Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
19.09.2006. Outlook India erinnert an die 65.000 indischen Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Die Weltwoche beschreibt den neuen Internetboom als eine Art Mitmach-Party. In der London Review of Books sucht Tony Judt nach den amerikanischen Liberalen und findet nur Bedienstete. Il Foglio porträtiert die sozialdemokratische Europaabgeordnete Lilli Gruber. In der Polityka untersucht Adam Krzeminiski polnische Ängste vor deutschen Revanchisten. Elet es Irodalom besucht den Garten der Dohany-Synagoge von Budapest, heute ein Massengrab. Das TLS ackert sich durch 2000 Jahre ärztliches Versagen. Im Figaro analysiert der Philosoph Philippe Raynaud den Erfolg der extremen Linken in Frankreich. Die New York Times ruft das Zeitalter der Satire aus.

Outlook India (Indien), 25.09.2006

Seema Sirohi erinnert an die 65.000 Inder, die im Ersten Weltkrieg unter britischer Flagge als Kanonenfutter gegen die Deutschen in Flandern eingesetzt wurden. Sirohi berichtet über die schlechte Ausrüstung und Bezahlung der indischen Soldaten (meist aus dem nördlichen Punjab) und das korrupte Rekrutierungssystem der Kolonisten: "Obwohl es offiziell keine Einberufung gab, ermutigten die Briten indische Grundbesitzer, ihre Loyalität zur Krone mit der Rekrutierung junger Männer unter Beweis zu stellen. Im Rahmen dieser Scheinautonomie, die von den Briten natürlich strikt kontrolliert wurde, bekamen die Landlords dafür den Titel 'Rai Bahadur' und 'Khan Bahadur' verliehen. Tausende wurden so in den Tod geschickt."

Ferner: In einem Beitrag des Titeldossiers macht sich Arindam Mukherjee Sorgen um den Nachwuchs in der traditionellen indischen Musik. Jaideep Madzumdar klagt über den spirituellen und physischen Verfall der einst von Rabindranath Tagore gegründeten Universität Santiniketan. Namrata Joshi findet Paul Greengrass' Kinofilm über Flug "United 93" gründlich. Und wir lesen einen Auszug aus Prem Shankar Jhas Globalisierungskritik "The Twilight Of the Nation State".
Archiv: Outlook India

New Republic (USA), 15.09.2006

"Wenn man nicht weiß, gegen wen man kämpft, kann man nicht gewinnen", schreibt Peter Beinart. Nach dem Krieg gegen den "Terrorismus" und die Achse des Bösen" steht jetzt der Kampf gegen den "Islamofaschismus" an, Beinhart hätte dies gern ein wenig präziser: "Der durchschnittliche Aufständische im Irak kämpft nicht für eine utopische Vision des Islams, er kämpft, weil amerikanische Soldaten seinen Cousin getötet haben oder weil Schiiten sein Land rauben. Amerikas Feinde im Irak umfassen Totalitaristen, aber vor allem Nationalisten und Tribalisten... Ein Krieg gegen islamischen Totalitarismus hat klare Grenzen: Er bedeutet einen Kampf gegen gewalttätige Islamisten. Ein Krieg gegen Islamofaschismus hat dagegen keine Grenzen, und genau das ist der Punkt: Der Begriff lässt die Regierung Bush immer neue Feinde finden - erst den Irak, jetzt den Iran, wobei er impliziert, sie alle würden die Ideologie von Al-Qaida teilen und die gleiche Art der Bedrohung darstellen. Das stimmt nicht, und fünf Jahre nach dem 11. September lässt es Amerikaner zunehmend verwirrt und skeptisch darüber zurück, gegen wen wir kämpfen und ob wir gewinnen können."
Archiv: New Republic

Espresso (Italien), 25.09.2006

In seiner Bustina di Minerva fragt sich Umberto Eco, ob die traditionelle Unterscheidung zwischen schön und hässlich immer noch gültig ist. "Wenn wir uns überlegen, dass viele der Jugendlichen immer noch vor der klassischen Schönheit eines George Clooney oder einer Nicole Kidman in die Knie gehen, wird es klar, dass sie es machen wie ihre Eltern. Sie kaufen auf der einen Seite Autos und Fernseher, die nach dem Renaissance-Ideal des goldenen Schnitts entworfen sind, oder bevölkern die Uffizien, um das Stendhal-Syndrom zu beweisen. Auf der anderen Seite ergötzen sie sich an Splatter-Filmen, in denen Gehirnmasse an die Wand spritzt, kaufen ihren Kindern Dinosaurier und andere Monstrositäten und und strömen zum Happening eines Künstlers, der sich die Hände durchbohrt, die Genitalien verstümmelt oder seine Haut foltert."
Archiv: Espresso

Weltwoche (Schweiz), 14.09.2006

Ralph Pöhner kürt das Mitmachen zum Gebot der Stunde im neuen Internetboom, nicht nur bei den Startups wie Digg.com oder cocomment.com. "Lieber zehntausend Amateure als zehn Angestellte. Microsoft hat soeben eine Site gegründet, über die jeder Games für die Spielkonsole Xbox entwickeln und weiterentwickeln kann. Bei IBM endet diese Woche ein Riesen-Brainstorming: Dabei verspricht IBM-Chef Samuel J. Palmisano 100 Millionen Dollar für gute Ideen - und 100.000 Menschen sollen dafür Vorschläge via Internet einreichen. Oder der amerikanische Pharmakonzern Eli Lilly hat eine Site gebaut, über die Wissenschaftler rund um den Globus Chemie- und Biologieforschung betreiben. Hat ein Unternehmen eine Entwicklungsaufgabe, schreibt es sie hier aus, und rund 95.000 eingeschriebene Forscher denken darüber nach. Inzwischen bitten hier auch Ciba und Boeing, Nestle und Novartis um die Mitarbeit anonymer WWW-Wissenschaftler. Die Kosten solcher Onlineresultate - meldet Eli Lilly - liegen bei einem Sechstel vergleichbarer Ergebnisse aus der F&E-Abteilung."

Weiteres: Für sinnlos und viel zu hoch hält Urs Paul Engeler die Fördergelder, die die 35.095 restlichen Rätoromanen der Schweiz beziehen. Mathias Binswanger weiß, wie man glücklicher wird: einfach in eine Gegend mit kleineren Häusern ziehen.
Archiv: Weltwoche

London Review of Books (UK), 21.09.2006

Was ist los mit Amerikas Liberalen, fragt sich Tony Judt. Sie "sind auf dem besten Wege, Bedienstete zu werden, denen ihre Loyalität Ansichten vorgibt, die darauf ausgerichtet sind, einen politischen Zweck zu rechtfertigen. Das ist an sich nichts Neues: Wir sind es gewohnt, dass Intellektuelle lediglich im Namen ihres Landes, ihrer Schicht, ihrer Religion, ihrer Rasse, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung sprechen und dass sie ihre Ansichten zugunsten ihrer Neigungen, seien sie angeboren oder gewachsen, zuschneiden. Doch das unverkennbare Merkmal des liberalen Intellektuellen vergangener Zeiten war gerade das Streben nach Universalität; nicht die unweltliche oder unredliche Leugnung eines partikularen Interesses, sondern die fortwährende Anstrengung, dieses Interesse zu überwinden."

Weitere Artikel: Jerry Fodors Vorfreude auf Michael Frayns neues Buch war groß, schließlich hatte Frayn zuvor eine geniale Wittgenstein-Parodie verbrochen. Doch "The Human Touch: Our Part in the Creation of a Universe" ist, wie Fodor entsetzt feststellen muss, ein bierernstes philosophisches Werk, das darüber hinaus noch einen theoretischen Rundumschlag im Sinn hat. Michael Wood fühlt sich bei Pedro Almodovars Film "Volver" an Bunuel erinnert und genießt es durch und durch. Und T. J. Clark ringt beschwingt mit zwei Studien von Benedict Anderson: "Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism" und "Under Three Flags: Anarchism and the Anti-Colonial Imagination".

Foglio (Italien), 16.09.2006

Annalena Benini widmet der Journalistin und sozialdemokratischen Europaabgeordneten Lilli Gruber ein bittersüßes Portät. Am Abend der Wahl von Ahmadinedschad war die "rote Lilli" auf einer Party in Teheran. "Die Nacht war lang, Gruber wurde von einem reichen Teppichhändler begleitet, der sehr gut tanzte und ihr dabei direkt in die Augen schaute. Aber mal im Ernst: 'Am Tisch sorgt sich niemand wirklich um den Sieg von Ahmadinedschad. Der Champagner ist frisch, der Kaviar köstlich, das Silberservice luxuriös.' Lillis Reisen sind immer so, 'die Leidenschaft des Verstehens' kombiniert mit eisgekühltem Champagner. Und sie ist überallhin gegangen, sie hat ihr Leben riskiert, hat auch im Bombenhagel jeden Tag sechzig Bahnen in ihrem Hotelpool gezogen und hat die islamistischen Terroristen Aufständische genannt."
Archiv: Foglio
Stichwörter: Champagner

New Yorker (USA), 25.09.2006

Calvin Trillin beschreibt am Beispiel von Outletstores in seinem Ferienort in Neuschottland Zauber, Irrsinn und Suchtpotenzial dieser Schnäppchenläden für Designerklamotten. Anfangs sträubte er sich noch: "Ich habe nichts dagegen, eine Sportjacke für fünf Dollar zu tragen. Meine Grundhaltung bezüglich Kleidung wurde auf der High School in Kansas City geprägt. Meine Klassenkameraden und ich fanden es nicht wirklich frivol, sich für teure Klamotten zu interessieren, aber doch irgendwie affektiert. Ich glaube, wir fanden es auch unmännlich." In diesem Jahr musste er sich bei der Inspektion seines Ferienhauskleiderschranks allerdings fragen: "Woher kommen nur all diese Hemden? Es gibt Hemden von Brooks Brothers, L. L. Bean, Geoffrey Beene, Eddie Bauer und Abercrombie & Fitch. Es gibt sogar eins mit einem zwar diskreten, aber unverkennbaren Logo des Herstellers auf der Brusttasche - ein glatter Widerspruch zu meinem persönlichen Boykott, Werbung zu tragen."

Weiteres: Judith Thurman beschäftigt sich ausführlich mit Marie Antoinette und Caroline Webers Buch "Queen of Fashion: What Marie Antoinette Wore to the Revolution" (Holt). Anthony Lane sah im Kino Christian Volckmans Film "Renaissance", der in Paris im Jahre 2054 spielt, und "The Science of Sleep" von Michel Gondry, angesichts dessen "Unwillen", eine Geschichte einfach klar zu erzählen, er sich fragt, wie dieser Regisseur wohl seinen Alltag meistert und eine Tasse Kaffee kocht.

Nur im Print: eine Aufstellung der unverzichtbaren Accessoires für Teens im neuen Schuljahr, Porträts von Diana von Fürstenberg sowie jener Frau, die hinter dem neuen Handtaschenboom steckt, ein Bericht über Probleme im MoMA und Lyrik.
Archiv: New Yorker
Stichwörter: Moma, Logo, Hemd, Fashion, Kleidung

Polityka (Polen), 16.09.2006

Der kürzliche Tod Herbert Hupkas ist für Adam Krzeminski Anlass, die polnischen Ängste vor deutschen Revanchisten zu untersuchen: von Konrad Adenauer im Mantel des Deutschritterordens bis zu Erika Steinbach, vom mächtigen BdV-Lobby im Kalten Krieg bis zu den Drohungen, den EU-Beitritt verhindern zu wollen. "Es liegt in unserem beiderseitigen Interesse, dieses letzte Kapitel des Kalten Krieges zu schließen. So wie die Nicht-Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze Fundament der deutschen Politik war, war es Fundament der volkspolnischen Politik, den Dialog mit den Vertriebenen nicht aufzunehmen. Dabei muss klar gesagt werden: Polen hat diese historische Auseinandersetzung gewonnen! Die Grenze wurde anerkannt, und Polen ist Teil des westlichen Systems geworden." Krzeminski erinnert auch daran, dass es oft gerade Vertriebene (auch BdV-Funktionäre) waren, die in den achtziger Jahren viele Projekte zur Erhaltung des gemeinsamen Kulturerbes initiierten.

Der Schriftsteller und Publizist Ediwn Bendyk beschreibt die p2p-Revolution im Internet. Was als Tauschbörse von Musikdateien anfing, ist mit Kazaa, iTunes, YouTube und Skype (Polen ist nach den USA und China das Land mit den meisten Nutzern) zu einem eigenen Marktsegment mit hoher Attraktivität geworden. Trotz des Engagements der Großkonzerne im p2p-Bereich: "Es ist wahrlich schwierig, Business zu betreiben in der neuen Welt des Internets, die auf freundschaftlicher Kooperation basiert. Aber wie leicht und angenehm ist es, in dieser Welt Konsument zu sein."
Archiv: Polityka

Economist (UK), 15.09.2006

Der Economist kommentiert die Ausstellung von Holocaust-Karikaturen in Teheran, mit der das iranische Regime die angebliche westliche Doppelmoral hinsichtlich der Redefreiheit aufzeigen will. "Dutzende Karikaturen, und insbesondere die iranischen Beiträge (die Ausstellungsbeiträge stammen aus vielerlei Ländern, wie etwa Italien, Brasilien und Indien), sind offen antisemitisch. Die Bildersymbolik ist grotesk und vorhersehbar: Davidsterne verwandeln sich in Hakenkreuze; die Freiheitsstatue hebt den Arm zum Hitlergruß. Subtil sind die Karikaturen nicht, und vielleicht ist auch deshalb die Ausstellung eher schwach besucht. Ihr Korrespondent vor Ort hatte sie ganz für sich, ehe weitere ausländische Journalisten eintrafen. Dies mag Mahmud Ahmadinedschad nicht stören: Der Verdacht liegt nahe, dass die Ausstellung, wie auch seine ungeheuerlichen Einzeiler, auf das Ausland abzielt."

Weitere Artikel: Einen geradezu hymnischen Nachruf widmet der Economist dem ungarischen Dissidenten und Schriftsteller Gyorgy Faludy, der auf die Sicherheit des Exils verzichtete und es vorzog, ins Gefängnis zu gehen, weil er es für seine Aufgabe hielt, die Gräueltaten der Kommunisten zu bezeugen. Geradezu ins Schwärmen gerät der Economist beim Besuch des neu eröffneten historischen Grünen Gewölbes in Dresden. Der Economist stellt Amerikas unabhängigsten Republikaner vor: Lincoln Chafee, den Senator von Rhode Island. Und schließlich rekapituliert der Economist das seltsame politische Ende des Tony Blair.
Archiv: Economist

Elet es Irodalom (Ungarn), 15.09.2006

Verbrennung der ungarischen Flagge in Internetvideos, Hasstransparente bei Fußballspielen, Gewalttaten: seitdem der slowakische Ministerpräsident Robert Fico die rechtspopulistische Slowakische Nationalpartei (SNP) ins Kabinett holte, häufen sich die Ausfälle gegenüber den 500.000 Ungarn, die in der Slowakei leben. "Während der letzten Regierung von Mikulas Dzurinda, an der auch die Partei der ungarischen Minderheit, SMK, beteiligt war, gab es von dieser Ungarnphobie in der Slowakei keine Spur. Obwohl in der letzten Legislaturperiode offensichtlich genauso viele dumme Menschen in Ungarn und in der Slowakei lebten wie heute", kommentiert Laszlo Barak. "Lange geheim gehaltene Phobien einzelner Menschen oder von Kollektiven arten manchmal zu konkreten Konflikten aus und lassen wahnwitzige Phantasmagorien Realität werden."

Die Dohany-Synagoge von Budapest ist eines der größten jüdischen Gotteshäuser in Europa. Peter György besuchte den Garten der Synagoge, der 1944 zum Massengrab wurde und heute als Gedenkstätte fungiert. "Die einzelnen Spuren privaten Gedenkens finden sich in einem öffentlichen Raum, den bis heute niemand zu einer Einheit organisieren wollte. ... Nicht die Tragödie jüdischer Opfer, sondern die Verlegenheit der ungarischen Gesellschaft bekommt man hier zu sehen. Warum ist Hanna Szenes nur von Israel als Heldin anerkannt worden, obwohl sie nach Ungarn zurückkehrte, um gegen die Nationalsozialisten zu kämpfen? Was sollen wir über die Rettungsaktion von Rudolf Kasztner denken, der 1957 auf offener Straße in Tel-Aviv erschossen, aber von einem Gericht von allen Anschuldigungen entlastet wurde? Was bedeutet es überhaupt, dass hier Juden beigesetzt wurden, obwohl sie ungarische Staatsbürger waren, die diese Nation verstoßen hatte? Warum hat sich der ungarische Staat hier nicht engagiert?"

Nepszabadsag (Ungarn), 16.09.2006

Der ungarische Historiker Ignac Romsics erklärt im Gespräch mit Laszlo Hovanyecz die historischen Gründe für die gegenwärtigen Spannungen zwischen Slowaken und Ungarn. Sie gehen auf die gemeinsame Geschichte vor 1918 zurück, als das heutige Gebiet der Slowakei Bestandteil des Königreichs Ungarns war und alle Autonomiebestrebungen der Slowaken auf Ablehnung stießen. "Die Ungarn zahlten 1920 einen hohen Preis für ihre Irrtümer. Nicht nur die Habsburger Monarchie, auch das historische Königreich Ungarn brach zusammen. Insgesamt mehr als drei Millionen Ungarn leben seither außerhalb der neuen Staatsgrenzen, fast eine Million von ihnen in der neu gründeten Tschechoslowakei." Romsics lobt Tomas Garrigue Masaryk, den Gründer und ersten Staatspräsidenten der Tschechoslowakei, an dessen Nachbarschaftspolitik sich die heutigen Politiker der Donauländer ein Beispiel nehmen sollten.

Zoltan Istvan Csider feiert den "Statue Park", in dem seit 1993 zahlreiche Denkmäler der kommunistischen Diktatur ausgestellt sind, die nach der Wende von den Straßen und Plätzen Budapests entfernt wurden. Zum 50. Jahrestag des ungarischen Aufstandes von 1956 wird hier der neueste Fund, ein riesiger Stiefel Stalins ausgestellt. "Nur Diktatoren und störrische Kleinkinder verleugnen die Vergangenheit. Als erwachsene Bürger einer Demokratie ist es unsere Pflicht, zu bewahren, was frühere Generationen hinterlassen haben. ... Die Denkmäler wirken hier wie Zeitdokumente und Kunstgegenstände zugleich." (Bilder hier, hier und hier.)
Archiv: Nepszabadsag

Times Literary Supplement (UK), 15.09.2006

Als schmerzhaft, aber wirksam empfiehlt Druin Burch ein Buch, das mit der Geschichte der Medizin abrechnet: "In 'Bad Medicine' führt uns David Wootton auf eine spannende Reise durch 2000 Jahre abgründigen ärztlichen Versagens. Das Buch ist ein recht konziser Aufschrei entsetzlicher Wut. Er wirft einen schonungslosen Blick auf die Frage, warum Ärzte falsche Entscheidungen trafen, offensichtliche Entdeckungen ignorierten und sich konsequent weigerten, Therapien anzuwenden, die sich als größte Wohltaten für die Menschheit erweisen sollten. Ein fundiertes Wissen der Anatomie, die Erfindung von Mikroskop und Stethoskop, die Entstehung der großen Hospitäler und die meisten der großen Innovationen des 19. Jahrhunderts in Chemie, Pharmazie, Pathologie und Therapie werde alle fälschlicherweise, wie Wootton verärgert schreibt, als medizinische Erfolge dargestellt. Tatsächlich waren sie bedeutende Fortschritte, die von Ärzten jahrhundertelang aufgehalten wurden."

Weiteres: Robin Buss begrüßt die neue Edition von Albert Camus' Werken in der Bibliotheque de la Pleiade. Eric Korn testet das neue "Chambers Dictionary". Und Eric Griffith ist enttäuscht von der "Troilus-and-Cressida"-Inszenierung der Royal Shakespeare Company.

Figaro (Frankreich), 14.09.2006

In seinem Essay "L'Extreme Gauche plurielle" (Autrement) beschäftigt sich der Philosoph und Politikwissenschaftler Philippe Raynaud mit der extremen Linken. Er untersucht darin das Denken und die Kämpfe einer radikalen Bewegung, welche die französische Debatte nach wie vor beherrscht. Seine These: Viele einflussreiche, dem großen Publikum teilweise unbekannte Denker spielten via eines "kulturellen Linksextremismus" für die "Aufrechterhaltung des revolutionären Traums" in Frankreich eine erstaunliche Rolle. Den tatsächlichen Einfluss auf die politische Diskussion beschreibt er im Interview mit dem Figaro so: "Zunächst stellt die extreme Linke, ganz banal, einen Wahlfaktor dar: In keinem anderen europäischen Land hat sie im politischen Leben derart viel Gewicht. Das bereitet den Sozialisten echte Sorge, ihre Situation wäre weniger kompliziert, wenn die kommunistische Partei ihr Partner wäre. Doch der Einfluss der extremen Linken wird sich bei ihren Wählern bemerkbar machen. In der sozialen Debatte sind die Fragen der Globalisierungskritik sehr präsent und die extreme Linke profitiert darin vom allgemeinen Antiliberalismus in Frankreich. Wir sind zweifellos eines der wenigen Länder, in dem der Begriff 'liberal' eine Beleidigung ist. (...) Der Erfolg einer Zeitschrift wie Le Monde diplomatique mit einer Auflage von 400.000 ist ein Hinweis auf diese radikale Tendenz. So gibt es erstaunlicherweise selbst in der Provinz eine Art von Lesezirkeln, in denen sich Leute treffen, um Le Monde diplomatique zu lesen - wie die bourgeoisen Protestler zur Zeit der Aufklärung."
Archiv: Figaro

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 15.09.2006

Vicken Cheterian trauert um die Ukraine, deren orange Revolution von Wiktor Juschtschenko und Julia Timoschenko verspielt wurde: "Bereits die Zeit der Präsidentschaft Juschtschenkos war von Unentschlossenheit, Passivität und inneren Grabenkämpfen gekennzeichnet, was die ganze Dynamik der Revolution verpuffen ließ. Wer gehofft hatte, Juschtschenko würde endlich rechtsstaatliche Verhältnisse herbeiführen, wurde enttäuscht. Weder stellte man die Politiker der Ostukraine vor Gericht, die Ende 2004 separatistische Pläne verkündet hatten, noch gab es eine Untersuchung der illegalen Privatisierung von Staatsbesitz in der Ära Kutschma. Auch wurde kein einziger Vertreter des alten Regimes für den Wahlbetrug von 2004 oder den Giftanschlag auf Juschtschenko verantwortlich gemacht. Die Mörder des Journalisten Grigori Gongadse, der immer wieder Fälle von Korruption aufgedeckt hatte, wurden zwar festgenommen, aber ihre mutmaßlichen Hintermänner im Staatsapparat blieben unbehelligt."

Peter Harling und Hamid Yasin untersuchen, wie die amerikanische Besatzung zur innerirakischen Zersplitterung beigetragen hat: "Im Rahmen der Politik der US-Zivilverwaltung wurden die Posten nach Religionszugehörigkeit neu verteilt. Das führte zu einer 'Konkurrenz der Opfer', wobei der Anspruch auf Teilhabe an der Macht mit dem Ausmaß früheren Leids begründet werden konnte... Diese Uminterpretation der Geschichte im Sinne eines ständigen Antagonismus Sunniten - Schiiten versetzt dem 'irakischen Nationalismus' den Todesstoß. Iraker unterschiedlicher Herkunft haben keinen gemeinsamen Bezugspunkt mehr: Die bitteren Auseinandersetzungen um die Hauptetappen ihrer gemeinsamen Geschichte (Ende der Monarchie 1958, Machtübernahme der Baath-Partei 1968, Golfkrieg 1991 und die angloamerikanische Intervention 2003) werden im Hinblick auf die religiöse Kluft wahrgenommen; nationale Ressourcen werden nicht umverteilt, sondern aufgekauft und schamlos privatisiert; die Institutionen werden zerlegt und zwischen den Gruppen aufgeteilt."

New York Times (USA), 17.09.2006

Wer könnte besser über die Bush-Regierung schreiben als ein ehemaliger Theaterkritiker? Ian Buruma ist begeistert von Frank Richs "The Greatest Story Ever Sold", das den Irak-Krieg als den kolossalen Schwindel beschreibt, der er war. Wie lässt sich der Ausfall einer kritischen Berichterstattung in den USA erklären? Buruma findet die Antworten im Buch: "Die neue Informationsgesellschaft hat Journalisten ungewöhnlich defensiv werden lassen. Dass jeder überall seine Meinung kundtut, hat die Autorität der Presse untergraben ... Angst, gute Verbindungen zu verlieren oder seiner liberalen Gesinnung wegen geächtet zu werden, sowie die Überbewertung von Zitaten einflussreicher Leute haben die Presse verkümmern lassen, als sie nötiger war denn je. Frank Rich ist ein exzellenter Vertreter seiner Zunft, und wird sie je ihren guten Ruf wieder erlangen, wird er dafür mit verantwortlich sein."

Weitere Artikel: Terrence Rafferty hält Haruki Murakamis neue Short-Story-Sammlung "Blind Willow, Sleeping Woman" für einen tollen Gemischtwarenladen. Lawrence Levi findet David Thomsons Biografie über Nicole Kidman (Leseprobe) zu spekulativ. Neil Gordon kann an John Le Carres neuem Roman "The Mission Song" (Leseprobe) keinen Realitätsmangel feststellen. Und Marilyn Stasio fällt auf, dass sich Kleinstadtschnüffler neuerdings mit globalen Waffenschiebereien und Terroristen herumschlagen müssen - in neuen Krimis von Steve Hamilton, Reggie Nadelson u.a.

Im Magazin der New York Times ruft Wyatt Mason das Zeitalter der Satire aus. Wenn Spott, das hehre "Verlangen nach dem Besseren" in unzulänglichen Zeiten, inflationär wird, meint Mason, wird's glitschig. Beispiel Bush: "Auf die Reporter-Frage nach der Gewalt im Nahen Osten antwortete Bush sarkastisch ... Nicht mit dem eleganten, treffsicheren, artistischen Sarkasmus eines Twain oder Colbert, sondern völlig unpassend und zugleich doch ganz entsprechend seines normalen rhetorischen Modus'. Denn Bush ist nicht unartikuliert, er ist gewissermaßen zu artikuliert: sein konsequent herablassender Ton verrät sein Überlegenheitsgefühl, wie bei einem Satiriker. Diesen unbekümmert sarkastischen, gedankenlos ironischen, willkürlich sardonischen Ton hören wir allerorten. Bush, das sind wir."

Außerdem: In einem irre langen Text dokumentiert Tim Golden die (vergeblichen) Bemühungen, aus Guantanamo einen menschlichen Ort zu machen. Lynn Hirschberg stellt den französischen Regisseur Michel Gondry vor. Michael Berube beschreibt den Zwist zwischen Konservativen und Liberalen an amerikanischen Universitäten und meint: Kein konservativer Student muss sich diskriminiert fühlen. Und im Gespräch mit Deborah Solomon erklärt der Kulturkritiker Lee Siegel, wie es kam, dass er sich im Blog des New Republic unter Pseudonym selbst beweihräuchern musste: Die Blogosphäre sei nämlich nichts für den Intellekt.
Archiv: New York Times