrn Tinubu) und die Wähler aufforderte, ihre Wahl auf der Grundlage ihres Charakters und ihrer Erfolgsbilanz zu treffen. Seine eigene Bilanz als zweimaliger Gouverneur des Bundesstaates Anambra ist ermutigend, wenn auch nicht ganz makellos. ... Herr Obi hebt sich auch in anderer Hinsicht von den beiden Kandidaten der großen Parteien ab. Er ist ein energiegeladener 61-Jähriger, der intellektuell offen daherkommt. Zu seinen Wahlkampfveranstaltungen gehören zum Beispiel Town-Hall-Meetings, bei denen er die Wähler ermutigt, schwierige Fragen zu stellen." Ob er aber wirklich Chancen hat, die Wahlen zu gewinnen? Der Economist hat Zweifel. Am Ende könnten Religion und Ethnizität doch den Ausschlag geben, fürchtet er.
Archiv: Economist
Stichwörter: Nigeria, Obi, Peter

Public Seminar (USA), 17.02.2023

(via Eurozine) Erdogan und seine Leute haben sich nicht sehr beeilt, den Erdbebenopfern zu helfen. Das ist kein Wunder, meint der Soziologe Utku Balaban, sie waren zu beschäftigt damit zu überlegen, wie sie das Ereignis in einen Wahlerfolg für Erdogan ummünzen können. Vier Hauptstrategien kann Balaban erkennen: "Die Regierung versucht derzeit, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass sie nichts hätte tun können, um die Menschen zu retten, da das Erdbeben außergewöhnlich schwer war. Zweitens gibt es starke Signale in den sozialen Medien, dass Erdoğan und seine Clique eine Verschwörungstheorie ausarbeiten und verbreiten: dass die Vereinigten Staaten das Erdbeben mit ihren fortschrittlichen Militärtechnologien ausgelöst haben. Eine dritte und ähnliche Komponente besteht darin, anonyme Zivilisten - und nicht die Auftragnehmer, die Regierung oder die wirklichen Verbrecher - als 'Plünderer', als 'schlechte Äpfel' einer ansonsten glorreichen Nation, in den Mittelpunkt einer Hasskampagne zu stellen. Erdoğan widmete einen großen Teil seiner Rede vom 10. Februar in Adıyaman der Verurteilung von Plünderern und stellte damit eine symbolische Verbindung zwischen ihnen und seinen politischen Gegnern her. ... Der vierte Teil des Plans besteht darin, die Katastrophe zu nutzen, um die demokratischen Rechte vor den Wahlen in diesem Jahr zu beschneiden. Die AKP-Regierung verhängte einen dreimonatigen Ausnahmezustand über die Erdbebengebiete, in denen etwa 16 Prozent der Bevölkerung leben. Kurden und Aleviten machen einen großen Teil dieser Wähler aus, und die Stimmen der Kurden werden wahrscheinlich eine entscheidende Rolle für das Wahlergebnis spielen."
Archiv: Public Seminar

Guardian (UK), 21.02.2023

Mit der Verve und dem Zorn über die politischen Verhältnisse, die man von ihr kennt, beschreibt Arundhati Roy die innigen Beziehungen von Indiens Premier Modi zu dem Industriellen Gautam Adani, dessen milliardenschweres Unternehmen trotz kürzlich erlittener schwerer Verluste seit seinem Aufstieg tief in die Politik Modis verstrickt ist. Eine BBC-Reportage und eine Untersuchung der amerikanischen Hindenburg Research Group bringen für Roy Licht ins Dunkel der "indischen Twin Towers", wie sie die beiden nennt, doch eine weitere Aufklärung nicht nur der Finanzen und der Einflussnahme der Geldgeber wird verhindert, sondern auch der gewalttätigen Unruhen, die unter Modi aufgekocht sind. Gegen eine von Parlamentariern und Reportern angestrebte Untersuchung durch unabhängige Organe wehrt sich der Premier, vielleicht nicht nur, um die finanzielle Unterstützung seines Freundes zu vertuschen, sondern auch die Brutalität, die, wie Roy betont, unter seiner hindu-nationalistischen Regierung an der Tagesordnung ist: "Für die meisten Inder ist dies in unser tägliches Leben übergegangen: Waffenschwingende Mobs, safranfarben gekleidete Gottesfürchtige, die Tag für Tag nach dem Genozid an Muslimen verlangen, Massenvergewaltigungen an muslimischen Frauen, dass Hindus ungestraft Muslime auf offener Straße lynchen und sich dabei nicht nur filmen, sondern auch Lobpreisungen von Mitgliedern aus Modis Kabinett dafür erwarten können."
Archiv: Guardian

Boston Globe (USA), 21.02.2023

Megan Buskey rollt die Zwangsumsiedlungs-Geschichte ihrer Familie auf, um auf Parallelen zur derzeitigen Situation in der Ukraine aufmerksam zu machen: 900 000 Ukrainer*innen sind bislang in russisches Territorium deportiert worden, das weckt Erinnerungen an düstere Stalin-Zeiten, schon damals war das Ziel, ethnische Minderheiten zu unterdrücken, die als Bedrohung der sowjetischen Identität gesehen wurden. Sie lässt ihre Großmutter sprechen, die ab 1947 zwanzig Jahre in Sibirien exiliert war und deren Traumata sich auch auf die Nachfolgegenerationen ausgewirkt haben: "Bis zum Ende ihres Lebens haben sie die Unsicherheit und die Entbehrungen ihrer Zeit in Sibirien nicht mehr losgelassen. 'Wenn mich jemand danach fragt, sage ich oft, dass es besser ist, nicht darüber zu sprechen, denn wenn ich darüber rede, denke ich, ich kann es wieder vergessen, grübele dann aber die ganze Nacht darüber', sagte sie. 'Es ist schwierig. Du kannst dich noch so oft versichern, dass deine Familie hier in den USA sicher ist, aber als meine Kinder aufgewachsen sind, gab es kein Brot. Milch hat zehn Rubel pro Liter gekostet. Ein Liter hat nicht gereicht. In den Minen haben wir Frauen 25 Rubel am Tag verdient. Was für ein Leben soll das sein?'"
Archiv: Boston Globe
Stichwörter: Zwangsumsiedlung

La vie des idees (Frankreich), 17.02.2023

Soufiane Hennani ist ein mutiger Mann - er kämpft in Marokko für die Rechte Homosexueller, unter anderem in einem Podcast, in dem er eine "positive Männlichkeit" gegen "toxische Männlichkeit" definieren will. Das Land hat sich längst modernisiert. Nur die Gesetzgebung hat nicht mitgezogen. Und so sind die Menschen gezwungen, ihre Freiheit im Verborgenen auszuleben, erzählt er im Gespräch mit Ivan Jablonka: "Die Absurdität des verbotenen Sexuallebens liegt auch in der Ungerechtigkeit. Wenn man reich ist, wenn man in ein Fünf-Sterne-Hotel geht, auch als Homosexueller oder als jemand, der eine außereheliche Beziehung hat, wird niemand nach einem suchen. Ist man aber arm... Nehmen wir als Beispiel zwei 17- oder 18-jährige Jungen, die sich lieben, die aber keinen Raum der Liebe für sich haben: Sie gehen an den Strand, küssen sich, und dann kommen die Polizisten, um sie zu verhaften, sie zu erniedrigen und manchmal sogar zu zwingen, eine Geldstrafe zu zahlen." Die Unehrlichkeit in Bezug auf Homosexualität gefährdet auch die Frauen, hat Hennani in seinem Engagement gegen Aids erfahren: "Damals hatte ich erfahren, dass sich 70 Prozent der Frauen, die mit HIV leben, durch ihre Ehemänner angesteckt haben, ohne es zu wissen. Diese Zahl hat mich sehr betroffen gemacht. Daraufhin fragte ich mich, wie Männer sich engagieren könnten, um etwas zu ändern." In höchsten Tönen spricht Hennani übrigens über die Beiträge Leila Slimanis zur Debatte über Sexualität in Marokko.

Alain Blum und Sergei Zakharov schreiben über eine der Obsessionen Wladimir Putins, die Demografie. Gerne tönt Putin, dass Russland mit seinen traditionellen Familienwerten dem Westen überlegen sei, nur hat Russland eine der niedrigsten Geburtenraten Europas und ein sehr niedriges durchschnittliches Sterbealter - selbst wenn sich die Zahlen in den goldenen Jahren des Putinismus zu Beginn des Jahrtausends verbessert hatten. Durch den Krieg, den Putin unter anderem zu führen scheint, um seinem Land zusätzliche Bevölkerung einzuverleiben, verschlechtern sich die demografische Prognosen wieder: "Während die Folgen des Krieges .. kaum vorhersehbar sind, gibt es doch einige wahrscheinliche Faktoren. Die Alterspyramide der Bevölkerung der Russischen Föderation ist für ein Bevölkerungswachstum sehr ungünstig, da die gebärfähigen Jahrgänge in den nächsten Jahren immer kleiner werden. Außerdem sind die Männer dieser Generationen mobilisierbar: Ein Teil von ihnen hat das Gebiet der Russischen Föderation verlassen, um der Mobilisierung zu entgehen, als die anderen nun einberufen wurden. Diese Faktoren erklären übrigens höchstwahrscheinlich die unerwartete Entscheidung, das Alter der mobilisierbaren Männer von 18-27 auf 21-30 Jahre zu ändern."

Wired (USA), 16.02.2023

Vor 50 Jahren erschien Thomas Pynchons irrwitziger Fiebertraum-Roman "Die Enden der Parabel". Die hochgradig paranoide, legendär enzyklopädisch zerfranste Geschichte rund um die V2 der Nazis ist heute vielleicht noch aktueller als damals, findet John Semley - und dies gerade weil die Realität heute noch viel absurder wirkt als Pynchon es sich damals um 1970 unter schwerem Hasch-Einfluss ausgemalt hatte. Die Idee, die der Roman durchspielt, dass Konzerne den Nationalstaat verdrängen - was der Kritiker Edward Mendelson als 'Pynchons neuen Internationalismus' bezeichnete -, erwies sich als die zutreffendste Vorhersage des Autors. Im Jahr 1973, als der Kalte Krieg noch schwer auf der Welt lastete, mag die Vorstellung, dass Nationen und Ideologien zur Nebensache werden, noch wie ein Stoff aus Science-Fiction-Groschenromanen ausgesehen haben. Noch bevor Don DeLillo und George Romero Supermärkte und Einkaufszentren als Tempel spiritueller Sehnsüchte zeigten, Jahrzehnte bevor Fukuyama 'das Ende der Geschichte' ausrief, sah Pynchon, dass die neue Weltordnung eine Einverleibung sein würde: ein technologisches Arrangement des globalen Kapitals, das Nationalitäten und moralische Bedenken hinter sich lassen würde. 50 Jahre später wirkt diese Ballung allumfassend. Die Imperien Einzelner konkurrieren mit dem Bruttoinlandsprodukt vieler Länder. Private Industrielle haben die Fantasie von Pynchons geistesgestörtem Captain Blicero umgesetzt, der seine(n) Raketenabschussrampe/Sexkeller als seinen 'kleinen Staat' bezeichnet. Und die tatsächlichen Männer, die all dieses Kapital befehligen (einige der wohlhabendsten Männer der Welt), zeigen sich nun, genau wie ihre Vorgänger in den alten Imperien, besessen von diesem pynchonoidestem Totem der megalomanen Techno-Eitelkeit: der Rakete. Die aufgeblasenen Fantasien von der Eroberung des Weltraums und des Raketenmystizismus wurden von Multimilliardären wie Jeff Bezos, Richard Branson und Elon Musk aufgegriffen. Sie haben sich ihre eigenen Raketen-Kartelle aufgebaut und kleiden ihre Pläne erdgebundener Ausbeutung in wahnhafte Träume von der Eroberung der Sterne. Lass die Vollpfosten nur weiter in den Himmel stieren, verblendet vom - wie es Walter Dornberger, der Kopf des V2-Programms der Nazis einst nannte - 'uralten Traum' der Sternfahrt oder von der Science-Fiction-Fantasie lebhaft wuselnder Mars-Kolonien, dann werden sie vielleicht nicht merken, was du hier unten auf dem langweiligen alten Planeten Erde so alles treibst. Es ist lebendig gewordene pynchonoide Geschichte."
Archiv: Wired

Elet es Irodalom (Ungarn), 17.02.2023

Der Mathematiker, Verleger und Restaurantbesitzer Miklós Sulyok war eine prägende Figur der liberalen Wendebewegung vor und nach 1989. Nun spricht er im Interview mit Júlia Cserba über langfristige Auswirkungen von autoritären Strukturen auf Teile der Gesellschaft: "Es geht um die Eigenheit von Diktaturen. Im Sozialismus konnte die Gastronomie ihre Zutaten kaum frei einkaufen, und die Speisenfolgen waren streng reglementiert. Dies war eine stark vereinfachte, als ungarisch gedachte, aber überhaupt nicht ungarische Küche. Mittelmäßigkeit ist ein Kennzeichen von Diktaturen. Auf manchen Gebieten blieb dennoch etwas Gutes, so gab es zum Beispiel hervorragende Dichter, Schriftsteller und Schauspieler während des Sozialismus. Das setzt sich jetzt wieder fort, mit dem wesentlichen Unterschied, dass wir damals eingesperrt waren und man nicht in den Westen reisen konnte. Zwar können wir uns heute darüber freuen, doch für das Land selbst ist weniger erfreulich, dass die Grenzen offen sind. Man darf gehen und sehr viele verlassen auch das Land. So ist es aus der Sicht der so oft beschworenen Nation wesentlich schlechter, denn Talente, junge Leute verschwinden von hier."

Aktualne (Tschechien), 19.02.2023

Tomáš Maca führt ein spannendes Gespräch mit dem Psychiater und Neurowissenschaftler Jiří Horáček, der die menschliche Anfälligkeit für Verschwörungstheorien erforscht. "Der menschliche Geist ist von der sogenannten prädiktiven Kodierung geprägt", so Horáček. "Wir registrieren die Realität um uns nicht so, dass wir sie im Geiste fotografieren, sondern so, dass wir darüber Mutmaßungen anstellen, wie sie in Zukunft aussehen wird, und anschließend überprüfen wir unsere Vorstellungen. Wir vergleichen sie mit dem, was kommt, und falls unsere Vorhersagen nicht zutreffen, müssen wir sie aktualisieren. (…) Es handelt sich um einen uralten Anpassungsmechanismus, den wir von unseren biologischen Vorfahren geerbt haben und der sich nicht unterbinden lässt. Er generiert immer wieder neue Vorhersagen, doch in Zeiten der Unsicherheit, wie wir sie etwa während der Pandemie erlebt haben, passt keine von ihnen." In diese Lücken stoßen dann die vermeintlichen Sicherheiten der Verschwörungstheorien. Hinzu komme die Funktion des Hormons Oxytocin, das für menschliche Bindungen verantwortlich ist und "uns nicht nur in unangenehmen Situationen zu Gruppen zusammenschließt, sondern auch unser kollektives Verhalten synchronisiert". Die durch entsprechende Algorithmen verengten Echokammern der sozialen Medien, in denen der Nutzer nur seine eigene Stimme hört, verstärkten diese Wirkung. Was ursprünglich eine wichtige Überlebensfunktion war, wendet sich in einer global vernetzten Welt gegen uns. Es zeige sich, dass weder Bildung noch Intelligenz dagegen schützten. Gibt es dann überhaupt eine Lösung? Laut Horáček ja: "Als effektive Strategie erweist sich das sogenannte Prebunking, also eine vorausgehende Warnung und Impfung gegen Desinformation. Es geht von der Annahme aus, dass wir, wenn wir die Wirkung von Falschnachrichten vermindern wollen, eine Präventivstrategie entwickeln sollten, die auf denselben Prinzipien beruht, die die Desinformatoren verwenden. Es funktioniert ähnlich wie bei der Impfung gegen eine Infektion, bei der der Patient einen Wirkstoff derselben Infektion, nur in abgeschwächter Form erhält."
Archiv: Aktualne

En attendant Nadeau (Frankreich), 18.02.2023

Françoise Frenkels Buch "Nichts, um sein Haupt zu betten" hatte auch in Deutschland eine sehr lebhafte Aufnahme gefunden - zumindest bei der Kritik. Die Autorin polnisch-jüdischer Herkunft, die in den zwanziger Jahren in Berlin eine französische Buchhandlung unterhielt, wo sie unter anderem Roger Martin du Gard oder André Gide zu Lesungen empfing, erzählt darin, nüchtern und fesselnd, wie schwierig es war, in der Emigration einen neuen Ort zu finden. Das Buch war nach dem Krieg an entlegener Stelle erschienen und wurde dann mit einem Vorwort von Patrick Modiano neu aufgelegt. Die Historikerin Corine Defrance hat durch einen großartigen Zufall eine Menge weiterer Dokumente von Frenkel gefunden und kann darum in Frankreich nun eine Biografie über sie publizieren, die Sonia Combe mit großer Begeisterung bespricht: "Die Schweiz ist nur ein Transitland. Die Gastfreundschaft hatte ihre Grenzen. Françoise Frenkel geht nach Frankreich und wählt Nizza, wo sie Bekannte hat, die ihr bereits geholfen haben. Ihr Buch half ihr auf seltsame Weise bei der Einbürgerung, die ihr, wie Corine Defrance minuziös beschreibt, im Jahr 1950 gewährt wurde. Sie ist damals einundsechzig Jahre alt und wohnt in einer 'ein-Zimmer-und-Küche'-Wohnung. Immerhin hat sie Meerblick. Sie hat fast ihre gesamte Familie in Polen verloren und wird nie genau erfahren, wie ihre Verwandten ermordet wurden. Ihr Ex-Mann wurde am 16. Juli 1942 in Paris in der Rue Delambre 41 verhaftet. Heute weiß man, dass er am 19. August 1942 in Auschwitz starb." Combe schreibt in ihrer Kritik über einen wichtigen Text Frenkels, in dem sie die deutsch-französische Annäherung nach dem Krieg kritisiert - und in ihrer nüchternen Art erzählt, wie sie in Deutschland nach dem Krieg versuchte, Entschädigung zu bekommen. Hoffen wir, dass Defrances Biografie übersetzt wird.

New York Times (USA), 14.02.2023

Der japanische Animationsfilm-Auteur Hayao Miyazaki ist mit den Filmen seines Ghibli-Studios so etwas wie der japanische Walt Disney - allerdings allein in der Hinsicht, was seinen Erfolg und seine Präsenz in der japanischen Kultur betrifft. Künstlerisch und inhaltlich hingegen trennen beide Filmuniversen Welten. Das muss auch Sam Anderson feststellen, als er den seit Jahren angekündigten, von Miyazakis Sohn Goro geplanten und im vergangenen November endlich eröffneten Studio Ghibli Park besuchte und von Disneyworld gefütterte Vorstellungen im Gepäck mitbrachte: Ein kulturindustrieller Vergnügungspark und Miyazakis von einem tiefen ökologischen Bewusstsein durchtränkte Filme - geht das zusammen? Schon - nur von Disneyworld muss man sich dabei verabschieden: "Flüsse und Berge und Ozeane sind im Grunde genommen die Helden vieler Ghibli-Filme. Miyazakis Wälder sind so unverwechselbar, dass gewisse moosige Grüntöne mich automatisch an sie denken lassen. Tatsächlich vergleicht Miyazaki das Geschichtenerzählen oft mit einem Baum: Es geht nicht so sehr protzige Verzierungen, wie er gerne sagt, sondern um die tiefen, unsichtbaren Wurzeln, die den Stamm stützen, der wiederum die Zweige stützt - was dir alles in allem am Ende gestattet, daran deine Ornamente zur allseitigen Bewunderung aufzuhängen. Ghibli Park wurde, wie es die offizielle Website ausdrückt, 'in enger Beratung mit dem umgebenden Wald' gestaltet. Erstaunlicherweise wurde dafür kein einziger Baum gefällt, wie mir mein Reiseführer erzählt. Und wieder denke ich an Disneyworld, das zu Lasten eines ganzen Ökosystems errichtet wurde - Quadratmeilen, die denaturiert und patt gemacht wurden, um lukrativen und kundenfreundlichen Welten aus Plastik und Metall Raum zu geben. Ganz im Gegensatz dazu ist Ghibli Park im Großen und Ganzen ein für sich belassener Wald. Will man seine Attraktionen sehen, geht man schier endlos auf bewaldeten Pfaden. ... Mir kam der Gedanke in den Sinn, dass dies ein Ort ist, denn ich wohl in 100 Leben nicht besucht hätte: dieser unscheinbare, kleine Wald in einem Gemeindepark in den Außenbezirken irgendeiner industriellen Stadt in Japan. Und genau dies war Goros Plan: Leute hierherzulocken mit dem Versprechen auf Ghiblis Fantasiewelt - nur um ihnen dann diese echte Welt zu geben. Dieser Ort war echt, ich war echt und diese beiden Echtheiten überlappten sich allmählich. Bäume, Bäume, Bäume. Es war ganz mir überlassen, wohin ich gehen, was ich betrachten, wann ich wieder gehen sollte."

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Archiv: New York Times