Magazinrundschau

Motz-Königin

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
24.02.2009. In der London Review zählt Perry Anderson die Diener im Quirinale. Salon.eu.sk dokumentiert einen Vortrag Peter Nadas' vor den ungarischen Nationalbankern - über Vertrauen. In Clarin feiert Roberto Saviano den neuen Fußballgott Messi. Literaturen feiert die schärfste deutsche Battle-Rapperin. Im Nouvel Obs erklärt die französische Historikerin Nelly Schmidt: Ohne die Briten wäre der französische Kolonialismus immer noch unerforscht.

London Review of Books (UK), 26.02.2009

Nicht einmal in der Ersten Republik, schreibt der Marxist und Historiker Perry Anderson, hat Italien ein solches Ausmaß an Habsucht, Ungerechtigkeit und Verwahrlosung erlebt, wie heute. Und daran, das macht Anderson sehr deutlich, ist nicht Berlusconi Schuld, sondern die Gier der ganzen politischen Klasse: "Der Quirinale, in dem der Präsident residiert - derzeit Giorgio Napolitano, bis gestern ein prominenter Kommunist, undurchdringlich wie seine Vorgänger -, stellte zuletzt 900 Diener in Rechnung. Die Kosten des präsidialen Establishment, die sich seit 1986 verdreifacht haben? Doppelt so hoch wie die des Elysee-Palasts, viermal so viel wie der Buckingham Palast, acht Mal so viel wie der deutsche Präsident... 2007 hatte Italien nicht weniger als 547.215 Dienstwagen - für eine regierende Klasse von 180.000 gewählten Repräsentanten; Frankreich hat 65.000 Limousinen. Sicherheit? Berlusconi gibt mit 81 Bodyguards auf Staatskosten ein Beispiel. Nach einigen Schätzungen entsprechen die Ausgaben für politische Repräsentation in Italien denen von Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Spanien zusammen. Unter dieser Kruste von Privilegien lebt jeder vierte Italiener in Armut."

Salon.eu.sk (Slowakei), 21.02.2009

Der Schriftsteller Peter Nadas hat kürzlich bei einem Treffen des - vergeblich gegen den Verfall des Forints kämpfenden - Währungsrats der ungarischen Nationalbank einen Vortrag über Vertrauen gehalten (englische Version bei salon.eu.sk). Er spricht darüber, welche Konnotation das Wort im Ungarischen, Französischen, Englischen oder Deutschen hat, wie Sprache in Europa benutzt wird (dissimulativ im Westen, simulativ in den ehemaligen Ländern des Ostblocks) und wie sich diese Art der Sprache auf die Einstellung zu Demokratie und Kapitalismus auswirkt. "Die Realität, die durch beide - ob sie nun simulieren oder dissimulieren - verborgen wird, hat eine unterschiedliche Gestalt. Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems wurde der Kapitalismus entfesselt und darum haben die, die dissimulieren sofort den Sozialstaat abgebaut, während sie zur selben Zeit die umgekehrte Ordnung von Politik und Wirtschaft verfochten. Es schien als ob das Allgemeinwohl dem globalen Wettbewerb im Wege stand und lokale Interessengruppen dazu zwang, politische Entscheidungen, die mit ihren finanziellen Interessen übereinstimmten, im Namen der ganzen Gesellschaft zu treffen. Auf der anderen Seite haben die, die simulieren, keine Sekunde die Idee aufgegeben, den Staat und ihre Nachbarschaft auszurauben - im Gegenteil, sie tun, was sie können, um zu verhindern, dass ihre illegalen Aktivitäten nach den Regeln der Demokratie und des regulierten Kapitalismus legalisiert werden."
Archiv: Salon.eu.sk

Clarin (Argentinien), 21.02.2009

"Gomorrha"-Autor Roberto Saviano, gerade zu Besuch in Argentinien, genießt es offensichtlich, einmal nicht über die Mafia zu schreiben. Dafür feiert er ausgiebig den neuen Fußball-Mythos Lionel Messi: "Messi spielen sehen ist wie Musik hören, als fügten sich vor deinen Augen die Teile eines auseinandergefallenen Mosaiks wieder zusammen, es ist wie eine Darlegung der Formeln von John Nashs Spieltheorie. Wie ein Schachspieler hat Messi die großen Spielzüge seines Meisters Maradona im Kopf, und manchmal gelingt es ihm tatsächlich, sie haargenau nachzuspielen. Messi hat sich übrigens nicht deshalb auf ein Interview mit mir eingelassen, weil ich Schriftsteller bin, sondern weil ich aus Neapel komme: Für einen Bewunderer Maradonas wie ihn ist das so, als begegnete ein Muslim jemandem, der in Mekka geboren ist."
Archiv: Clarin

Literaturen (Deutschland), 01.03.2009

Zu den "avanciertesten Battle-Rapperinnen deutscher Zunge" zählt Jutta Person Sibylle Lewitscharoff, die in ihrem neuen Roman "Apostoloff" die Ich-Erzählerin - eine wahre "Motz-Königin" - zusammen mit ihrer Schwester und einem Chauffeur mit der schockgefrorenen Leiche ihres lange toten Vaters nach Bulgarien reisen lässt, um ihn dort nochmal zu beerdigen. "Was ist so hassenswert an diesem Mann? Nicht nur, dass er sich umgebracht hat, als die Mädchen elf und dreizehn Jahre alt waren. Seinen Strick hinter sich herschleifend, erscheint er in den Träumen der Ich-Erzählerin,die sich wehrt, indem sie den Charakter des Melancholikers zerpflückt: Das 'Aas von Vater' war 'ein Finsterling, der die Herzen seiner Kinder verdüsterte', eine 'weichliche, selbstische Seelenmolluske' und ein 'Empfindlichkeitsapostel' - nahe liegend,dass man am besten zur Verbalschlägerin wird, wenn die Stelle der verletzlich-schwermütigen Diva schon vergeben ist."

Der Schwerpunkt ist Uwe Johnson gewidmet, den Literaturen zum Schriftsteller des Gedenkjahres 2009 kürt. Frauke Meyer Gosau preist Autor und Werk. Jörg Magenau besucht das Frankfurter Johnson-Archiv. Stefanie Peter porträtiert den Osteuropahistoriker und "forschenden Flaneur" Karl Schögel.
Archiv: Literaturen

Plus - Minus (Polen), 21.02.2009

Wer hätte gedacht, dass "Theaterrebell" Jan Klata ein Fan der Historienromane von Henryk Sienkiewicz ("Quo Vadis") ist. Doch der vielgereiste Regisseur hat jetzt dessen "Trilogie" für das Alte Theater in Krakau neu inszeniert. Im Interview erzählt er, warum. "Am meisten hat mich daran dieses lebendige Fundament des Polentums fasziniert - die 'Trilogie' wurde zum Mythos, dessen Helden seit 100 Jahren in unserem kollektiven Bewusstsein leben. Deshalb kann der Geschichtszyklus nicht nur im Kontext dessen gelesen werden, was Sienkiewicz geschrieben hat. Viele Menschen im Alten Theater haben die Bücher nicht mal gelesen, aber die Filme kennt jeder; sie prägen unser Geschichtsdenken, unsere politischen Ansichten, unser soziales und ästhetisches Empfinden".
Archiv: Plus - Minus
Stichwörter: Krakau, Klata, Jan

New Yorker (USA), 02.03.2009

Ziemlich zahm porträtiert Ryan Lizza den demokratischen Politiker Rahm Emanuel, Barack Obamas neuen Stabschef. Dessen überaus streitbarer Politikstil hat ihm den Spitznamen "Rahmbo" eingebracht. Lizza schreibt: "Emanuel wollte den Job erst nicht. (...) Während Obama noch um ihn warb, fungierte Rahms älteren Bruder Ezekiel, ein Onkologe und Bioethiker, als Resonanzboden. 'Ich habe täglich eine halbe Stunde damit zugebracht, mich von ihm anbrüllen zu lassen', sagte er. Ich will das nicht machen! Warum muss ich das? Sag’ mir, dass ich es nicht tun muss! Das hat mir klar gemacht, dass er genau wusste, dass er's tun musste.' (Ezekiel erzählte mir auch, dass die Rivalität zwischen ihm, Rahm und ihrem dritten Bruder Ariel, einem Hollywoodagenten, so groß war, dass sie ihrer Karrieren in verschiedenen Städten machen musste. 'Wir konnten es innerhalb eines Radius' von tausend Meilen nicht aushalten, die Kraftfelder hätten das nicht zugelassen.')"

Hier die drei Emanuels im Juni 2008 bei Charlie Rose:



Außerdem: Adam Gopnik untersucht das "Runyoneske" des amerikanischen Schriftstellers und Journalisten des Damon Runyon. David Denby sah im Kino Andrzej Waidas Drama "Katyn", den Animationsfilm "Coraline" von Henry Selick und Tom Tykwers Finanzthriller "The International". Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Brother in Sunday" von A.M. Homes und Lyrik von Jack Gilbert und Leonard Cohen.
Archiv: New Yorker

HVG (Ungarn), 21.02.2009

Am 8. Februar wurde in der ungarischen Stadt Veszprem der rumänische Handball-Nationalspieler Marian Cozma (bis zuletzt bei der Mannschaft der "MKB Veszprem" unter Vertrag) erstochen, zwei seiner Mannschaftsmitglieder schwer verletzt (mehr hier). Nach ersten Erkenntnissen handelt es sich bei den Tätern um Roma, die zu einer mafiösen Organisation gehören sollen. "Der Zigeuner hat wieder gemordet", hieß es prompt in der rechten Presse (mehr hier). So werden die Roma zu Vogelfreien erklärt, meint der Philosoph Janos Kis, der auf die (meist verschwiegenen) Verbrechen aufmerksam macht, in denen Roma Opfer rassistischer Gewalt wurden. Kis warnt: "Wer seine politische Basis in diesem Land mit ethnischer Stimmungsmache zu stabilisieren versucht, spielt mit dem Feuer. Die ersten Opfer der losbrechenden Emotionen könnten jene Menschen sein, die am meisten hilfsbedürftig und ausgeliefert sind – und sie sind es ja tatsächlich schon. Doch auch die Mehrheitsgesellschaft wird einen hohen Preis bezahlen müssen. Die vergangenen zwei Jahrzehnte haben gezeigt, wohin es führt, wenn wir die Last der Integration der Roma nicht auf uns nehmen. Am Ende dieses Weges erwartet uns nichts als die Katastrophe."
Archiv: HVG

Times Literary Supplement (UK), 18.02.2009

Jon Garvie hat sich durch eine Reihe von Büchern zur Globalisierung geackert und stellt fest, dass kulturelle Globalisierung ohne wirtschaftliche Globalisierung nicht zu haben ist. Auch wenn das Autoren wie J. MacGregor Wise ("Cultural Globalization") oder David Singh Grewal ("Network Power") zu glauben scheinen. "MacGregor Wises Mäandern durch Musik- und Jugendkultur zeigt das Bild eines kostenlosen globalen Süßigkeitenladens, in dem modische Kinder sich ihre Identitäten aussuchen und mischen können. Theoretischer Fachjargon strömt frei umher. Individuen 're-territorialisieren' ihre Gesellschaften und Machtverhältnisse zerfallen zu 'grenzgängerischen' kulturellen Räumen. MacGregor beginnt diese 'Wieder-Imaginierung' mit der Erklärung, dass sein Interesse nur kulturelle Globalisierung gilt. Aber der Ausschluss der Wirtschaft funktioniert nicht. Hinterfragen koreanische Teenager in Hiphop-Kleidung wirklich fundamentale Aspekte ihrer Kultur oder befriedigen sie nur eine Marktnische?"

In einem weiteren Artikel freut sich John Bowen über ein Buch, das die philantropischen Ambitionen von Charles Dickens dokumentiert: der hatte seinerzeit ein Frauenasyl eröffnet und versuchte dort mittels selbst erdachter Gesprächstherapie die Fehlgeleiteten zu resozialisieren. Mary Beard hat Stephen Halliwells Geschichte des Lachens in der griechischen Literatur und Philosophie gelesen und gelernt, dass Humorlosigkeit ein Wesenszug von Tyrannen ist, sich die alten Griechen besonders gerne über "Eierköpfe" amüsierten und der Maler Zeuxis sich buchstäblich totlachte, als er eines seiner eigenen Bilder betrachtete.

Nouvel Observateur (Frankreich), 20.02.2009

Vor dem Hintergrund des Generalstreiks in Guadeloupe ist in Frankreich das Thema des Umgangs mit der eigenen kolonialen Vergangenheit in der Karibik mal wieder sehr aktuell. Im Obs stellt die Historikerin Nelly Schmidt ihr jüngstes Buch mit dem provozierenden Titel "Hat Frankreich die Sklaverei abgeschafft?" vor. Darin erklärt sie, dass die Abschaffung der Sklaverei 1848 anders als in England keine von der Bevölkerung getragene Bewegung, sondern eine "Sache der Eliten" war und die damit beauftragte französische Kommission erbittert ihre ökonomischen Interessen verteidigte. "Drei Losungen haben die Abschaffung der Sklaverei 1848 begleitet: 'Aufrechterhaltung der Ordnung', 'Aufrechterhaltung der Arbeit' und 'Vergessen der Vergangenheit'. Vor allem letzteres hat sich als äußerst wirkungsvoll erwiesen. Die Historiker selbst sind der republikanischen Propaganda gefolgt und haben eine Vergangenheit produziert, die eher den Mythos als die Realität festschrieb. Die Geschichte blieb einseitig und wurde nur aus einem Blickwinkel betrachtet: dem der Kolonialherren und der Regierung." Das habe sich erst in den Sechigern geändert, als britische Historiker anfingen, die französische Kolonialzeit zu erforschen."

Ein ausführlicher Essay zur Geschichte des französischen Postkolonialismus ist unter der Überschrift "Französische Antillen oder Relikte des Kaiserreichs?" in La vie des idees zu lesen.

Polityka (Polen), 20.02.2009

Marcin Zaremba schreibt (hier auf Deutsch) über die Entdeckung des Massengrabs in Marienburg, in dem vermutlich hauptsächlich Deutsche liegen: "Dass die Entdeckung der Überreste zu einer Sensation werden konnte, zeigt, dass es um unser historisches Gedächtnis nicht allzu gut bestellt ist. Wir haben vergessen, dass unser Land übersät ist von Hunderten ähnlicher Gräber. Zumeist handelte es sich um Schützengräben, um Bombenlöcher, um Festungsgräben. Der Weg entlang der Todesgruben führt von Allenstein über Danzig, Graudenz, Kolberg, Schneidemühl, Stettin. Überall dort, wo es 1945 flächendeckende Bombenangriffe gegeben hatte oder verbissene Kämpfe stattgefunden hatten, also in Ostpreußen und auf dem Pommernwall, lagen Menschen- und Tierleichen. Im April und im Mai wurde der Gestank unerträglich. Die Fliegen waren so groß wie nie zuvor und schwärmten in Massen über den Schlachtfeldern." Damals musste man die Leichen schnell beseitigen, heute könnte man allerdings etwas pietätvoller vorgehen: "Ein Internetuser bemerkte kürzlich, dass ein Skandal ausgebrochen wäre, hätte man die Arbeiten in Katyn mit einem Bagger ausgeführt."
Archiv: Polityka
Stichwörter: Danzig, Stettin

Espresso (Italien), 20.02.2009

Der Frühling ist auch in Italien nicht weit, doch aufgrund der Etatkürzungen und der allgemeinen Lustlosigkeit im "Ministero per i Beni e Attivita Culturali" ruft der Espresso den italienischen "Kulturherbst" aus. Kultur steht bei der derzeitigen Regierung so weit hinten auf der Liste der Prioritäten, dass Berlusconi-Protege Sandro Bondi nach einem Jahr als Kulturminister Gerüchten nach demnächst das Handtuch werfen will. Salvatore Settis, der Leiter des wissenschaftlichen Beirats des Kulturministeriums, wünscht sich im Interview einen Sarkozy nach Italien. "Nicht für das Kulturministerium, sondern eine Etage drüber: um das Ressort zu verteidigen. Wenn es der Wirtschaft schlecht geht, reagiert die italienische Regierung mit der Kürzung des Kulturetats. Die französische Regierung tut genau das Gegenteil: schon im vergangenen September versicherte Präsident Sarkozy, dass man in Krisenzeiten in die Kultur investieren muss(...) Sarkozy, dem man wahrlich nicht nachsagen kann, er sei ein Kommunist, hat sofort gehandelt. Er hat die Öffnungszeiten der Museen verlängert und dafür gesorgt, dass mehr Leute freien Eintritt genießen. Das ist kein Tabu: so macht es die National Gallery und auch das British Museum. Ja, der Staat gibt mehr aus, aber es lohnt sich: das ist ein großartiger Beitrag zur menschlichen und staatsbürgerlichen Bildung."
Archiv: Espresso
Stichwörter: British Museum, Benin, Kulturetat

New York Review of Books (USA), 12.03.2009

Fred Halliday empfiehlt fasziniert Steve Colls Buch "The Bin Ladens" (deutsch: "Die Bin Ladens"), auch wenn es vielleicht nicht genau hält, was der Titel verspricht. "Wer Colls Buch liest, betritt ein Universum der konstanten Bewegungen und Vereinbarungen, in dem jedoch kaum etwas aufgenommen oder aufgeschrieben ist. Hier werden Macht und Geld nach der Bedeutung von Familiennetzwerken, informellen Treffen einflussreicher saudischer Männer und dem Handy verteilt. 'Die Bin Ladens' ist nicht so sehr ein Buch über Osama Bin Laden oder sein Terroristennetzwerk und seine politischen Pläne als vielmehr ein Buch über die Machtstrukturen des modernen Saudiarabiens. Was das angeht, ist es sehr informativ."

Weitere Artikel: Ian McEwan schreibt über John Updike. Julian Barnes untersucht Orwells Verhältnis zu England und das Verhältnis der Engländer zu ihm. Besprochen werden Gus van Sants Film "Milk" und Bücher, darunter die Erinnerungen von Azar Nafisi.