Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
09.08.2005. Im Espresso berichtet Andrzej Stasiuk von einem leicht gruseligen Schriftstellertreffen in Belgrad. Al-Ahram erklärt die politische Stagnation Saudi-Arabiens. Die Weltwoche findet Filme und Bilder vom Irakkrieg auf einer Amateur-Pornoseite. In der Gazeta Wyborcza diagnostiziert Ryszard Kapuscinski die Entthronung Europas. Im Guardian feiert der Schriftsteller Blake Morrison einen aussterbenden Berufsstand: den Lektor. Magyar Narancs stellt uns hunnenstämmige Ungarn vor. In Polityka erinnert Adam Krzeminski an die Potsdamer Konferenz. NZZ Folio erforscht die neuen Kerle. Die New York Times besucht einen jähzornigen V.S. Naipaul.

Espresso (Italien), 11.08.2005

"Belgrad ist eine sonderbare Stadt", schreibt Andrzej Stasiuk, der dort eine Veranstaltung über den berühmten Kollegen Danilo Kis besuchte. "Die Zusammenkunft, die einen der größten Schriftsteller der serbischen Sprache ehren soll, wird von der serbischen Polizei überwacht. Die Teilnehmer fühlen sich ein wenig wie die Anhänger irgendeiner verbotenen Religion, die sich in den Katakomben treffen. Auf den Plätzen für das Publikum sieht man vor allem Freunde sitzen. An den Wänden sind Fotografien von Gräbern voller Leichen, aber die Vortragenden sprechen über Poesie, Metaphern und Phonetik von Texten, deren Hauptmerkmal eben das Erzählen von der Paranoia und der Perversion der Macht war, die sich aus Toten und Massakern nährt."

Der israelische Verteidigungsminister Shaul Mofaz erläutert Gigi Riva in einem langen Interview, was nach dem Rückbau der israelischen Siedlungen im Gaza-Streifen zu tun ist. "Nach der Auflösung können wir mit 'Phase A' beginnen, die die Zerstörung der terroristischen Infrastruktur und einen ernsthaften Krieg gegen die terroristischen Organisationen vorsieht."
Archiv: Espresso

Al Ahram Weekly (Ägypten), 04.08.2005

Amr Hamzawy erklärt, dass wegen eines eingespielten Duos die notwendigen Reformen in Saudi-Arabien - wenn überhaupt - wohl sehr langsam vonstatten gehen werden. "Die herrschende Elite monopolisiert die Regierung und das nationale Einkommen, während die Wahabiten Schulen und Universitäten kontrollieren. Ausgeübt und erhalten wird ihre Macht im Rahmen einer Partnerschaft, von der beide Seiten profitieren. Letztere verschafft der herrschenden Elite eine religiöse Berechtigung, während erstere die absolute Autorität der Wahabiten bei der Regulierung der Gesellschaft schützt. Die gegenseitige Übereinkunft lähmt jeden Reformimpuls und gibt beiden Seiten die Gelegenheit, die Art und die Geschwindigkeit politischen Wandels zu bestimmen. Im Vergleich zu dieser binären Machtstruktur schwindet der Einfluss anderer politischer Kräfte in der Gesellschaft, von den liberalen, säkularen, über die aufgeklärten bis hin zu den Hardline-Fundamentalisten."
Archiv: Al Ahram Weekly

Weltwoche (Schweiz), 08.08.2005

Urs Gehriger und Simon Brunner zitieren aus Blogs, Homepages und Internetforen Berichte von amerikanischen Soldaten, die im Irak stationiert sind. "Wir saßen fest, mein Humvee brannte aus. All die anderen aus meinem Truck waren verwundet, und mein Schütze, Lance Corporal Cisneros, war tot. Er hatte uns das Leben gerettet, als eine Rakete das Dach des Transporters traf und nach unten explodierte, er bekam die ganze Ladung ab und gab uns damit Schutz." Auf den Seiten eines Amateur-Pornoforums ist ein großes Archiv mit Filmen und Bildern entstanden, die Soldaten von ihren Einsätzen gemacht haben. Das Erfolgsprinzip: Wer Material aus dem Irak zur Verfügung stellt, bekommt freien Zugang zu den kostenpflichtigen Bereichen.
Archiv: Weltwoche
Stichwörter: Irak, Weltwoche, Raketen

Gazeta Wyborcza (Polen), 06.08.2005

"Was wir jetzt erleben, ist eine Entthronung Europas, eine kulturelle Entkolonialisierung", erklärt im Interview der Reporter Ryszard Kapuscinski. Nach der politischen Entkolonialisierung Mitte des 20. Jahrhunderts und einer missglückten wirtschaftlichen, führe die kulturelle Entkolonialisierung zu einem neuen Selbstbewusstsein der ehemals kolonialisierten Länder. Einerseits reklamieren Inder oder Vietnamesen das Recht, sich in Europa wie zu Hause zu fühlen, so wie einst die Europäer sich in Indien oder Vietnam zu Hause fühlten, andererseits ging die Wortführerschaft in vielen dieser Länder an eine neue Mittelklasse, die nicht mehr in Europa oder Amerika ausgebildet wurde - ein Prozess, den der Westen verschlafen hat und dessen Konsequenz u.a. der Terrorismus ist, so Kapuscinski. "Wir müssen da durch und dabei versuchen, schmerzliche Nebeneffekte wie den Terrorismus zu minimalisieren. Aber es lässt sich nicht aufhalten, wir dürfen nicht so tun, als ob nichts passiert ist. Es stehen große Veränderungen bevor. Die Welt hat solche Veränderungen noch nie durchgemacht, und deshalb muss nach neuen Lösungen gesucht werden, die nicht auf bisherigen Erfahrungen basieren können. Die Welt kann nur weiter existieren, wenn wir uns verständigen. Es gibt keinen anderen Ausweg, es gibt einfach keinen anderen!"

Eine Debatte zur Lage in Weißrussland liefern sich Miroslaw Czech und Jerzy Chmielewski. In den letzten zwei Wochen wurde eine größere Anzahl der Sprecher der polnischen Minderheit in Weißrussland verhaftet. Lukaschenko wirft ihnen vor, quasi als Stroßtrupp der EU eine orange Revolution anzetteln zu wollen. Dazu meint Czech im Interview: "Warschau darf nicht schweigen, wenn die Rechte der polnischen Minderheit verletzt werden, aber Lukaschenkos Regime kann das propagandistisch nutzen, als westliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes. Deshalb sollte man alles tun, um das Problem nicht als bilateralen Konflikt, sondern als Verletzung elemanterer Menschenrechte darzustellen. Wir müssen den Weißrussen klar machen, dass es auch um ihre Rechte geht. Dazu sollte man Vertreter der polnischen Minderheit in Weißrussland und der weißrussischen in Polen zusammenbringen - Solidarität der Minderheiten gegen die Diktatur!". Chmielewski, selbst Vertreter der weißrussischen Minderheit in Polen, warnt: "Wir bedauern die Situation, haben aber keinen Einfluss auf sie. Polen sollte vorsichtiger werden in seinen Aussagen, damit die Weißrussen nicht das Gefühl haben, vom westlichen Nachbarn belehrt zu werden. Ich hoffe nur, dass der aktuelle Konflikt nicht zu Teilung und Feindschaft führt - wir müssen uns einfach besser kennenlernen und verstehen."
Archiv: Gazeta Wyborcza

Economist (UK), 05.08.2005

In einem Special Report bricht der Economist eine Lanze für Video- und Computerspiele. "Bei der ganzen Diskussion um Feinheiten der Altersfreigabe, des Bereitstellens von versteckten Inhalten und dem Verlust der kindlichen Unschuld werden üblicherweise drei wichtige Faktoren übersehen; dass die Einstellung zum Spielen eine Generationsfrage ist, dass es keine überzeugenden Beweise dafür gibt, dass Spiele zu Gewalt führen und dass die Spiele ein großes pädagogisches Potenzial haben."

Wird sich die hindu-nationalistische Bharatiya Janata Partei selbst zerfleischen, fragt der Economist. Die nur noch zweitstärkste Kraft im Parlament steht vor der Entscheidung, moderater oder radikaler zu werden. "Einige machen die blutigen Anti-Muslim-Progrome 2002 in Gujarat, einem von der BJP regierten Staat, für die Verluste bei den Wahlen im vergangenen Jahr verantwortlich. Andere Parteimitglieder und die Führer der 'Nationalen Vereinigung der Freiwilligen' RSS behaupten das genaue Gegenteil: das Problem war, dass die regierende BJP nicht Hindu genug war."

Außerdem wird berichtet, dass die fünfte Internationale Sommerakademie zur Humorforschung ausgerechnet in Deutschland stattgefunden hat, was an sich schon ein Witz sei, dass der Voting Rights Act, vor vierzig Jahren gegen die Benachteiligung von ethnischen Minderheiten eingeführt, immer problematischer wird, dass die Supermarktkette Tesco den Geschmack der Briten beeinflusst, dass die Polen immer unpolitischer werden, und dass die Gelder aus dem Ölboom in den Golfstaaten nicht immer weise eingesetzt werden.
Archiv: Economist
Stichwörter: Computerspiele, Golfstaaten, Rss, Bjp

Guardian (UK), 06.08.2005

Der Schriftsteller Blake Morrison ergreift Partei für Lektoren - die einstigen Schlüsselfiguren der Literatur, die seiner Ansicht nach als ewige Besserwisser abgestempelt sind und nun zu verschwinden drohen, weil ihre Arbeit zunehmend als überflüssig angesehen wird. Besonders in Großbritannien sind verlagseigene Lektoren aufgrund von Einsparungen nicht mehr in der Lage, alle ihre Autoren zu betreuen, so dass diese immer öfter Hilfe bei selbständigen Lektoren suchen oder ihre Romane gleich in der Rohfassung veröffentlichen wollen. "Vielleicht hatte ich bisher einfach Glück, aber meiner Erfahrung nach helfen Lektoren, die Texte klarer zu machen, statt sie zu zerstören, oder sie spornen die Autoren auf den letzten Metern an, wenn sie wie Marathonläufer am Ende und kurz vor dem Aufgeben sind. Und trotzdem ist der Mythos des destruktiven Lektors allgegenwärtig, nicht zuletzt in der Akademie." Auch heute noch gelte: "Die es können, schreiben, die es nicht können, redigieren. Ich halte es mit TS Eliot. Auf die Frage, ob Lektoren nicht meistens gescheiterte Schriftsteller sind, antwortete er: 'Vielleicht - aber das sind auch die meisten Schriftsteller.'"
Archiv: Guardian
Stichwörter: Lektor

Magyar Narancs (Ungarn), 04.08.2005

Die ungarische Wochenzeitung setzt ihre Artikelreihe über "politischen Okkultismus in Ungarn" fort. Diesmal geht es um die verzweifelte Suche nach dem Grab des Hunnenkönigs Attila: Es gibt immer noch Menschen in Ungarn, die das Grab suchen, weil sie glauben, dass die Ungarn von den Hunnen abstammen (hier einige bezaubernde Fotos von hunnenstämmigen Ungarn, während sie im Parlament einen Antrag auf Anerkennung ihres Minderheitenstatus stellten). Der kultigste Ort der besessenen Hobby-Archäologen ist das kleine Dorf Tapioszentmarton, wo Anfang des 20. Jahrhunderts der letzte Fund aus der Epoche Attilas gefunden wurde. "Irgendwann wurde ein kleiner Hügel im Dorf zum 'Wunderhügel' erklärt. ... Auf dem Wunderhügel sonnen sich jetzt Rentnerehepaare, die jedoch nicht wegen Attila gekommen sind, sondern wegen der angeblich aus dem Hügel strömenden Heilkraft der 'Urenergie'. Ein Unternehmer hat diese Energie angeblich während seiner Arbeit mit Pferden entdeckt, denn es ist ihm aufgefallen, dass sich seine kranken Pferde immer allzu gerne auf den Wunderhügel gelegt haben. .... Der Bürgermeister des Dorfes Janos Toth, trommelt überall für den Attila-Kult, aber außer der Attila-Pizza der hiesigen Pizzeria gibt es wenig Zeichen für die Einbürgerung einer neuen Tradition."

Nur im Print: Die Titelgeschichte über Nick Cave. Er und seine Band treten am 15. August in Budapest während des Sziget-Festivals auf. Es ist das größte Open-Air-Festival Europas.
Archiv: Magyar Narancs

Polityka (Polen), 03.08.2005

Adam Krzeminski erinnert an den 60. Jahrestag der Potsdamer Konferenz - im Gegensatz zum 8./9. Mai wollte diesen Tag kein Land groß begehen. Eigentlich kein Wunder: "Ja, Potsdam war ein 'Tag der Vergeltung' und einer von den Richtern war ein Verbrecher vergleichbar mit Hitler. Und ja, die Alliierten haben drastischen Lösungen zugestimmt, wie dem massenhaften 'Transfer' der deutschen Bevölkerung aus Mittel- Osteuropa, der keiner Norm von zwischenstaatlichen Problemlösungsansätzen entsprach. Aber es waren auch außergewöhnliche Umstände, die dazu geführt haben - man kann nicht zwei Kontinenten den Krieg erklären, ihn mit verbrecherischsten Methoden führen und dann nach Hause gehen wie nach einem verlorenen Spiel. Was hätten die Allierten sonst tun sollen - Deutschland zerstückeln, es in einen Kartoffelacker verwandeln, ihm weitere zehn Milliarden Dollar Reparationen aufdrücken?" Dennoch, unterstreicht Krzeminski, muss das Potsdamer Modell zu einer historischen Ausnahmeerscheinung erklärt werden - als Vorbild könne es nicht dienen.

"Die Alternative zu einem liberalen Imperium unter der Führung einer Supermacht, wäre nicht eine utopische Multipolarität oder ein neues UNO-ähnliches System, sondern eine albtraumhafte Anarchie wie im Mittelalter. Das sind die Lehren von 1000 Jahren Geschichte" konstatiert im Interview der Historiker und Politologe Niall Ferguson. Statt sich aus ihrer Rolle als Supermacht rauszureden, sollten die USA selbstbewusster für mehr Ordnung in der Welt sorgen, sonst werde die Menschheit in unvorstellbarem Chaos versinken. Ferguson, für den schon das britische Empire des 19. Jahrhunderts ein Glücksfall für die meisten Völker der Welt war, macht sich nur etwas Sorgen über den wachsenden Schuldenberg der USA. Da die Anleihen aber meistens von den ärmeren asiatischen Staaten, quasi als Imperialsteuer, gekauft werden, scheint sich auch hier eine perfekte Balance aufgetan zu haben.
Archiv: Polityka

Folio (Schweiz), 02.08.2005

Im Magazin der NZZ dreht sich alles um Männer. Der englische Ethnologe Nigel Barley untersucht, was es mit der neuen Kerligkeit, dem "New Laddism" auf sich hat. "Ich telefonierte mit einem anderen Freund, einem Psychologen, und fragte ihn, was er darüber denke. Er klang genervt. 'Alles Quatsch', raunzte er, 'Laddism ist bloß ein neuer Name für eine egoistische Entwicklungsverzögerung. Übrigens, habe ich dir schon gesagt, dass ich mich scheiden lasse und mir wieder eine eigene Wohnung nehme? Ich hab gemerkt, dass ich eigentlich gar keine Kinder will. Die hab ich schon den ganzen Tag bei der Arbeit um mich. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Du bist auf der falschen Fährte. Das wahre Problem des Laddism sind nicht die Männer, sondern die Frauen! Heute benehmen sich doch alle gleich, gehen saufen, essen Fastfood, machen Nächte durch ... hast du gesehen, wie die Mädchen sich heute bewegen? Das sagt doch alles. Ich kann mir keinen Mann vorstellen, der so den Macker raushängen ließe. Mich widert das an.'"

Wann ist ein Mann ein Mann, hat Folio verschiedene Schweizer Prominente gefragt. Die schönste Antwort kommt von Zirkusclown Dimitri. "Eine schöne Frau zum Lachen zu bringen, ist natürlich das Größte. Und da ich einzelne Personen nicht erkennen kann, wenn ich auf der Bühne stehe, ist das Publikum für mich eine einzige große schöne Frau."

Ernsthafter geht es in den übrigen Artikeln zu. Peter Laudenbach studiert, wie der Schönheitskult nun auf die zweite Hälfte der Menschheit übergreift. Anja Jardine erfährt von Männerforscher Walter Hollstein, wie Gene und Erziehung den Mann machen. Liliane Lerch macht ihrem Mann eine Liebeserklärung. Lilli Binzegger spricht mit einer der drei Urologinnen der Schweiz. Reto U. Schneider drängt darauf, den kleinen Unterschied endlich anzunehmen. Dazu ein paar physische Fakten. Und Martin Senti berichtet, dass geschiedene Väter vermehrt um ihre Kinder kämpfen.

In seiner Duftnote fordert Luca Turin die Erhaltung großer Parfüms für die Ewigkeit. Die derzeitigen Duft-Museen verdienten ihren Namen nicht. "Die meisten von ihnen (in Paris gibt es eines, in Grasse mehrere) bestehen aus Ansammlungen von Fläschchen und enden in einem Laden. Dort fallen die frustrierten Besucher, die eine halbe Stunde lang nichts riechen durften, über ein Arsenal vielfarbiger Seifen her, mit denen sie zu Hause die Verwandten und andere ungeliebte Personen beschenken. Im größten Museum von Grasse konnte man früher durch eine Glaswand einem Parfumeur bei der Arbeit zusehen, als sei er ein Pandabär im Zoo. Und genau wie ein Panda verkroch sich der arme Kerl die meiste Zeit im Hinterzimmer."
Archiv: Folio

Magyar Hirlap (Ungarn), 02.08.2005

"Entweder fühlen sich die rumänischen und bulgarischen Politiker zu sicher im Sattel oder sie pfeifen auf die Meinung Brüssels. Anders lässt sich nicht erklären, dass - knapp anderthalb Monate nach der Warnung der EU-Kommission, Bulgarien und Rumänien seien mit der Erfüllung der Beitrittsbedingungen im Rückstand - die Bulgaren eine peinliche Burleske inszenieren, statt endlich eine Regierung zu bilden, während in Rumänien der seit einem halben Jahr amtierende Regierungschef heute erklärt, dass er geht, dann morgen wieder, dass er bleibt", kommentiert die Politikwissenschaftlerin Nora Rockenbauer. "Bukarest und Sofia tun Brüssel ungewollt einen Gefallen, wenn sie durch spektakuläre politische Skandale zeigen, dass sie noch nicht auf den EU-Beitritt vorbereitet sind. Die EU sucht schon seit längerem nach Möglichkeiten, den Beitritt der beiden Länder zu verschieben, ohne dafür selbst die Verantwortung tragen zu müssen."
Archiv: Magyar Hirlap

Nueva Sociedad (Argentinien), 01.06.2005

"Die Linke an der Regierung": Der erstaunlichen Tatsache, dass mittlerweile in fast allen Ländern Lateinamerikas linke oder linksliberale Parteien die Regierung bilden oder kurz vor der Machtübernahme stehen, ist die jetzt freigeschaltete letzte Nummer der in Venezuela von der Friedrich Ebert Stiftung mit herausgegebenen Zeitschrift Nueva Sociedad gewidmet. Von einer "historischen Tendenz, einem tief greifenden Wandel in der politischen Verfassung des Kontinents" spricht der Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Teodoro Petkoff, der zugleich zwei durchaus unterschiedliche Gruppen linker Parteien unterscheidet: Pragmatisch operierende Organisationen in Ländern wie Brasilien, Argentinien oder Uruguay, die die Erfahrung von Militärdiktatur und brutaler Repression verarbeitet haben, neben dogmatisch-populistischen Bewegungen wie dem "Bolivarianismo" des venezolanischen Präsidenten Chavez oder dem "paläorevolutionären" Regime Kubas. Möglich wurde die neue linke Vielfalt ironischerweise durch das Verschwinden der Sowjetunion: "Die nordamerikanischen policy makers sahen in lateinamerikanischen Linksregierungen keine Bedrohung ihrer globalstrategischen Interessen mehr. Der Rivale, der sie zu seinen Gunsten hätte instrumentalisieren können, war verschwunden."

Dietmar Dirmoser, der Herausgeber der Zeitschrift, sieht dagegen viele Länder in Gefahr, sich in "Demokratien ohne Demokraten" zu verwandeln: "Vielerorts ist der Ruf nach autokratischen Haurucklösungen zu vernehmen. Die hochgelobte 'Belastbarkeit und Krisenresistenz' der lateinamerikanischen Demokratien hat nicht sehr lange vorgehalten: Die Demokratie in Lateinamerika ist angeschlagen, ihre zentralen Institutionen sind ausgehöhlt und taugen oft nur noch als Fassade." (Dirmosers Beitrag hier auch auf deutsch nachzulesen.)
Archiv: Nueva Sociedad

New York Times (USA), 06.08.2005

Rachel Donadio besucht den "jähzornigen Propheten" und Schriftsteller V.S. Naipaul in seinem Haus im englischen Wiltshire. Der wird seiner Charakterisierung vollauf gerecht und schimpft über französische Kollegen wie den "nervtötenden" Proust oder den "empörenden" Stendhal mit ebensolcher Verve wie über das "philosophische Gekreische" der islamistischen Gotteskrieger. Er sagt auch, dass die Moderne und mit ihr die Fiktion am Ende sei. "'Wir haben uns verändert. Die Welt hat sich verändert. Die Welt ist größer geworden.' Was uns zu den Beschränkungen des Romans zurückbringt. Der Schriftsteller müsse das Wohnzimmer verlassen und in die aktive, geschäftige Welt hinaus reisen. Es ist eine tragische Vorstellung, die nur ein Romancier haben kann, dass die Welt nicht in einem Roman eingefangen werden kann." Dazu gibt es Auszüge mit der tabakweichen Stimme Naipauls zum Anhören.

In einem ausgesonderten Kommentar unterlegt Donadio Naipauls These vom Niedergang der literarischen Fiktion mit Beispielen aus der Magazinwelt. Atlantic Monthly etwa hat die seit Jahrzehnten etablierten Kurzgeschichten kürzlich aus dem Heft verbannt. "In den vergangenen Jahren haben wir bemerkt", sagt der scheidende Chefredakteur Cullen Murphy, "dass eine bestimmte Art des Berichtens - die lange und erzählende Reportage - enorm wertvoll geworden ist, um einer komplizierten und zersplitterten Welt Sinn zu verleihen."

Aus den Besprechungen: Beeindruckt zeigt sich Gail Levin von Donna M. Cassidys "mutiger" Biografie des Malers Marsden Hartley (Bilder), in der sie die Faszination Hartleys für die Ästhetik wie die Inhalte des Nationalsozialismus schildert. Immerhin ein Dutzend der 49 Kurzgeschichten von Robert Stern aus 50 Jahren, die jetzt alle im Band "Almonds to Zhoof" (erstes Kapitel) versammelt sind, hält Eric Weinberger für erinnerungswürdig: "Das ist keine geringe Leistung." Tony Hendra dagegen mundet Elin McCoys allzu gläubige und unkritische Biografie des amerikanischen Weinkritker-Papstes Robert Parker, "The Emperor of Wine" (erstes Kapitel), überthaupt nicht.

Im New York Times Magazine stellt Clive Thompson die neueste Variante des unabhängigen Filmemachens vor. In den wöchentlichen Folgen von Red vs. Blue sind die Computersoldaten aus dem Konsolen-Ballerspiel "Halo" die Hauptdarsteller. "Es das 'Rosenkranz und Güldenstern' Prinzip. 'Red vs. Blue' ist das, worüber die Spielfiguren reden, wenn wir nicht mit ihnen spielen. Wie sich herausstellt, sind sie ein Haufen Neurotiker, direkt aus 'Seinfeld'. Ein Rekrut verrät, dass er innerhalb seiner luftdichten Panzerung Kette raucht, ein Sergeant sagt einem Soldaten, dass seine Instruktionen für die Schlacht darin bestehen, wie eine Frau zu kreischen. Und als boshafter Kommentar zum endlosen Gemetzel des Spiels hat keiner der Soldaten die leiseste Ahnung, warum sie sich eigentlich bekämpfen."

Weiteres: Die kalifornische Firma Enologix hat eine Formel gefunden, mit der Winzer ihren Wein nach dem Geschmack einflussreicher Kritiker wie Robert Parker trimmen können, berichtet David Darlington. Im Titel diskutiert Robin Marantz Henig die Zukunft der Sterbehilfe. A.O. Scott kommentiert das Verschwimmen der Grenzen von Werbung und Unterhaltung, unter anderem sichtbar in den Charterfolgen kommerzieller Handy-Klingeltöne. In ihrer Freakonomics-Kolumne erklären Stephen J. Dubner and Steven D. Levitt die Entwicklung des Crack-Markts.
Archiv: New York Times