Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
18.07.2006. Outlook India fürchtet, der Bombenanschlag sollte die Weltoffenheit Bombays zerstören. Ähnlich sieht das der Spectator, der die Stadt als lebende Herausforderung für fundamentalistische Ideen beschreibt. Il Foglio porträtiert den mutmaßlichen Drahtzieher des Anschlags, Ibrahim Dawood. Im Guardian erkennt Doris Lessing die Vorzüge warmherzigen Vögelns. Im De Groene Amsterdammer klagt ein Lektor über 6,40 Euro Stundenlohn. Nepszabadsag ärgert sich über den Neid, mit dem gut verdienende Wissenschaftler verfolgt werden. Die London Review of Books nennt den Preis der Redefreiheit. In Le Point feiert Bernard-Henri Levy Zinedine Zidanes ultimative Revolte. In der Gazeta Wyborcza erklärt Bildungsminister Roman Giertych von der Liga der polnischen Familien: Ich mag Juden. In The Nation ist Michael Hardt baff, dass sich die Welt seinen Thesen fügt. Die New York Times feuert Alliterationen auf Josef Joffe.

Outlook India (Indien), 24.07.2006

Das Titeldossier ist den Anschlägen in Bombay gewidmet. Ein Beitrag von Vinod Mehta erklärt die Verwundbarkeit der Metropole mit ihrer Weltoffenheit: "Dank der ewigen selbstgerechten Litanei von Leuten wie Bal Thackeray (der ultrarechte Hindu Nationalist, d. Red.) und ihrer kleinen miesen Anhängerschaft ist diese Stadt verflucht. Wenn mit ihrer Hilfe die bärtigen Fanatiker von Lashkar-e-Toiba (radikal-islamische Terrorgruppe aus Kaschmir, d. Red.) und Al Qaeda erst die Offenheit Bombays zerstört haben, wird es ihnen auch gelingen, diese ihnen so verhasste Gesellschaft wirtschaftlich und sozial zu ruinieren."

Ferner: Sheela Reddy schreibt zum Tode des indischen Autors Raja Rao ("Kanthapura"), der die englischsprachige Romanliteratur in Indien entscheidend geprägt hat. Manju Kapur empfiehlt Meena Arora Nayaks "Endless Rain", eine Familiengeschichte aus Kaschmir. Und Dunu Roy vermisst in Ramachandra Guhas Öko-Studie "How Much Should A Person Consume?" den Pragmatismus.
Archiv: Outlook India
Stichwörter: Kaschmir, Familiengeschichte

Spectator (UK), 15.07.2006

Der BBC-Reporter Fergal Keane kann sich gut vorstellen, warum sich die Fundamentalisten für ihre jüngsten Bombenattentate gerade Bombay ausgesucht haben: "Bombay ist übervölkert, vielfältig, freiheitsliebend. Es ist säkular und strenggläubig, gesetzestreu und korrupt, ein epischer Widerspruch in sich selbst, der nicht funktionieren dürfte, aber es wundersamer Weise tut. Es ist eine lebende Herausforderung für obskure und fundamentalistische Ideen. In seinem großartigen Buch 'Maximum City' beschreibt der indische Autor Suketu Mehta, wie er sich von dieser Stadt zermahlen fühlt und zugleich getröstet."

Für Paul Brita ist die Equipe Tricolore der Gegenbeweis zu allen multikulturellen Ideen: "Die französische Mannschaft war nicht zusammengestellt, um politisch einen Punkt zu machen. Es war eine rein darwinistische Selbstselektion, in dem das bestmögliche Team rein zufällig vor allem aus schwarzen Männern bestand. Sie wurden nicht ausgesucht, weil sie anders aussehen oder um eine antirassistische Botschaft auf die bigotte Tribüne zu senden. Damit wären sie nie so weit gekommen." (Vielleicht war ja das darwinistische daran gerade das antirassistische?)

Weiteres: Con Coughlin sieht den Hauptgrund für das Wiedererstarken der Taliban in Afghanistan in der Untätigkeit von Pakistans Präsident Musharraf. Und Allister Heath annonciert das neue Buch "Men of Property" des Historikers W.D. Rubinstein, das zeigt, dass die Reichen niemals reicher und einflussreicher waren als heute. "Millionäre sind Großbritanniens am schnellsten wachsende Klasse geworden."
Archiv: Spectator

Foglio (Italien), 15.07.2006

Claudio Cerasa porträtiert (hier als pdf) den indo-pakistanischen Drogenpapst und Terroristen Ibrahim Dawood, den man hinter den Bombenattentaten in Bombay in der letzten Woche vermutet. Er ist Sohn eines wichtigen Geheimdienstmannes aus Pakistan, hat viel Besitz in Bombay und gilt als Finanzier der Islamisten von Kaschmir. Lange Zeit lebte er in Karachi: "Seine Geschäfte reichen bis nach Thailand, Sri Lanka, Nepal, Dubai, Deutschland, Frankreich. Die 30 Millionen Rupien (60 Millionen Dollar) auf seinen Auslandskonten verleihen ihm Respekt und Sicherheit. In seinen Palästen in Karachi empfängt er viele Politiker. Alle wissen, wo er wohnt, kennen die Größe seiner Villa mit Schwimmbad, Tennisplatz und vielen schönen Gespielinnen."

Sehr schön auch ein Artikel (pdf) von Richard Newbury, der die Rolle des Wartens in Becketts Werken aus seiner sehr unirischen Vorliebe für den Crickett-Sport erklärt: "Crickett ist ein Symptom der Entfremdung Becketts von dem Land aus dem er kam" und in dem er als Nachfahre französischer Hugenotten niemals heimisch geworden sei.
Archiv: Foglio

Guardian (UK), 15.07.2006

Wie Schuppen von den Augen fiel es Doris Lessing, als sie noch einmal DH Lawrences "Lady Chatterleys Liebhaber" las: In dem Buch geht es gar nicht um Sex, es geht um Liebe! "Dies ist der machtvollste Antikriegsroman, der jemals geschrieben wurde... Es ist durchdrungen vom Horror des Ersten Weltkriegs. Und gegen diesen Horror, die verfaulenden Körper, das sinnlose Gemetzel in den Schützengräben, die Armut nach dem Krieg und die Trostlosigkeit - gegen die Verheerung, die stürzenden Himmel, setzt Lawrence die Liebe, zärtlichen Sex, zärtliche Körper sich liebender Menschen; England würde gerettet werden durch warmherziges Vögeln." Überprüft werden kann das hier.

Weiteres: Jason Elliot preist die neue Jameel Gallery for Islamic Art in Londons V&A-Museum: "Im heutigen Klima kultureller Entzweiung ist der Sinn für gegenseitige Vernetztheit erfrischend." John Mullan kürt zum Buch der Woche John Gross' "The New Oxford Book of Literary Anecdotes".
Archiv: Guardian
Stichwörter: England, Horror, Lessing, Doris

Groene Amsterdammer (Niederlande), 17.07.2006

Nur noch ein Drittel der Niederländer glaubt, dass ihre Kinder einmal so glücklich leben können wie sie selbst, zitiert Chefredakteur Hubert Smeets eine aktuelle Studie des Zentralen Statistikbüros (cbs). Für ihn ist die Forderung der Politiker nach mehr Optimismus vor allem ökonomisch motiviert. Damit die Niederlande weiter wirtschaftlich erfolgreich sind, müsse sich jeder einzelne Bürger permanent darum bemühen "besser zu leben und glücklich werden. Denn unglückliche Menschen sind an allem Möglichen schuld: An schlechten Ehen und Single-Haushalten (erhöhtes Alkoholismusrisiko), an verwahrlosten Kindern (Extrakosten für Jugendämter), an erhöhtem Krankenstand in Unternehmen (reduziertes ökonomisches Wachstum), an Depressionen (wer bezahlt dann die Therapeutenrechnung?) und weiterem Ungemach, den dann das Kollektiv auffangen muss."

Im Literaturteil wirft Reinier Kist einen Blick in die Lektorate niederländischer Verlage und entdeckt dort statt Glück nur "Druck, Druck, Druck". Die Lektoren stehen zunehmend vor der schier unlösbaren Aufgabe, für immer mehr Titel immer mehr Aufmerksamkeit zu generieren. "Wir sind chronisch unterbesetzt, nur selten kann ich in Ruhe arbeiten" zitiert Kist einen freien Lektor, der anonym bleiben will: "Ich bekomme 6,40 Euro pro Stunde bezahlt. Für jedes Manuskript wird eine bestimmte Stundenzahl veranschlagt, doch so schnell ich auch arbeite, es ist immer zu wenig Zeit. Du bist in einem permanenten Stress gefangen, so dass Du auch viele Fehler übersiehst. Doch für diesen Stundenlohn setzt sich niemand ein zweites Mal dran." Die Folge: Manches Buch sei so schlampig redigiert wie "die Speisekarte eines Analphabeten-Bistros in den Außenbezirken von Hoenselaarsbroek".
Stichwörter: Lektor, Optimismus

Nepszabadsag (Ungarn), 16.07.2006

In seiner Antwort auf Miklos Tamas Gaspar würdigt Ivan Vitanyi zunächst die Art, wie der Philosoph in einem kürzlich erschienenen Artikel ("Reformkrise") die Lage der ungarischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zusammenfasste. "Tamas Gaspar beschreibt die Reformpläne der Regierung als einen Spagat zwischen diesen beiden Ansprüchen und schließt seine Gedanken mit dem Satz: 'Eine Lösung sehe ich nicht. Aber vielleicht werden wir ja Glück haben.' - Auf diesen Satz möchte ich antworten, da er ja besagt, dass auch für Tamas Gaspar der Augenblick der Kreativität gekommen ist. Doch gerade die Sozialdemokratie steht für den Versuch, Wirtschaft und Gesellschaft in Einklang zu bringen, wenn auch nicht immer mit Erfolg. Die Regierung versucht also, diesen Weg zu gehen, allerdings unter sehr schwierigen Bedingungen. Dabei spielt sie nicht mal die wichtigste Rolle, denn der Hauptakteur ist die Gesellschaft. Und die ist nicht entweder 'Volksmajestät', die verehrt, oder Pöbel, der geführt werden will, wie es Tamas Gaspar sieht, sondern wir alle sind es, die wir uns gegenseitig als Partner begreifen sollten."

Der Wissenschaftler Andras Falus ärgert sich über die Art, mit der in Ungarn die Wissenschaften diskutiert werden. "Leider wird heute nicht darüber gesprochen, wie Biologie und Informatik zueinander finden, sondern welcher Wissenschaftler welchen Platz auf diversen und vor allem obskuren Ranglisten belegt. Die Leitartikel handeln nicht von den unglaublichen Möglichkeiten, die die Stammzellenforschung in sich birgt, sondern davon, weshalb die zweitausendsounsoviel Akademie-Mitglieder des gesellschaftlichen Respekts unwürdig sind - vor allem, wenn ihre angeblich märchenhaften Gehälter angesprochen werden, denn da spielt immer auch gleich der Neid mit."
Archiv: Nepszabadsag

Weltwoche (Schweiz), 14.07.2006

Priester ist wie Coiffeur oder Tänzer ein beliebter Schwulenberuf, behauptet der Volkswirtschaftler Matthias Binswanger, der Zahlen von 20 Prozent schwuler katholischer Priester nennt und sie aus der "perversen Anreizstruktur" des Zölibats erklärt: "Für Schwule war die Ehelosigkeit nie ein Problem. Im Gegenteil: Die von der Theologin Uta Ranke-Heinemann als Homo-Gesellschaft titulierte Berufsgemeinde von Priestern und anderen geistlichen Würdenträgern bildet für viele Schwule eine zusätzliche Attraktion des Priesterberufs. Mann ist dort unter seinesgleichen und trifft potenziell interessante Partner, besonders in den Priesterseminaren. Zwar würde das Keuschheitsgelübde eigentlich für Sex mit Partnern jeden Geschlechts gelten, doch offiziell gab es ja bis vor kurzem gar keine schwulen Priester; demzufolge hatten diese per Definition auch kein Keuschheitsproblem."
Archiv: Weltwoche

London Review of Books (UK), 20.07.2006

Als anregende Lektüre lobt Jeremy Waldron John Durham Peters' Buch über die Redefreiheit, "Courting the Abyss", die Voltaires berühmtes (wenn auch nicht belegtes) Diktum "Ich mag verdammen, was Sie sagen, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie es sagen dürfen" kritisch in Frage stellt. Die Verteidigung von Nazidemonstrtionen mit dem Argument, der Anblick der finsteren Gesellen stähle die Demokratie, nennt Waldron eine Theorie der "Abyss-Redemption". Und wie John Durham Peters will er nicht dran glauben: Bestenfalls sei dieser Glaube "die Schaufensterfrömmigkeit einiger Linksliberaler, die die Nachgiebigkeit ihres eigenen Voyerismus als Zeichen einer Harmlosigkeit von Meinungsäußerungen missverstehen. Wenn dieser Glaube eine Bedeutung hat, dann die, dass die Kosten der Hate Speech nicht gleichmäßig über die gesellschaftlichen Gruppen verteilt sind."

Weitere Artikel: Jeremy Harding rekonstruiert den weitgehend unbeachtet gebliebenen eritreischen Unabhängigkeitskrieg anhand von drei Neuerscheinungen zum Thema. David Edgar vergibt bescheidenes Lob an John Heilperns Biografie des Dramatikers John Osborne ("John Osborne: A Patriot for Us"). In den Short Cuts sinniert Thomas Jones über den Schutzumschlag und seine neue Funktion als Marktschreier. Und Michael Wood gruselt sich genussvoll vor Alfred Hitchcocks frisch digitalisierter "Rebecca".

Point (Frankreich), 13.07.2006

In seinen Bloc-Notes philosophiert Bernard-Henri Levy über Zinedine Zidane und seinen Kopfstoß und analysiert das Drama mit homerischen Motiven. "Keine Provokation, keine Beschimpfung wird uns jemals erklären, warum diese Ikone planetarischen Ausmaßes, die Zidane geworden ist, warum dieser Mann, der mehr vergöttert wird als der Papst, der Dalai Lama und Nelson Mandela zusammen, dieser Halbgott, dieser Auserwählte" es vorgezogen habe "auf dem Platz zu explodieren, statt zehn Minuten zu warten und seinen Zorn in der Kabine zu entladen". Die einzig mögliche Erklärung für eine derart "bizarre Selbstvernichtung" sei "eine Form der Entladung, der ultimativen Revolte gegen das lebendige Zerrbild, die blöde Statue, das seliggesprochene Denkmal, in das man ihn in den vergangenen Monaten verwandelt hat. Eine Auflehnung des Menschen gegen den Heiligen." Wie Achilles habe auch Zidane seine Sehne gehabt: "diesen großartigen und rebellischen Kopf, der ihn unvermittelt wieder auf gleiche Ebene mit seinen menschlichen Brüdern zurückgebracht hat."
Archiv: Point

Gazeta Wyborcza (Polen), 15.07.2006

Der kontroverse, national-katholische Bildungsminister Roman Giertych von der "Liga der Polnischen Familien" gab der liberalen Gazeta Wyborcza ein langes Interview - obwohl er die Zeitung bis vor kurzem boykottiert hat! Im Gespräch wird die Figur des Roman Dmowski analysiert, des Gründers der polnischen Nationaldemokratie und spiritus rector der nationalen Bewegung. Giertych benennt auch offen die Fehler Dmowskis: "Er ging von der These des ewigen Kampfes zwischen den Nationen aus. Sie mag historisch stimmen, stellt aber keine Notwendigkeit dar. Wer hätte vor kurzem noch gedacht, dass die Iren und die Briten, die Polen und die Deutschen nicht miteinander kämpfen müssen. Aber: sie müssen es nicht! Ein weiterer Fehler war, dass er den Katholizismus rein instrumentell betrachtet hat - als Verbündeten der nationalen Bewegung. Dasselbe hat 50 Jahre später Adam Michnik gemacht, als er für eine Allianz zwischen katholischer Kirche und linken Dissidenten geworben hat. Ich hingegen richte mich nach den Grundsätzen der katholischen Soziallehre." Der wichtigste Fehler der Nationalbewegung und Dmowskis aber "war der Antisemitismus, der das politische Milieu stark belastet", sagt Giertych und fügt hinzu: "Ich mag Juden."

Magdalena Kursa und Rafal Romanowski erzählen von der originellen Geschäftsidee eines jungen Krakauers, der ausländischen Touristen thematische Ausflüge in den stalinistischen Industrievorort Nowa Huta anbietet. "Sozialistische Restaurants, verschwitzte Hüttenarbeiter, tiefgekühlter Wodka, ein klappriger roter Bus, der Besuch einer authentisch ausgestattenen Wohnung - die Amateurfußballer aus Holland, die die heutige Reisegruppe stellen, sind hin und weg. 'Je peinlicher, desto besser', sagt der Begründer 'Crazy Mike', Michal Ostrowski. 'Wir bedienen die plattesten Kommunismusstereotypen'. Nur manchmal fragt einer: 'Sieht es in Polen heute auch so aus oder ist alles gespielt?'".

Außerdem: das diesjährige Theaterfestival von Avignon beschäftigt sich mit verschwindenden Welten, stellt leicht enttäuscht Piotr Gruszczynski fest, während Katarzyna Bik von der Ausstellung "Fin de siecle in Krakau", die u.a. älteste Werbeplakate, viele zum ersten Mal, präsentiert, begeistert ist. Weiterhin erinnert John Gray an Isaiah Berlin, der als Erster die Wurzeln des Totalitarismus in der Aufklärung aufgezeigt hat, während Piotr Buras den Skandal um die An- und Aberkennung des Heine-Preises für Peter Handke relationiert.
Archiv: Gazeta Wyborcza

Economist (UK), 14.07.2006

Der amerikanische Kongress hat in erschreckendem Maße an Glaubwürdigkeit verloren, meldet der Economist, und daran sind nicht nur ein paar faule Äpfel schuld: Mit dem ganzen Baum stimmt etwas nicht. "Glaubt man (den langjährigen Kongress-Beobachtern) Tom Mann und Norman Ornstein, haben die derzeitigen Probleme des Kongresses dreierlei Ursachen. Die erste Ursache ist ein Präsident mit zügellosen Ambitionen und eine exekutivlastige Auslegung der Verfassung. Die zweite Ursache ist das Abstimmungsverhalten der Republikaner, die in beiden Kammern nur eine knappe Mehrheit haben und die Politik als ein Um-jeden-Preis-gewinnen-Spiel betreiben. Der dritte Faktor ist der 11. September und der darauf folgende 'Krieg', der der Bush-Regierung erlaubt hat, die Legislative zu missachten. Mit dem Ergebnis, dass sich das Madisonsche System von 'checks and balances' in etwas verwandelt hat, das einem parlamentarischen System nur noch ähnlich sieht."

Weitere Artikel: Präsidenten-Dämmerung - laut Economist mehren sich in den USA die Stimmen, die George Bushs Amtsenthebung fordern. Und viel eher als Zidane ist es Jacques Chirac, der nach Ansicht des Economist die rote Karte verdient. Nach "Gunner Palace" und "Occupation Dreamland", so der Economist begeistert, blüht jetzt die zweite - und ungemein beeindruckende - Generation des im Irak gedrehten cinema verite. Dazu gehört James Longleys "Iraq in Fragments", Laura Poitras' "My Country, My Country" und Andrew Berends' "The Blood of My Brother".
Archiv: Economist

Beszelö (Ungarn), 01.07.2006

Die Bush-Visite in Budapest wurde von zahlreichen Protesten begleitet. Manche empfanden den US-Präsidenten als "globalen Albtraum", andere waren der Meinung, George W. Bush sollte sich dafür entschuldigen, dass die USA 1956 nicht in Ungarn eingegriffen haben. Diese völlig unlogische Haltung - "Amerika hat sich 1956 schuldig gemacht, weil es in Ungarn nicht eingegriffen hat, und nun macht es sich schuldig, weil es im Irak eingreift" - findet der Publizist Laszlo Seres unmöglich. Schließlich habe der Präsident während seines Ungarn-Besuchs tatsächlich gesagt, Amerika habe aus 1956 eine Lehre gezogen und fühle sich nun verpflichtet, den Freiheitswillen anderer Völker zu unterstützen. "Weder die Stalinisten Nordkoreas noch das wahnsinnige atomare Rüstungsbestreben der Fanatiker im Iran oder die internationalen Terroristen im Irak, die seit drei Jahren wehrlose Zivilisten abschlachten, können hoffen, ihr Treiben gefahrlos fortführen zu können", glaubt Seres.
Archiv: Beszelö
Stichwörter: Bush, George W., Irak, Nordkorea, 1956

Times Literary Supplement (UK), 14.07.2006

In seinem Buch "Excellence Without a Soul" fürchtet der frühere Harvard-Dekan Harry Lewis den Niedergang der Elite-Universität, die eher den Vorlieben ihrer zahlenden Kundschaft nachgebe, als diese zu "verantwortungsvollen Staatsbürgern" auszubilden. Die - in Harvard ausgebildete - Philosophin Martha Nussbaum mag dem zwar nicht ganz widersprechen, entdeckt aber einen gravierenden Denkfehler bei Lewis: Er überschätzt Harvard. "Lewis scheint sich nicht bewusst, dass die höhere Bildung in den USA durchaus demokratisch ist. Man kann nicht leugnen, dass ein Harvard-Abschluss enormes Renomee verschafft, doch manche Menschen schaffen es trotzdem, Einfluss auf die amerikanische Gesellschaft zu nehmen, auch wenn sie nur zweitklassige Universitäten besucht haben."

Weiteres: H. R. Woudhuysen feiert mit der ganzen Ausgelassenheit eines Philologen die Wiederentdeckung von Percy Shellys poetischem Essays "On the Existing State of Things", in dem der Dichter die Unterdrückung Irlands anprangert. Besprochen werden außerdem Stephen Millers Buch über die Kunst der "Conversation" und Nik Cohns kurze Geschichte des Raps in New Orleans "Triksta".

The Nation (USA), 31.07.2006

Michael Hardt, Koautor der altermondialistischen Bibel "Empire", zeigt sich erleichtert, dass sich die Welt nun doch noch seinen Thesen zu fügen scheint: Mit den Interventionen in Afghanistan und Irak schien in der Folge des 11. September ein von Hardt und Toni Negri bereits totgesagter "Imperialismus" wieder aufzuleben. Nun scheint Bush zu scheitern, und Hardt bringt von neuem seine Begriffe von "Empire" und "Multitude" in Anschlag, wobei er - ohne ein weiteres Wort über den Irak und die Besonderheit der dortigen Gegenkräfte zu verlieren - seine Hoffnungen in die lateinamerikanische Linke setzt: "Einige Regierungen, die die neoliberale Ordnung und die US-Herrschaft herausfordern - Venezuela ist hier ein gutes Beispiel - bringen ihren Bevölkerungen enorme Fortschritte in Bildung, Gesundheitsversorgung, wirtschaftlichen Chancen und anderen Feldern. Kurzfristig mögen diese Fortschritte das wichtigste Element sein. Unter längerfristigem Blickwinkel sehen wir, dass diese Kräfte, indem sie die imperialen Arrangements durchkreuzen, die Macht der 'Multitude' verstärken. Die höchste Bedeutung solcher Allianzen untergeordneter Nationalstaaten tritt mit anderen Worten erst dann zutage, wenn sie die eventuelle Zerstörung des 'Empire' einleiten und der 'Multitude' erlauben, eine Demokratie von unten zu schaffen." Die Welt ist nie dumm genug für kluge Theorien!
Archiv: The Nation

New Yorker (USA), 24.07.2006

Peter Schjeldah besuchte das "Golden Girl" in der Neuen Galerie, das Klimt-Porträt "Adele Bloch-Bauer I", das der Kosmetikhersteller und Sammler Ronald S. Lauder kürzlich für die Rekordsumme von 135 Millionen Dollar erwarb. "Ist sie das wert?", fragt er sich und antwortet: "Noch nicht. Derart besondere Gemälde stehen nicht häufig zum Verkauf, und die 104 Millionen Dollar, die vor zwei Jahren für einen mittelmäßigen Picasso - "Boy with a Pipe" - ausgegeben wurden, markierten jenen irrationalen Überschwang, der zum neuen Motto des boomenden Kunstmarkts werden könnte."

Weiteres: Für die USA rätselt Adam Gopnik: "Warum hat Zidane das gemacht?" Alex Ross überspielte eine Mozart-Gesamtausgabe von Philips aus dem Jahre 1991 auf seinen iPod und hört sich nun durch 9.77 Gigabytes Köchelverzeichnis. Jerome Groopman beschäftigt sich mit der Enträtselung einer Schwangerschaftsstörung namens Präeklampsie. Sasha Frere-Jones porträtiert die britische Band Scritti Politti und ihre "Theorie für Gefühle". Und Anthony Lane sah der zweiten Teil von "Piraten der Karibik", und "Edmond". Lesen dürfen wir schließlich die Erzählung "Folie a deux" von William Trevor.
Archiv: New Yorker

Przekroj (Polen), 13.07.2006

Es gibt einen Politiker in der polnischen Regierung, der über gute Kontakte, Kompetenz und Anerkennung im Ausland verfügt: Verteidigungsminister Radek Sikorski. Der frühere Mitarbeiter an britischen und konservativen amerikanischen Think-Tanks, Reporter in Afghanistan (dessen gute Kontakte zu den Mudschaheddin die Amerikaner 2001 genutzt haben) und im privaten Leben Mann der Journalistin Anne Applebaum könnte gar als künftiger Präsidentschaftsanwärter der Konservativen gelten, meint Aleksandra Pawlicka, hätte er nur nicht so wenig politischen Rückhalt im eigenen Lager. "Wenn nicht der Neid wäre, könnte man ihm eine große politische Zukunft voraussagen. Er hat ein ungeheures Wissen über auswärtige Politik und Charme. Er benutzt manchmal radikale Formulierungen (zum Beispiel der Vergleich der Ostsee-Pipeline mit dem Hitler-Stalin-Pakt), die ihm aber viel Presse bringen. Diese Gabe ist den besten vorgehalten".

In der jungen polnischen Literatur tut sich was, stellt erleichtert Justyna Sobolewska fest. "Die Zeit der Maslowska-Klone ist vorbei. Es kommt die Ära der Individualisten". Zwar fehle es vielerorts an der Fähigkeit, aus subjektiven Eindrücken gut lesbare Literatur zu machen, die für mehr als eine Erzählung reicht. Und doch, es sind "kleine Mängel, überall kleine Mängel. Aber sie machen die Bücher auch lesenswert - zumindest um sie später mit weiteren, besseren Publikationen dieser Autoren vergleichen zu können. Ich hoffe sehr, dass sie besser werden."
Archiv: Przekroj

New York Times (USA), 16.07.2006

In einem witzigen Essay erkundet Benjamin Kunkel die Metamorphose der Autobiografie. Wo heute Selbstmitleid und Nostalgie die vorherrschenden Schreibhaltungen sind, erklärt er nostalgisch, waren die Romantiker (Wordsworth, Thoreau!) noch richtig revolutionär: "Für sie war die Krise allumfassend: nicht um einen Platz in einer korrupten Gesellschaft ging es ihnen, sondern um eine Seinsform, die es noch nicht gab ... Die säkulare Autobiografie und das Ideal radikaler Demokratie gingen Hand in Hand." Die schlaffen Memoirenschreiber von heute, schimpft Kunkel, lehren uns zwar das Überleben, doch nicht wie man lebt.

Die Alliterationen in Josef Joffes Buch "Überpower" über Amerikas Image als Imperialmacht schicken Roger Cohen glattweg ins Delirium. Hier ein Originalzitat: "'Balance, bond and build,' he advises, invoking Britain's imperial strategy of balancing rival powers and Bismarck's late-19th-century bonding tactics placing Berlin at the hub of European relationships. He identifies a 'Baghdad-Beijing Belt,' sometimes extended to a 'Belgrade-Baghdad-Beijing Belt,' where menacing nationalism and fundamentalism thrive, and contrasts it with a happier 'Berlin-Berkeley Belt' (of which Israel is an honorary member). Only through balancing, bonding and building will the Berlin-Berkeley Belt bulge and the baleful Baghdad-Beijing Belt be bettered." Davon abgesehen hält Cohen das Buch jedoch für "eine wichtige Reflektion über eine Zeit, in der Anti-Amerikanismus die vielleicht prickelndste Idee der Welt ist".

Weiteres: Edward Rothstein findet in Edward Saids posthum kompiliertem Buch "On Late Style" (namentlich solcher Künstler wie Beethoven, Genet und Glenn Gould) leider nichts über Altersweisheit. Jennifer Senior findet Joseph Epsteins neues Buch über die Freundschaft ("Friendship") "anämisch".

Im Magazin der New York Times erzählt Daniel Coyle die unglaubliche Geschichte des Floyd Landis, der mit einer kaputten Hüfte gerade die Tour de France fährt. Mit Coyle spricht Floyd über Schmerz ("nichts, was der reine Wille bezwingen kann") und wie es ihm gelang, als jemand, der keine Treppe hochsteigen kann, zum härtesten Wettkampf der Welt zugelassen zu werden. "Zur Täuschung nahm er einen schulterrollenden, steifen Gang an. Teamkollegen spotteten, er gehe wie ein Rap-Star ... Im Gespräch wurden Codes benutzt. Man sprach von 'seinem Finger' oder 'schlimmen Rücken.'" Momentan hält Landis Platz zwei!
Außerdem: Jon Gertner besichtigt ein Atomkraftwerk und verrät, warum Kernenergie in den USA wieder eine Option ist. Und Ann Hulbert untersucht die Freundschaftsbande der Amerikaner und stellt fest: Der beste Freund ist der Partner.
Archiv: New York Times