Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
01.12.2003. Im Espresso liest Andrej Stasiuk unsere Zukunft aus den Euro-Geldscheinen. Vestnik ist enttäuscht von Alexander Solschenizyn. Der Economist liebt jene Polen, die uns den Nerven rauben. Im Nouvel Obs erklärt Tahar Ben Jelloun, warum es die arabische Welt gar nicht gibt. Im NZZ-Folio kapituliert Konrad Paul Liessman vor röhrenden Hirschen. Etcetera kritisiert die Internetstrategien lateinamerikanischer Zeitschriften.

New Yorker (USA), 08.12.2003

Judith Thurman erzählt die Geschichte einer "radikal obszönen" Satire auf Politik und Sexualität - "La Cazzaria" - aus dem 16. Jahrhundert von Antonio Vignali. Vignali, ein junger Sieneser Adliger, hatte 1525 einen "hochmütigen" humanistischen Debattierzirkel ins Leben gerufen, den er "in jugendlicher Despektierlichkeit" die "Akademie der Betäubten" nannte. Das schmale Bändchen, geschrieben in "Form eines pseudo-platonischen und pseudo-scholastischen Dialogs, der überwiegend von körperlosen Geschlechtsteilen geführt wird", war eigentlich nur für einen kleinen Kreis befreundeter Freidenker bestimmt. "Doch irgendwer - ob Freund oder Feind steht nicht fest - fertigte eine Kopie an und druckt sie ohne Zustimmung des Autors, was Vignali eine traurige Berühmtheit bescherte, die dieser nicht mehr los werden konnte. Er ging einige Jahre später ins Exil und veröffentlichte sein Leben lang keine einzige Zeile mehr."

Weitere Artikel: Wann, fragt sich Jeffrey Toobin, wird das "schmutzige Geschäft" der Wahlkreisverschieberei wohl zu einer "Bedrohung für die Demokratie"? Zu lesen ist die Erzählung "Screenwriter" von Charles D?Ambrosio, ein Sketch von Steve Martin, in dem Picasso Werbung für seine "Dame mit dem Fächer" macht, Nicholas Lemann schreibt über Auswirkungen von Bushs "demokratischer Heuchelei", John Cassidy berichtet von einem Skandal über den Roosevelt-Biografen Conrad Black, der ein "Schurke" sein soll, und Paul Goldberger kommentiert die Ausschreibung für das World Trade Center Memorial. Joan Accocella rezensiert eine Biografie über Lucia Joyce, der Tochter von James Joyce (Farrar, Straus & Giroux), und die Kurzbesprechungen beschäftigen sich unter anderem mit einer sehr gelobten Kulturgeschichte von Ballet, modernem Tanz und Choreografie.

In weiteren Besprechungen feiert John Lahr das Musical "Caroline, or Change" von Tony Kushner ("Weg aus der Sackgasse der überfrachteten Musicals der letzten dreißig Jahre"), und Nancy Franklin lobt die TV-Adaption von Kushners "Meisterwerk" und "wichtigsten Theaterstück der letzten zehn Jahre", "Angels in America". David Denby stellt zwei neue Filme vor: "The Last Samurai? von Edward Zwick mit Tom Cruise in der Hauptrolle und "The Missing" von Ron Howard.

Nur in der Printausgabe: Eine Reportage über den neuen Trend Vintage-Mode, ein Bericht über die Affäre um den Selbstmord des britischen Wissenschaftlers David Kelly, ein Porträt des russischstämmigen amerikanischen Choreografen George Balanchine (mehr hier) anlässlich dessen 100. Geburtstags, und Lyrik von Les Murray und Jane Mayhall.
Archiv: New Yorker

Espresso (Italien), 04.12.2003

Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk (mehr) stellt eine interessante These auf, die auch noch wunderschön zu lesen ist. Die Zukunft unseres Kontinents lässt sich an unserem Geld ablesen. Alles abstrakt, pastellfarben, ohne Menschen. Das Geld löst sich von der Arbeit, wir werden bezahlt, um nicht zu arbeiten. Ein Vorläufer war offensichtlich der 1000-Zloty-Schein aus Stasiuks Kindheit: "Ganz sozialistisch-realistischer Stil. Man sah Kopernikus mit einer Tierkreis-Karte des Himmels. Es war eine Banknote, die man nicht mit ermüdender Arbeit verband. Auf jeden Fall gefiel der 1000-Zloty-Schein meiner Mutter nicht. Sie war nie ganz überzeugt, dass man dafür auch wirklich etwas bekommen würde."

Lucio Caracciolo stellt im Aufmacher des Heftes die Frage aller Fragen: Wie können wir den Terrorismus stoppen? Nach der Feststellung, dass der Terror kein Feind ist, sondern eine Technik, kommt Caracciolo auf eine dreiteilige Strategie: "Mit einer größtmöglichen Koalition den Krieg de-amerikanisieren. Das Militär entschieden und kontinuierlich einsetzen. Das Vertrauen zwischen Orient und Okzident wieder aufbauen." Die eierlegende Wollmichsau, italienische Variante.

Gute Nachrichten für den Espressso: Nach einer Umfrage würde Berlusconi im Augenblick in 19 der 20 italienischen Regionen gegen Prodi verlieren. Doch die Wahl ist weit. Giorgio Bocca hofft in seiner Kolumne auf die jungen Araber: Nur sie können bestimmen, ob die Entscheidung zwischen einem moderaten und integralistischen Islam mit Gewalt oder Argumenten ausgefochten wird.

Jacaranda Falck entdeckt die Generation XXX. Dabei lässt sie es sich aber nicht nehemn, ihren besorgten Bericht über den steigenden Pornokonsum im Netz mit einem genregerechten Foto zu illustrieren. Gusieppe Ortolani stellt den Band "Disinformation Technology" vor, in dem die Lügen des WWW aufgelistet werden.
Archiv: Espresso

Vestnik (Russland), 12.11.2003

Die seit 1990 in Baltimore/USA erscheinende russische Wochenzeitung setzt sich in ihrer aktuellen Ausgabe mit der "Tragödie Solschenizyn" auseinander. Der russische Nobelpreisträger und Schriftsteller hat sich nach der Veröffentlichung seines letzten Buchs vor drei Jahren aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen und sich "aufgrund der gegen ihn erhobenen Antisemitismusvorwürfe in eisernes Schweigen gehüllt", schreibt Semjon Resnik. In dem zweibändigen Opus "Zweihundert Jahre zusammen" hatte Alexander Solschenizyn den Versuch unternommen, die zweihundert Jahre alte russisch-jüdische Geschichte aufzuarbeiten und zu analysieren. Seitdem werden ihm Zitate wie "die jüdisch-leninsche Revolution" und "an allem Übel sind die Juden Schuld" angelastet. Die Hoffnung, er werde sich in dem unlängst in der russischen Internet-Zeitung Lenta von ihm veröffentlichten Artikel "Zweihundert Jahre" zu den Vorwürfen äußern, wurde leider enttäuscht: "Solschenizyn verliert sich mit großer Leidenschaft in Schmähungen und überhäuft ehemalige KGB-Mitarbeiter und Militärangehörige mit Anschuldigungen, ohne sein Buch auch nur zu erwähnen".
Archiv: Vestnik

Economist (UK), 28.11.2003

Diese nervtötenden Polen! Sie wollen einfach nicht den Mund halten!, klagt der Economist in gespielter Entrüstung. Denn es mag ja sein, dass sich die Polen in den Verhandlungen um die europäische Verfassung nicht gerade wie Gentlemen benehmen, wenn sie auf das ersichtlich ungerechte Stimmenverteilungsmodell von Nizza pochen, aber tun das nicht auch Frankreich und Deutschland, wenn sie die Anforderungen des Stabilitätspaktes zum Teufel fahren lassen? "Die Einsicht, dass Polen und die sieben anderen zentraleuropäischen Staaten, die im nächsten Jahr (zusammen mit Malta und Zypern) beitreten, eventuell genauso gültige Auffassungen haben wie die sechs 'Gründerstaaten', scheint deren Vorstellungskraft zu übersteigen." Die Art, wie die Neuankömmlinge abgefertigt würden, findet der Economist schlichtweg ekelhaft. Sie dürfen sich zu Wort melden, wenn es um nichts geht, aber "jetzt wo die Verfassungs-Verhandlungen zur Krise geraten, werden die Polen wieder eingeladen, doch bitte 'den Mund zu halten'. Bis jetzt haben sie diese Einladung abgelehnt. Ach nein, wie schockierend."

Es lebt sich länger in Oxford und Cambridge lautet das Ergebnis einer langjährigen Langlebigkeitsstudie. Wen wundert's: "Du arbeitest an der Sache, die dich am meisten interessiert, größtenteils in deinem eigenen Rhythmus. Die Umgebung ist schön, die Kollegen anregend. Du treibst ein wenig Sport, das Essen ist ausgezeichnet", und das Beste von allem: "ein seit langem verstorbener Philanthrop bezahlt die ganze Rechnung".

Weitere Artikel: Geradezu begeistert zeigt sich der Economist von Lord Conrad Blacks historisch kluger und literarisch präziser Roosevelt-Biografie.
Archiv: Economist
Stichwörter: Nizza, Zypern, Lorde, Malta

Nouvel Observateur (Frankreich), 27.11.2003

"Der Islam wird weder eine Identität darstellen, noch wird vor allem ein Anstoß gegen die Modernität und die Aufklärung des Individuums von ihm ausgehen", stellt der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun (mehr hier) in seinem "Das arabische Gefängnis" überschriebenen Debattenbeitrag fest. Jelloun antwortet darin auf das Buch von Jean Daniel ("La prison juive", Editions Odile Jacob). "Die arabische Welt ist eine Vorstellung, die von zweifellos aufrichtigen Nationalisten erfunden wurde, die allerdings ebenso wenig etwas miteinander zu tun haben wie sie demokratisch sind. Es handelt sich dabei um eine Vorstellung, die nichts mit der Realität zu tun hat. Was haben diese Millionen von Arabern denn gemeinsam? (...) Die arabische Welt würde es erst dann geben, wenn sie vereint wäre - nicht durch das irrational Religiöse oder eine unklare Leidensgeschichte, nicht durch die einschläfernden Litaneien der schönen Lieder von Oum Kalsoum, sondern durch ein ernst zu nehmendes Wirtschaftsprogramm, eine Einheitswährung, durch die Abschaffung von Grenzen und Visa, durch die freie Ausübung von Demokratie mit all ihren Anforderungen, Tugenden und Schwächen."

In einem Interview erklärt Alain Resnais, warum er für seinen jüngsten Film "Pas sur la bouche" auf einen Operettenstoff aus den Zwanziger Jahren zurückgegriffen hat, in dem alle Charaktere ein "bisschen verrückt" seien, und den er auch genreübergreifend inszenierte: die Schauspieler wechseln übergangslos von gesprochenen zu gesungenen Dialogen.

Außerdem lesen wir ein Porträt des Philosophen Michel Onfray, dessen von ihm in Caen gegründete Universite populaire außerordentlich erfolgreich ist und der zwei neue Essays über das Wesen der Kunst publiziert hat ("Feeries anatomiques. Genealogie du corps faustien", Grasset, und "Archeologie du present. Manifeste pour une esthetique cynique", Biro). Rezensiert wird eine Biografie über den rumänischen Religionswissenschaftler Mircea Eliade (hier; "Mircea Eliade, le prisonnier de l?histoire", La Decouverte), die sich auch mit dessen Bewunderung für Hitler beschäftigt ("Wirklich erstaunlich, wie es ihm gelang, seine extrem rechte Vergangenheit auszuradieren"), und ein "literarischer Spaziergang" durch England, dem eine Reihe von Fernsehporträts über 26 Schriftsteller der Insel von Shakespeare bis Le Carre zu Grunde liegt. Hingewiesen wird schließlich noch auf zwei Picasso-Ausstellungen in der Pinacotheque de Paris und im Musee Picasso.

Outlook India (Indien), 08.12.2003

It?s all about branding! Regierung und Industrie suchen nach einer griffigen Formulierung, die Indien in der Welt positioniert, und Outlook sucht mit. "Indien ist alles unter der Sonne" wäre nicht schlecht, findet Manu Joseph, aber da war Spanien schneller. Und überhaupt: Wie vermarktet man ein Land wie Indien? Indem man die Wahrheit sagt? Welche denn? Fest steht, dass sich Indiens Image ohnehin schon gewandelt hat - es kommen nicht mehr so viele, die "in Indien Antworten suchen, anstatt Google zu benutzen", dafür gelten Inder neuerdings automatisch als schlau. "Was zum Teufel ist Indien?" fragt Joseph und antwortet salomonisch: "Indien ist dies und das, und noch ein bisschen mehr in den Fußnoten."

Dass überdurchschnittliche Intelligenz scheinbar das neue indische Stereotyp ist, fiel auch Seema Sirohi auf, als sie sich in den USA umgehört hat - besser als das alte, findet sie, und denkt mit Grauen an die "dummen Fragen über Elefanten" zurück. Und dann ist da natürlich noch Bollywood, ergänzt Sandipan Deb, der an den seltsamsten Orten der Welt auf Hindi-Filme angesprochen wird. Apropos Branding: "Können wir nicht damit aufhören, uns in Bezug auf einen Vorort von L.A. zu definieren? Können wir aufhören, unsere Filmindustrie Bollywood zu nennen? Es wäre ein Anfang."

Schließlich zwei Rezensionen: Nilanjana S. Roy ist maßlos enttäuscht von Radhika Jhas Kurzgeschichtenband "The Elefant and the Maruti", und Ajith Pillai macht kurzen Prozess mit David Beckhams Autobiografie: "Sans Spice"!
Archiv: Outlook India

Etcetera (Mexiko), 01.11.2003

Zwei ausgezeichnete Zeitschriften gilt es diese Woche in Lateinamerika zu entdecken. Als eine wahre Fundgrube entpuppt sich die Internet-Ausgabe des mexikanischen Medienmagazins Etcetera, das gerade sein dreijähriges Jubiläum feiert. Erklärt wird dort beispielsweise wie schlecht es um die Internet-Strategien lateinamerikanischer Zeitungen steht. "Das Problem ist, dass unsere Medien mimetisch vorgehen. Sie basieren ihre Entscheidungen darauf, was in den Industrieländern in Gang gesetzt wird", schreibt etwa Antulio Sanchez anlässlich der Entscheidung der besten mexikanischen Tageszeitung, Reforma, ihre Inhalte nur noch kostenpflichtig ins Netz zu stellen. Reforma hat sich das bei der spanischen El Pais abgeguckt, wo es allerdings auch nicht funktioniert hat, wie Sanchez zu berichten weiß. "Wenn es schon dort nicht klappt, wie soll es erst in Lateinamerika mit seinen relativ wenigen und langsamen Internet-Zugängen gut gehen?", wundert sich der Autor.

Für die Print-Jubiläumsausgabe haben Koryphäen wie Gabriel Garcia Marquez und der Argentinier Tomas Eloy Martinez Beiträge beigesteuert, die aber nicht frei zugänglich sind. Das ist nicht weiter schlimm, denn dafür gibt es eine Kurzgeschichte des Kubaners Eliseo Alberto und jede Menge andere Beiträge, wie Überlegungen zu den in Lateinamerika sehr wichtigen kommunalen Radios. Auch das Stöbern in vergangenen Ausgaben lohnt sich. Da wären zum Beispiel Debattenbeiträge zu der allerorts um sich greifenden "telebasura", dem auf unterstem Niveau produzierten "Fernsehschrott". Kommunikationswissenschaftler Sergio Octavio Contreras versucht sich an einer Bestandsaufnahme der Reality-Shows und muss feststellen, dass in dieser "Pornographie des Vergänglichen" jegliche "Idiotie zur Tugend" wird. Indes berichtet Jorge E. Navarijo, ein mexikanischer Korrespondent in Spanien, was sich so im Reich von Jose Maria Aznar tut. Schon der erste Satz ist ein Volltreffer: "Willkommen im schlechtesten Fernsehangebot der Europäischen Union".
Archiv: Etcetera

Encuentros (Spanien / Kuba), 28.11.2003

Entdeckung Nummer zwei ist die Internet-Ausgabe von Encuentros, einer Zeitschrift zum Ideenaustausch zwischen daheim gebliebenen und ins Exil gegangenen kubanischen Intellektuellen, die in den Neunzigern vom mittlerweile verstorbenen Romancier Jesus Diaz gegründet wurde. Ansprechendes und klar gegliedertes Layout, ausführliche Reportagen, aktuelle Meldungen, lebendige Diskussionen auf der Leserbriefseite: Encuentros ist mit das Beste, was das spanischsprachige Internet derzeit zu bieten hat. Die Beurteilung der aktuellen Lage auf Kuba fällt dabei sehr kritisch aus. Woran liegt es, dass sich so viele Frauen auf der Insel das Leben nehmen?, wird zum Beispiel in Miami gefragt . Ein Bericht aus La Havanna indes beschreibt, wie im Zuge der Drogenbekämpfung gleich die Punkmusik mit unterdrückt wird.

Dabei blickt Encuentros auch über den Tellerrand und diskutiert zum Beispiel mit der venezolanischen Historikerin und Ethnologin Elizabeth Burgos über die lateinamerikanische Linke. Die Lebensgefährtin von Regis Debray und "Entdeckerin" der guatemaltekischen Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchu hat mittlerweile sehr wenig für Fidel Castro übrig. Kritisch geht Burgos, die in Paris lebt, auch mit Europas "herablassender Haltung" gegenüber Lateinamerika und der häufigen Verklärung Kubas ins Gericht: "Hier in Paris wird gemeint, dass die Menschen in der Dritten Welt sich mit ein bisschen Medikamenten und Erziehung zufrieden geben sollten. Was sie hierzulande nie akzeptieren würden, halten sie dort für normal".

Der bereits erwähnte Eliseo Alberto steuert auch hier einen Text bei: eine wunderbare Reportage über Kid Chocolate. Der hieß mit richtigen Namen Eligio Sardiñas Montalvo und war zwischen 1930 und 1933 Boxweltmeister im Fliegengewicht. Bevor er später an seinem eigenen Erfolg zu Grunde ging, gelang es allenfalls seinen "111 Geliebten, ihn im Nahkampf niederzustrecken".
Archiv: Encuentros

Times Literary Supplement (UK), 28.11.2003

"Can blue men sing the whites?" - Mark Kidel singt eine Hymne auf Arthur Kemptons brillante, scharfsinnige Geschichte des schwarzen Pop "Boogaloo". Von Sam Cooke über James Brown und Aretha Franklin bis zu Tupac Shakur ist alles drin, versichert Kidel, außerdem viel Witz, Wut und natürlich Blaxploitation. "Arthur Kempton ist zurecht wütend über die Ausbeutung der Schwarzen durch die Weißen. Er beschreibt sehr genau, wie sich die Einkommensunterschiede vergrößert haben, und legt überzeugend dar, dass der Teufelskreis aus Armut, Drogen und Gewalt das Leben der Schwarzen in den USA schwerer gemacht als jemals zuvor. Aber kulturell gibt es eine andere Geschichte zu erzählen - eine der gegenseitige Befruchtung, die sogar in einer ausbeuterische Beziehung entstehen kann."

Die Briten streiten mal wieder über Britten. Die Highbrows finden ihn zu lowbrow, umgekehrt ist es genauso. Der Tenor Ian Bostridge nimmt ihn gegen seine Kritiker in Schutz: "Mich beschleicht der Verdacht, dass ein Komponist, der es keiner Seite recht machen kann, etwas definitiv richtig gemacht haben muss."

Informativ und unterhaltsam findet Graham Robb Patricia Mainardis Buch "Husband, Wives and Lovers" über Ehe und Ehebruch im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts, als zu Madame Bovarys Zeiten. 1816 hatten nämlich, so Mainardis These, die alten Männer dafür gesorgt, dass die Scheidung wieder abgeschafft wird - aus Angst, angesichts der aufkommenden romantischen Ideale aus dem Rennen geschlagen zu werden. Oswyn Murray deckt die verborgenen Seiten von Bulwer Lytton auf, nämlich seine ernsthaften Arbeiten zur antiken Geschichte. Alan Jenkins bespricht die Bill-Viola-Ausstellung in der National Gallery.

Folio (Schweiz), 01.12.2003

In dieser Ausgabe dreht sich alles um den schlechten Geschmack. Der Philosoph Konrad Paul Liessman versucht sich an einer Definition des Kitschs und muss feststellen, dass sich die röhrenden Hirsche, die treuherzig blickenden Porzellanpudel, und die blinkenden Madonnenbildchen allesamt seinem Definitionsversuch entziehen. Was also sagen die Großen dieser Welt? "Allen prominenten Verdikten über den Kitsch ist eines gemeinsam: der Vorwurf, dass Kitsch verlogen sei, dass er die Zerrissenheit der Welt mit einem Gefühlsbrei zukleistere und dabei nach standardisierten Formeln verfahre. Diese Kritik setzt zweierlei voraus: dass der Kitsch mit der Kunst konkurriere und dass es der Kunst um die Wahrheit gehen müsse. Fallen diese Voraussetzungen weg, wird es schwierig, die Kritik am Kitsch aufrechtzuerhalten." Doch manchmal wird Kitsch zum Kult. Gibt es also auch Kitsch, der sich nicht zum Kult eignet, sozusagen echten Kitsch? Soviel zur Theorie, vielleicht hilft die Praxis.

Andrea Strässle lehrt uns in zehn anschaulichen Schritten, wie man einen Arztroman schreibt. Aber bitte mit Schmalz: "Ihr Anblick brach ihm fast das Herz. Schüchtern nahm er, der sonst so zupackend war, ihre schmale Hand. Sie zitterte. 'Alles wird gut', sagte er weich. Wie gerne hätte er Julia jetzt in seine Arme geschlossen! Mitleid und brennende Sehnsucht erfüllten ihn."

Weitere Artikel: Karl Lüönd rückt dem wohl größten Klischee-Nest der Welt auf den Leib: der politischen Gesinnung. Lilli Binzegger geht ganz in Rosa. Frank Zauner verliert sich in der gerührten Betrachtung einer Schneekugel. Andreas Dietrich spricht mit der singenden Eiche Heino. Catherine Arbers Herz schlägt für die Madonnenverehrung im portugiesischen Fatima. Mini Cooper, Lassie, die alien-artige Alessi-Zitruspresse, das Hermes-Foulard und die einsame Insel: Kitsch oder Kult? Die Jury entscheidet. Und am bitteren Ende stirbt Winnetou noch einmal für uns.

Außerdem: Luca Turin kennt Parfums, die den Frauen Mut abverlangen. Und zuletzt: Nicht über Monty Pythons "Leben des Brian", sondern über eins der bizarrsten Experimente in der Geschichte der Psychiatrie berichtet Reto U. Schneider. Milton Rokeach führte 1959 drei Männer zusammen, die glaubten, ein und derselbe zu sein, nämlich Gott.
Archiv: Folio

Merkur (Deutschland), 01.12.2003

In einem Essay über die Schönheit, das Martyrium und den Fetischcharakter der Mode kommt Ingeborg Harms auf folgenden Gedanken: "Die Verpackung hat das Unsterblichkeitsversprechen des klassisch Schönen beerbt. Während das zu vermarktende Produkt einen Gebrauchswert besitzt und aus dem begrenzten Reservoir der Natur recycelt wird, fügt ihm die fetischistische Verpackung eine Aura der Immunität hinzu."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Bernhard Schlink (mehr hier) bewältigt eine "kleine Vergangenheit": die der juristischen Fakultät von Heidelberg. Dabei kommt er zu der Erkenntnis, dass man sich nicht nur durch Macht oder Geld korrumpieren lassen kann, sondern auch durch die gute Absicht. Armin Schreiber vermisst in der Kunst "bildhafte Vergegenwärtigungen epiphanischer Zustände von Möbeln, Autobahnen, Runkelrüben". Ein leicht sentimental gestimmter Burkhard Müller vermisst die Geflügelten Worte: "Ein Gespräch, das Zitate schwängern, denke ich mir wie die Atmosphäre eines Salons, wo in den Vasen ein halbes Dutzend mitgebrachter Sträuße steht, ein wenig drückend, aber charmant." Leopold Federmair lehrt uns die Sprache des zeitgenössischen Krimis: "Schlagfertigkeit einerseits, bedächtiges Insistieren andererseits; männliche Lässigkeit sowie die Neigung, geschwind einmal nach dem Sinn der Welt zu fragen."
Archiv: Merkur

Spiegel (Deutschland), 01.12.2003

Im Interview spricht der chinesische Außenminister Li Zhaoxing über die Bereitschaft Chinas zur politischen Öffnung. Was er über die Unabhängigkeit Taiwans zu sagen hat, klingt allerdings eher gruselig:
"Spiegel: Ihre Regierung hat aber mit einem Militärschlag gedroht, falls die Taiwaner es wagen, ein Referendum über die Unabhängigkeit zu organisieren. Sollte es zu einem Krieg kommen, wären die Olympischen Spiele in Peking gefährdet. Wollen Sie das riskieren?
Li: Ich bin da gar nicht skeptisch. Die Spiele werden sehr erfolgreich sein. Ich glaube nicht, dass irgendjemand in der Lage ist, sie zu verhindern, auch Herr Chen Shui-bian nicht ...
Spiegel: ... der taiwanische Präsident.
Li: Wenn jemand irrsinnig genug ist, das zu versuchen, dann wird er kein gutes Ende nehmen. Die taiwanischen Unabhängigkeitskräfte unter Chen Shui-bian haben einen sehr gefährlichen Weg eingeschlagen. Sie wollen Taiwan vom Mutterland abspalten. Wir dürfen nicht erlauben, dass sie damit Erfolg haben."

Nur im Print: Ein Gespräch mit Doris Lessing "über ihre besondere Beziehung zu den Deutschen" und ihren Roman "Ein süßer Traum". Im Titel geht es um Menschen, die "weder Glück noch Trauer" empfinden können, was angeblich auf jeden Zehnten zutrifft. Dafür, erfahren wir, haben Schnecken Emotionen.
Archiv: Spiegel

New York Times (USA), 30.11.2003

Wir suchen die hundert besten Deutschen, Charles Murray die weltweit besten Wissenschaftler, Weisen und Künstler. Zuckersüß zerreißt Judith Shulevitz Murrays Versuch ("Human Accomplishment", erstes Kapitel), "diese großen Männer (und manchmal auch Frauen) danach zu bewerten, wie viele Spalten die Herausgeber der Enzyklopädien ihnen gewidmet haben". Das Ergebnis dieser "objektiven" Methode ist klar. "Der Westen hat die größte Anzahl an wichtigen Beiträgen zur Erkenntnis und Kunst hervorgebracht, und tote weiße Männer waren kreativer als die tote weibliche Minderheit."

Paul Austers Thema ist "das lebendige Wesen von Geschichten - Geschichten die sich auf sich selbst in endloser Mehrdeutigkeit zurückbiegen, wie Möbiusbänder", notiert Stacey D'Erasmo ganz verzaubert angesichts von "Oracle Night" (erstes Kapitel). Ein Schriftsteller, dem nichts mehr einfällt, bekommt ein exotisches Tagebuch in die Hände, das ihn mit neuen literarischen Impulsen versorgt. Allerdings verschwindet er selbst als Autor, je mehr er davon in sich aufnimmt. "Chandler meets Borges", resümiert D'Erasmo entzückt.

John Updikes "Early Stories" (Exzerpt), ein Band mit Erzählungen von 1953 bis 1975, enthüllen für Cynthia Ozick einen Künstler, der nichts verloren gibt, für den das Sehen mit den feinsten Wendungen der Sprache verknüpft ist". In den Himmel lobt David Warsh Clintons Finanzminister Jack Rubin, der in seinem "Juwel von einem Buch" ("In an Uncertain World", erstes Kapitel) seine damals exerzierte Rubinomics erklärt. "Die Anhäufung von purem Talent in den Beamten des Wirtschaftssektors der Clinton-Regierung dieser Jahre ist wirklich erstaunlich." Allen, die noch Fragen über Gründe, Taktiken und mögliche Folgen des Irak-Kriegs beantwortet haben wollen, empfiehlt Michael Lind Todd S. Purdums "A Time of Our Choosing", das auf der Berichterstattung der New York Times basiert. Dazu gibt es ein Interview mit Purdum zum Anhören.

Zu guter Letz tein Gedicht, "Filling the Cavity With Crumbs", von Susan Kinsolving. Ein Auszug:

"My almost-ex overcooked cranberries until/
they exploded across his shirt like a machine gun,/
proving him, the victim."
Archiv: New York Times