Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
15.12.2003. In der Lettre erzählt Laszlo Krasznahorkai von seiner Reise zum Jiuhuashan, einem heiligen Berg der Buddhisten. Outlook India porträtiert Bollywoods Wunderkind: den Regisseur Karan Johar. Der New Yorker hört im Geiste, wie Tolkien "Nothung! Nothung!" singt. Reportajes schildert den Krieg zweier Riesen-Egos. Die Literaturnaja Gazeta will von Irina Denezkina keine Liebes- sondern Naturbeschreibungen. Das TLS empfiehlt gesalzenen Thunfischmagen. In L'Express kritisiert Michael Ignatieff sehr scharf die europäischen Intellektuellen. In der Kommune berauscht sich Victor Pfaff an der Erotik des Haars.

Lettre International (Deutschland), 01.12.2003

Laszlo Krasznahorkai macht sich mit einem Dolmetscher auf eine Busfahrt zum Jiuhuashan, einem heiligen Berg der Buddhisten. Unterwegs steigt eine Frau ein, die unseren Reporter in eine Sinnkrise stürzt. "... das ganze Geschöpf war vollkommen durchnässt, so nass, dass noch minutenlang Wasser von ihm troff, und so erweckte die Arme den elenden Eindruck eines zottigen ausgesetzten Köters, zudem war sie ein völlig indifferentes Wesen, sie hatte etwas an sich, das mir von hier, eine Reihe schräg hinter ihr, das Betrachten ihres Gesichtes zum Beispiel vergeblich machte, es war ein in jeder Hinsicht ersetzbares Gesicht, ersetzbar durch jegliches andere, gleichsam der Mittelwert von einem Gesicht, das ich mir unmöglich merken konnte, vergeblich fixierte ich es, ich konnte es unmöglich von den anderen unterscheiden, weil es genauso war wie Tausende und Abertausende, wie Millionen und Abermillionen in dieser unfassbaren Menschenmenge, die China hieß ... und dann vollführte dieses auswechselbare, dieses überaus durchschnittliche, unauffällige Geschöpf - ohne auch nur irgend etwas an seinem auswechselbaren, durchschnittlichen, unauffälligen Wesen zu ändern - etwas vollkommen Unerwartetes ..."

Außerdem: eine Reportage von Sonia Jabbars aus Kaschmir. Ian Buruma beschreibt staunend die "bedeutendsten Standorte für Themenparks": Japan und China. Jean Malaurie ist überzeugt, dass die Naturvölker uns bald "zu einer erneuerten Sicht des Sakralen inspirieren" werden und beschreibt dies am Beispiel der Inuit. Tomas Eloy Martinez schildert Argentiniens Dekadenz. Dzevad Karahazan schreibt über das Ende der politischen Gesellschaft auf dem Balkan. Bora Cosic liest Dantes "Göttliche Komödie" als Beschreibung eines Irrenhauses. Der 1990 verstorbene Wenedikt Jerofejew beglückt uns mit einer Frohen Botschaft (Evangelium nach Jerofejew). Chalmers Johnson beschreibt die sagenhaften Gewinne, die einige Firmen mit dem Irakkrieg gemacht haben, und und und ...

Cultura y Nacion (Argentinien), 13.12.2003

Das ist der Vorteil, wenn man auf der südlichen Hälfte dieser einen Welt lebt: N, die bis vor kurzem noch ein wenig pompös Cultura y Nacion genannte Kulturbeilage der argentinischen Tageszeitung Clarin, bringt pünktlich zu Weihnachten die bei Zeitungslesern wie -machern weltweit so beliebten Lesetipps für den eben anbrechenden Sommer; hier die den lesehungrigen Argentiniern zum Mitnehmen an den Strand empfohlenen Romane, hier eine Handvoll Bestseller.

Vor allem aber schärft die Entfernung natürlich den Blick für die Geschehnisse auf der nördlichen Halbkugel: In einem gerade dieser Tage höchst lesenswerten Interview findet der (u. a. in der FAZ für seine brillanten Essays gefeierte) spanische Ex-Diplomat und Islamwissenschaftler Jose Maria Ridao, soeben mit großen Ehren empfangen in Buenos Aires, deutliche Worte für die Schwierigkeiten des Nordens beziehungsweise Westens im Umgang mit den "barbarischen" Völkern und Kulturen der übrigen Welt: "In den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren hat sich in Europa ein neuer Begriff von Kultur durchgesetzt. Bis dahin war Kultur ein aufklärerischer Begriff, sein Gegenteil hieß Unwissenheit. Heute dagegen benützen wir den Begriff Kultur im romantischen Sinne, heute setzen wir Kultur gleich mit Tradition, und das Gegenteil von Kultur ist eine andere Kultur, und das Gegenteil dieser anderen Kultur wieder eine andere Kultur und immer so weiter."
Stichwörter: Argentinien, Buenos Aires

Reportajes (Chile), 14.12.2003

Ein chilenischer Sängerkrieg: In Reportajes, der Kulturbeilage der chilenischen Tageszeitung La tercera (einfacher Zugang nach kostenloser Registrierung), berichtet Andres Gomez von der nach Verleihung des Cervantes-Preises 2003 an den chilenischen Dichter Gonzalo Rojas wieder aufgelebten Feindschaft zwischen Rojas (geb. 1917) und seinem Landsmann und Dichterkollegen bzw. -konkurrenten Nicanor Parra (geb. 1914), der bei der diesjährigen Preisverleihung seinerseits bis in die Endausscheidung gelangt war. Die Sache reicht über dreißig Jahre zurück und spaltet auch die Anhängerschaft der beiden neben Pablo Neruda wichtigsten chilenischen Dichter des 20. Jahrhunderts. Grund der Animositäten sind gegenseitige Vorwürfe wegen des Verhaltens des jeweiligen Kontrahenten angesichts der Militärdiktatur Augusto Pinochets, aber es geht ganz offensichtlich auch um die Hegemonie im Reich der Poesie. "Hier stoßen zwei Riesen-Egos aufeinander. Rojas arbeitet daran, Nicanor ebenso. Zwei Olympier, die sich einfach nicht versöhnen wollen", erklärt der Literaturkritiker Luis Sanchez Latorre.
Archiv: Reportajes

Kommune (Deutschland), 01.12.2003

Die Kommune streitet in dieser Ausgabe über das Kopftuch. Eine nahezu heitere Gelassenheit legt Victor Pfaff in seinen Ausführungen über die Erotik des Haars an den Tag: "Lassen wir Frau Ludin (mit Kopftuch) unterrichten über die persische und arabische Liebeslyrik der islamischen Zeit. Die Schüler würden entdecken, dass die Augenbraue von großen Poeten des Vorderen und Mittleren Orients in immer neuen und immer kühneren Bildern besungen wurde, von Hafis, von Nezami - genau wie das Haar in Europa. Der winzige Haarstreifen über dem Auge, über dem Eingang zur Seele, genügte, eine Kultur verführerischer Phantasie gedeihen zu lassen und sie öffentlich zu machen. Diese orientalische Poesie lehrt uns: Das Kopftuch ist unzulänglich, es erfüllt seinen Zweck gar nicht. Konsequent ist allein die Burqa."

Siegfried Knittel dagegen will kein Kopftuch sehen, das Recht auf individuelle Selbstbestimmung ist in seinen Augen schlicht und einfach zweitrangig gegenüber dem Gleichheitsgrundgrundsatz.

Weiteres: Für den Schwerpunkt "Jenseits der Erlösung" untersucht Michael Jäger in einem ausführlichen Essay den theologischen Gehalt der modernen Geschichtserzählungen. Christoph Fleischmann empfiehlt auch Nichtgläubigen, sich an den Philosophen Christoph Türcke zu halten und die Welt so zu interpretieren, als ob es Gott gebe. Denn "wenn es keinen gibt, der den Stuhl des Herrschers freihält, setzt sich wohl früher oder später doch irgendjemand darauf".

Zwei Artikel befassen sich mit der Ressource Wasser, wobei Roland Schaefer mit dem Irrglauben aufräumen möchte, dass es Wasser an sich gibt. Wie man das ja vom Geschlecht kennt, gibt es auch dieses Gut nur "kulturell geformt". Staatssekretärin Uschi Eid ist es dagegen egal, ob sich private oder öffentliche Hände ums Wasser kümmern. Hauptsache jemand macht es. Michael Opielka plädiert für eine Bürgerversicherung mit Grundrente. Und in einem Rundumschlag zur allgemeinen weltpolitschen Lage befasst sich Istvan Eörsi (mehr) mit Susan Sontag und Imre Kertesz. Dabei hüpft er beschwingt von einem Zitat zum anderen, streift mal den Irakkrieg und mal "eines der entscheidenden Dilemmas unser Zeit": "Gibt es im moralischen Sinn einen Unterschied zwischen privatem und staatlichem Terrorismus?"

Archiv: Kommune

Moskowskije Novosti (Russland), 13.12.2003

Als Reaktion auf die Weigerung des russischen Fernsehsenders NTW, den Dokumentarfilm "Alexander Solschenizyn - seine Freunde und Feinde" zu senden, hat Moskowskije Novosti beschlossen, einige der in dem Film interviewten Intellektuellen zu Wort kommen zu lassen. Viktor Jerofejew, Roy Medwedew, Wladimir Bukowski und andere Geistesgrößen diskutieren über "einen der unverständlichsten und zugleich interessantesten Zeitgenossen, ? den lebenden Beweis dafür, dass Antistalinist und Antikommunist zu sein noch lange nicht bedeutet, Demokrat zu sein." Solschenizyn hatte sich gegen die Ausstrahlung des Films ausgesprochen, da er laut MN "lieber allein vor der Kamera" steht und "keine anderen neben sich" haben möchte.

Express (Frankreich), 11.12.2003

Der Express bringt ein spannendes Gespräch mit dem Harvard-Historiker Michael Ignatieff (mehr hier und hier und hier), der den Irak-Krieg unterstützte, obwohl er sich zur Linken zählt. Ein Interventionsrecht des Westens leitet er aus der Tatsache ab, dass Terroristen heutzutage über Massenvernichtungswaffen verfügen können - "die UNO ist hierfür nicht gemacht worden". Sehr scharf kritisiert Ignatieff die Position Frankreichs und der EU: "Europa enttäuscht mich seit dem Jugoslawienkrieg: Es hat vier Jahre und 200.000 Tote abgewartet, bevor es intervenierte. Dieser Skandal hat viele liberale Intellektuelle in den USA desillusioniert. Ihr Europäer habt die Last des Verteidigungsbudgets auf die Amerikaner abgewälzt, und nun zieht ihr die USA aus Antiamerikanismus durch den Dreck! Das muss aufhören. Wenn Europa eine multilaterale Welt will, muss es militärische Kapazitäten aufbauen und bereit sein, sie zu nutzen. Wenn Europa tugendhaft sein will, muss es aufhören, französische Bauern auf Kosten der Bauern des Südens zu subventionieren. Europa darf keine Gesellschaft von Altachtundsechzigern werden, die sich wie egoistische Rentiers an ihre Privilegien klammern."

Durch die Ereignisse ein klein wenig überholt wirkt der Titel des Express: Er zeigt George W. Bush unter der Überschrift: "Der Mann, der uns dieses Jahr verdorben hat." Der Anfang des Artikels: "Er hat seine Kriegsziele im Irak nicht erreicht, er hat die Terroristen nicht terrorisiert, und er hat es nicht geschafft, ein wenig Ordnung in den Nahen Osten zu bringen."
Archiv: Express

New Yorker (USA), 29.12.2003

Hat Tolkien Wagners Ring geklaut? Dieser Frage geht Alex Ross in einem Text nach, der eingangs auch auf die sehr wagnerianische Filmmusik von Howard Shore eingeht ("ihm gelingt das Meisterstück, eine wagnerianische Atmosphäre zu schaffen, ohne das Original zu kopieren"). Zur Eingangsfrage weiß Ross dagegen zu berichten, dass Tolkien immer zurückgewiesen habe, seine Trilogie hätte irgendetwas mit Wagners Ring zu tun. "Beide sind rund, und damit hat es sich mit der Ähnlichkeit", soll er gesagt haben. Für Ross erscheint das auf Grund der Übereinstimmung von Details aus dem Nibelungenlied und Wagners "Walküre" "schwer glaublich": "Gib's zu, J.R.R., du bist doch auch mit dem Spazierstock fuchtelnd und 'Nothung! Nothung!' singend durch die Gegend gerannt, wie jeder andere närrische Oxfordianer auch."

Extra und aktuell: ein Beitrag zum Anhören, in dem Philip Gourevitch und George Packer über die Hintergründe und Folgen von Saddams Festnahme berichten. Zu lesen ist von Gourevitch außerdem eine Analyse, die den französisch-algerischen Konflikt mit der derzeitigen Situation im Irak vergleicht und eine Reportage von Packer über seine fünf Wochen im Irak.

Besprechungen: James Wood preist eine Neuübersetzung von "Don Quichotte" (Ecco), und Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem einem neuen Roman von Richard Harris und einer Studie über das Verhältnis zwischen Roosevelt und Churchill. Hilton Als begeistert sich für das Theaterstück "The Story" von Tracey Scott Williams, in dem es um "Rasse, Ehrgeiz und journalistische Werte" geht. Und David Denby sah im Kino das Südstaatendrama "Cold Mountain? von Anthony Minghella nach einer Vorlage von Charles Frazier, die Komödie "Something?s Gotta Give? von Nancy Meyers mit Diane Keaton und "Mona Lisa Smile" von Mike Newell mit Julia Roberts.

Viel Lesestoff in dieser Doppelnummer, vor allem viel Literarisches: So die Erzählungen "Debarking" von Lorrie Moore (hier) und "All Aunt Hagar?s Children" von Edward P. Jones (hier) sowie eine Reihe von "Wintergeschichten" von Maile Meloy, David Sedaris, Ian Frazier, Mary Robison und Louise Erdrich. Und George Saunders erinnert sich an das Weihnachtsfest 1984, das so richtig in die Hose ging.

Nur in der Printausgabe: Elizabeth Kolbert auf der Spurensuche nach Lorca in Spanien, Donald Antrim erinnert sich an den Freund seiner Mutter und dessen Malerei, außerdem Lyrik von W.S. Merwin, Robert Pinsky und Eamon Grennan.
Archiv: New Yorker

Literaturnaja Gazeta (Russland), 10.12.2003

In der Rubrik "Ambitionen" geht Sergej Schargunow mit den jungen Vertreterinnen des "neuen Realismus" in der russischen Literatur hart ins Gericht: "Der neue Realismus zeichnet sich durch nichts anderes aus als durch Tempo, Deutlichkeit, Lakonie und einen verzweifelten Blick auf die Welt." Das immergleiche Schema, nach dem die Helden funktionieren - "sie lesen, sie erkennen, sie machen sich mutig auf die Suche nach sich selbst - und erstarren dann in Trägheit" - finde sich auch in den Erzählungen der soeben auf Russisch erschienenen Anthologie "Denezkina und Co.", in der die "Abgründe schamloser Schreibwut" der Twentysomethings nur all zu offensichtlich zu Tage treten. Auch wenn Irina Denezkinas Debütroman "Komm" auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse hymnisch gefeiert wurde, ist Schargunow der Meinung, sie habe "nichts Wichtiges zu sagen". Anstatt über "Themen wie Liebe und Tod zu schreiben, die nur dann einfach sind, wenn man leichtfertig mit ihnen umgeht ?, fangen ernst zu nehmende Schriftsteller mit Naturbeschreibungen an."

Zum 85. Geburtstag von Alexander Solschenizyn veröffentlicht die Literaturnaja Gazeta in ihrer aktuellen Ausgabe einen Auszug aus dem ursprünglich nicht zur Publikation bestimmten Tagebuch (1960 -1991) des heimgekehrten Dissidenten und gewährt einen Einblick in die kürzlich unter dem Titel "Alexander Solschenizyn - ein russisches Phänomen" erschienene Biografie von Wladimir Bondarenko.

Outlook India (Indien), 22.12.2003

Auf dem Titel: Die Verkörperung von Bollywoods globalem Siegeszug, der Erfolgreichste und Jüngste der Traumfabrik - der Autor, Regisseur und Produzent Karan Johar. Zwar hat er gerade mal zwei Filme geschrieben und gedreht, doch es waren die beiden mit den weltweit meisten Zuschauern: "Kabhi Khushi Kabhie Gham" (Sometimes Happy, Sometimes Sad) und "Kuch Kuch Hota Hai" (Something is Happening). Der dritte Coup, "Kal Ho Naa Ho" (mehr), folgt jetzt - "Hollywood mit der Seele von Bollywood", wie das Wunderkind selber sagt, und ein Film, ergänzt Namrata Joshi, der New York aussehen lasse wie eine indische Stadt. Auf jeden Fall ein weiterer großer Wurf - schließlich hatte Karan es "nie darauf abgesehen, der Gott der kleinen Dinge zu sein". (Ein Interview mit Karan Johar hören Sie hier.) Was ein anderer Gott der großen Leinwand, Johars Star Shahrukh Khan (Bilder), über ihn denkt, steht hier.

Weitere Artikel: Anita Pratap blickt in einem gewohnt energischen Kommentar auf das zu Ende gehende Jahr zurück, in dem in Indien eine Erfolgsnachricht die andere jagte - ein "Feelgood-Syndrom", wie sie meint, das die deprimierenden Realitäten der meisten Inder einfach ausblende. Anupreeta Das widmet sich der Frage, ob der zunehmende Erfolg von indischen Politikerinnen irgendetwas an der Situation der Frau in der Gesellschaft verändert, und beantwortet sie zu ihrem eigenen Bedauern negativ. Und schließlich: Ein neues Ayodhya? B. R. Srikanth sieht einen weiteren religiösen Konflikt am Horizont heraufziehen, seit Vertreter der hindunationalistischen Regierungspartei BJP in der vergangenen Woche Ansprüche auf eine heilige Stätte sowohl der Muslime als auch der Hindus in Südindien angemeldet haben - einem Ort, der bislang als "Symbol kommunaler Harmonie" galt.
Archiv: Outlook India

Nouvel Observateur (Frankreich), 11.12.2003

"So lange ich den Islam kritisiere, applaudiert man mir, aber wenn ich gegen die Politik der USA protestiere, bringt man mich zum Schweigen", wundert sich die aus Bangladesch stammende Schriftstellerin Taslima Nasrin (mehr hier) in ihrem Debattenbeitrag über "ein unerträgliches Amerika". "Die Euphorie, mit der ich vergangenen September in Harvard, dem intellektuellen Herzen der Vereinigten Staaten, ankam, hat sich nach und nach verflüchtigt. Zunächst habe ich mehr als genug von den Lügen der amerikanischen Regierung. Und ich habe mehr als genug von der Heuchelei der Medien und der Ignoranz der Normalbevölkerung."

Die Kunst, erklärt der Künstler Christian Boltanski (mehr hier), ist "eine wilde Psychoanalyse", er selbst ein "Deprimierter mit heiterem Gemüt". In dem Interview, in dem er auch über seine Kindheit spricht, erläutert er unter anderem, warum er für seine Erinnerungsarbeiten ausschließlich mit Schwarzweißfotografien arbeitet: "Seltsamerweise birgt Schwarzweiß einen eigenen ästhetischen Wert, weil es sich von der Realität abgrenzt und auf Vergangenes verweist. Es beschwört auf unwiderstehliche Weise das Verschwinden. Nehmen Sie zum Beispiel meine schon ältere Arbeit 'Die Kinder aus Dijon': als die Leute diese 300 Fotos an der Wand gesehen haben, dachten sie, dass diese Kinder tot sind."

Im Titeldossier sorgt sich der Nouvel Obs um den zunehmenden Rassismus und Antisemitismus in Frankreich, berichtet über aktuelle Fälle (hier, hier und hier) und lanciert einen Aufruf, der unter anderem bereits von Jacques Attali Elisabeth und Robert Badinter, Frederic Beigbeder, Tahar Ben Jelloun und Bernard-Henri Levy unterzeichnet wurde.

Vorgestellt wird schließlich der Film "Apres vous" von Pierre Salvadori, eine Komödie mit Daniel Auteuil und Jose Garcia. Und in Kurzkritiken präsentieren Schriftsteller und Autoren vorwiegend Foto- und Bildbände; so schwärmt etwa Jacques Attali von einem Band, der von Bach bis Sibelius die "schönsten Partituren der klassischen Musik" vereint (La Martiniere).

Espresso (Italien), 18.12.2003

Der arabische Niedergang hat schon begonnen, bevor die Briten oder die Israelis den Nahen Osten besetzten, konstatiert der marokkanische Schriftsteller Tahar ben Jelloun (mehr) in seiner Kolumne. Eine Art arabische EU ist das Ziel, der Weg dahin noch weit. Denn das Gefängnis, in dem die Araber sich heute befinden, wird nicht durch einen Grenzzaun mit Todesstreifen (Interview mit dem Projektleiter), sondern durch eine Geisteshaltung begrenzt. "Wie der marokkanische Historiker Abdallah Laroui in 'Die arabische Ideologie der Gegenwart' (1967) festgestellt hat, 'quälen sich die Araber seit einem dreiviertel Jahrhundert mit nur einer Frage herum: Wer ist der Andere, und wer bin ich?'. Der Andere ist für die Araber der Okzident. Aber nachdem sie das definiert hatten, haben sie sich nicht die andere Seite dieser Gleichung vorgenommen. Deshalb diese Rückständigkeit, wo sich die Hingezogenheit zum Okzident mit Ablehnung mischt, die von den Extremisten in Hass und Rassismus verwandelt wird."

Im Titel wettert Chiara Valentini gegen das neue Gesetz, das den meisten Frauen in Zukunft eine künstliche Schwangerschaft verbietet. "Dieses Ergebnis trägt die Handschrift des Vatikans." Sonderkorrespondent Gigi Riva schreibt aus Bagdad, wie wenig der Krieg zu Ende ist. Die ausländischen Vertreter verstecken sich hinter Betonmauern, und wer doch mal raus muss, braucht "eine schusssichere Weste auch im Auto, eine gepanzerte Eskorte und viel Glück".

Im Kulturteil provoziert Alberto Dentice den Rockmusiker Marilyn Manson mit T.S. Eliot und Baudelaire, der kontert mit einem unbekannten Satanisten und Nietzsche. Cesare Balbo kündigt einen Hollywood-Streifen über den Untergang von Pompei an, unter der Leitung von Fernando Meirelles ("City of God"). Die bienenfleißige Monica Maggi präsentiert einen Überblick über alle Ausstellungen in Italien, die irgendetwas mit Erotik zu tun haben, von Chagall bis Crepax. Manche Schau wird dann auch näher besprochen.
Archiv: Espresso

Economist (UK), 12.12.2003

Wladimir Putin hat allen Grund, mit dem Ausgang der russischen Parlamentswahlen zufrieden zu sein, meint der Economist, schließlich ist die frisch gewählte Duma "der Albtraum eines jeden Demokraten: "drei Parteien, deren einzige Ideologie eine fast sklawische Loyalität zu Präsident Putin und ein mehr oder weniger starker Nationalismus ist, plus eine, die aus dem Abschaum von sieben Jahrzehnten totalitaristischer Machtausübung besteht." Doch vielleicht, überlegt der Economist, ist dies eher der Albtraum von jemandem, der gerne den Anschein erwecken würde, er sei Demokrat. Und in der Tat, Putin wirkt nicht glücklich.

In einem Pressefoto liest der Economist die Zukunft der französischen Schleier-Debatte: "Es war eine sorgsam gearbeitete Mediengelegenheit, zu einer Zeit, in der Frankreich fieberhaft über den Schleier stritt. Letztes Wochenende war Präsident Jacques Chirac in Tunesien, besuchte dort ein französisches Gymnasium und antwortete auf die Fragen der Schulkinder. Das Bild war ausdrucksstark: der Präsident eines weltlichen europäischen Staates, zu Besuch in einem weltlichen muslimischen Staat, umgeben von westlich aussehenden muslimischen Schulmädchen, und nicht ein Schleier in Sicht. So, schien der Präsident zu sagen, gefällt mir der Islam."

Weitere Artikel: Die Welt wird fett, und das ist nicht nur ungesund, sondern auch teuer, berichtet der Economist im Aufmacher, doch es gibt gute und schlechte Gründe der Fettleibigkeit den Kampf anzusagen. Passend dazu gibt es einen Überblick über die weltweite Entwicklung der Essensgewohnheiten. Unter anderem will Emma Duncan wissen, wie das britische Essen zu seinem schlechten Ruf kam, und erinnert sich, wie trostlos britische Supermärkte noch vor zwanzig Jahren aussahen (das Aufregendeste, was man sich unter Gemüse vorstellen konnte, waren Avocados).

Außerdem lesen wir einen Nachruf auf Sadeq Khalkhali, Irans Richter Gnadenlos, der gern Witze über Hinrichtungen machte. Und schließlich: Die eindeutig weltlichen Weihnachtskarten der britischen Regierung haben einen Skandal hervorgerufen, meldet der Economist amüsiert und kann sich eigentlich nur darüber wundern, wo doch so vieles an der weihnachtlichen Tradition heidnisch ist - vom Geschenkerausch ganz zu schweigen.
Archiv: Economist

Times Literary Supplement (UK), 12.12.2003

Wie wär es einmal mit Eselgulasch? Oder gesalzenem Thunfischmagen? Schöne Gerichte hat Paul Freedman in zwei neuen Büchern über die italienische Küche entdeckt - "Italian Cusisine" von Alberto Capatti und Massimo Montanari sowie "Al Dente" von William Black. Beide versuchen, freut sich Freedmann, Lebendigkeit, Herzhaftigkeit und Sonderbarkeit des italenischen Essens zu retten, die der eintönige Toskana-Kult immer mehr zu verderben droht.

Weitere Artikel: Wie schon in der vorigen Woche der Economist genießt nun auch E.S. Turner Lynne Truss' offensive Verteidigungsschrift der richtigen Zeichensetzung "Eats, Shoots and Leaves", die durch "bestialische Ingnoranz" und "nachlässigen Journalismus" in Gefahr geraten ist. Der Titel ist Ted Hughes gewidmet. Ganze 1.333 Seiten schwer ist die erste Edition seiner gesammelten Gedichte "Collected Poems". Edna Longley findet die Ausgabe so freudlos wie einen Grabstein. Dabei hat Hughes uns einmal geschockt, seufzt Lobgley, und zwar mit dem Beweis, dass Lyrik zählt und erheitern kann. Die Dichterin Ruth Fainlight (mehr hier) erzählt von ihrer Freundschaft zu Sylvia Plath (mehr hier) und Jane Bowles. Beide Texte sind leider nur auszugsweise zu lesen.

Spiegel (Deutschland), 15.12.2003

"Wissen Sie, ich langweile mich leicht. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, mich für eine Sache zu begeistern. Das funktioniert meistens nur für einen Augenblick", sagt Rickie Lee Jones (homepage) in einem Interview mit Wolfgang Höbel, während beide auf Anregung von Jones nebenbei Spielbergs "Catch Me If You Can" im Pay-TV schauen. Und in dem Jones am Ende fragt: "War das nicht toll? Wir haben etwas Neues ausprobiert." Und dann, berichtet Höbel, passiert es: "Rickie Lee Jones lächelt. Für ein paar Sekunden sieht sie richtig begeistert aus."

Weitere Artikel: Regisseur Peter Jackson plaudert im Interview über sein "King Kong"-Projekt und erzählt, wie er die New-Line-Studios von seiner "Herr der Ringe"-Trilogie überzeugte. Nikolaus von Festenberg und Marcel Rosenbach zeigen sich ziemlich ungerührt vom Abgang Harald Schmidts: "Die Untiefe von Schmidts Fernseh-WG war ausgereizt, der Meister selbst oft müde, indisponiert oder einfach belanglos." Und schließlich wird in einem umfangreichen Beitrag über die - kurz vor ihrem EU-Beitritt - noch immer ungemindert große Korruption in den osteuropäischen Länder berichtet.

Nur im Print: Ein Essay von Bernhard Schlink "über Biotechnik und das Grundrecht auf Menschenwürde". Jana Hensel ("Zonenkinder") liefert eine kurze Reportage über die demonstrierenden Studenten. Außerdem ein Interview mit dem Chef des Karlsruher ZKM, Peter Weibel, über "den Wert von Videokunst" und Weibels "neue Macht". Der Titel nimmt den 500. Geburtstag Martin Luthers zum Anlass, an die weniger erfreulichen Seiten des Reformators zu erinnern.
Archiv: Spiegel

New York Times (USA), 14.12.2003

Einen Einblick in die aktuelle Diskussion der amerikanischen Geschichte gibt der Historiker Gordon S. Wood, wenn er gleich fünf neue Bücher über die Gründergestalten der USA bespricht. Die Sklaverei war das lange verdrängte Fundament der jungen Republik, schließt Wood aus der Lektüre. Gore Vidal etwa hat "auf der Suche nach der Herkunft dieser Gründerväter seinen üblichen sarkastischen Spaß mit der Gründung der Nation und durchsetzt seine Geschichte mit einigen geistreichen Kommentaren über unsere gegenwärtigen furchtbaren Umstände", notiert er. Und Henry Wienceks "ehrliche und mitreißende Studie über George Washington und die Sklaverei macht aus Washington einen weitaus traditionelleren Südstaatenfarmer als wir es bisher zugeben wollten." Einige erste Kapitel und alle Buchangaben hier.

David Lipsky kritisiert an der von Rick Bragg geschriebenen offiziellen Autobiografie ("I Am a Soldier, Too") der Irakkriegs-Ikone Jessica Lynch, dass man ihr zu sehr anmerke, unter welchem Zeitdruck sie geschrieben worden ist (erstes Kapitel). Interessanter sei vielmehr, wie Lynch sich seit dem Erscheinen gegen die Glorifizierungs- und Verleumdungsversuche der Presse wehrt. "Originell, ehrgeizig, komplex und bewegend" findet Neil Gordon Pat Barkers Roman "Double Vision" über eine frisch verwitwete Künstlerin und ihren neuen finsteren Assistenten (erstes Kapitel). James McCourt beschreibt in "Queer Street" den Aufstieg eines Landeis in die Creme de la Creme der homosexuellen Künstlerkreise im New York der Fünfziger und Sechziger. Und Maureen N. McLane gefällt diese schillernde, originelle, wenn nicht gar "mandarin-artige" Kulturgeschichte.
Archiv: New York Times