Magazinrundschau

Kritikimmuner Springteufel

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
24.06.2014. Der Hollywood Reporter porträtiert den schwedischen Regisseur Malik Bendjelloul, der vor wenigen Wochen Selbstmord beging. Der New Yorker zertrümmert die Diskontinuitätstheorie. Im Guardian erklärt Will Self den Verwandtschaftsgrad von neolithisch und neoliberal. In Valleywag erklärt Lawrence Lessig, warum Silicon Valley im Moment ein guter Bündnispartner ist. Der Rolling Stone bestaunt den Nipster. Wired sagt Servus zur Netzneutralität. Und die NYT fragt: Thirtysomethings, wollt ihr ewig bei euren Eltern leben?

Hollywood Reporter (USA), 11.06.2014

Als der schwedische Regisseur Malik Bendjelloul vor einigen Wochen Selbstmord beging, war die Öffentlichkeit schockiert: Nach dem Oscar für seine Doku "Searching for Sugar Man" standen dem 36-jährigen in der Filmwelt alle Türen offen, seine Freunden erlebten ihn als außerordentlich lebensfroh und ausgeglichen, berichtet Scott Johnson in einem großen Porträt. Allmählich entdeckt Johnson aber auch eine zwanghafte Seite an Bendjelloul: "Einmal nahm er beispielsweiße ein halbes Jahr lang jeden Tag das exakt gleiche Frühstück ein, nur um eines Tages in den Genuss zu kommen, sein Menü zu ändern. Lange Zeit gab es eine bestimmte Tomatensauce, die er liebte, und als er hörte, dass sie nicht länger hergestellt würde, rief er alle Läden in Stockholm an und kaufte ihre Bestände auf. Er war vollauf zufrieden, jeden Abend Pasta mit dieser Sauce zu essen. Eines Tages erzählte er seiner Produzentin Karin af Klintberg, dass er entschieden habe, sich von seiner Freundin zu trennen, weil sie seit genau vier Jahren, vier Monaten und vier Tagen zusammen waren. "Es erschien mir vollkommen plausibel, als er mir das sagte", erinnert sich Klintberg. "Er war sehr überzeugend.""

Guardian (UK), 21.06.2014

Der Schriftsteller Will Self versucht das Geheimnis von Stonehenge zu erklären, das die English Heritage Foundation zu einer Pilgerstätte für Hippies, Esoteriker und Millionen von Touristen gemacht hat: Dabei stößt Self auf einige schlagende Gemeinsamkeiten mit den Vorfahren: "Sie kamen über die See; wir erreichen normalerweise Stonehenge über die A303. Sie mögen bei der Siedlung Durrington Wall gerastet haben, wir parken direkt am Besucher-Center. Sie marschierten zu Fuß mehrere Kilometer von Ost nach West; wir fahren die zwei Kilometer mit unserem Land Rover von der Lastzug-Station. Höchstwahrscheinlich bezahlten sie mit ihrem Leben für diese Erfahrung; wir legen 13,90 Pfund oder 32 Pfund - wenn wir das Stone Circle Access-Ticket wünschen - auf den Tisch. Sie befolgten wahrscheinlich einen von den Steinen vermittelten Ritus - wir tun es definitiv ... Je mehr man darüber nachdenkt, desto offensichtlicher werden die Parallelen zwischen dem Neolithischen und Neoliberalen: Archäologen sind sich darüber einig, dass die Architektur des Monuments auf einen Ahnenkult verweist; was uns angeht, besteht kein Zweifel: wir verehren die Idee ihrer Ehrerbietung. Wir sind gefangen in unserer entwürdigten Meta-Ahnen-Anbetung."

Weiteres: Sheila Fitzpatrick liest in Peter Finns und Petra Couveés Buch "The Zhivago Affair" nach, wie die CIA mit der turbulenten Veröffentlichung von Pasternaks Roman "Doktor Schiwago" zur obersten Kulturförder-Institution im Kalten Krieg wurde. Im Interview mit Emma Brockes spricht der nigerianisch-amerikanische Schriftsteller Teju Cole über Lagos, New York und seinen zweiten Roman "Every Day is for the Thief".
Archiv: Guardian

Les inrockuptibles (Frankreich), 03.06.2014

Die Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre haben eine kleine Schrift über den Rechtsruck in Frankreich geschrieben: "Vers l"extrême - Extension des domaines de la droite". In einem Gespräch erläutern sie ihre Einschätzung, wonach rechte Themen zunehmend die Politik, auch die der Linken, infizierten und sogar in den Diskurs sogenannter intellektueller Milieus Eingang fänden. Luc Boltanski konstatiert "einen allgemeinen Rutsch. Etwa die neue Bereitschaft von Sozialforschern, die Frage der nationalen Identität für das zentrale Problem zu halten. Das war vor zwanzig Jahren nicht der Fall." Auf die Frage, ob er damit auch auf Alain Finkielkraut anspiele, begründet er seine Weigerung, Namen zu nennen so: "Sie haben Alain Finkielkraut genannt, aber wenn er es nicht ist, ist es ein anderer, auf den man stößt, der unerwartet den einen oder anderen dieser Gedanken äußert. Viele unserer Leser setzen verschiedene Namen unter die Zitate: Das bedeutet also, dass man einen Allgemeinzustand berührt."

New Yorker (USA), 23.06.2014

Unter den Theorien des Wandels ist die Diskontinuitätstheorie die unangenehmste, weil sie zeigt, wie ganze Industriezweige und Berufe durch disruptive Technologien überflüssig werden. Jill Lepore stellt die Theorie mit Hilfe von Clayton M. Christensens Buch "The Innovator"s Dilemma. Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren" und vieler Beispiele (z. B. Disk-Drive-Industrie) vor und fragt, warum sie eigentlich so wenig kritisiert wird: "Große Ideen haben gewöhnlich viele Kritiker. Nicht so diskontinuitive Neuerung. Gründe: bahnbrechende Innovation ist immer überstürzt, während Kritik Zeit braucht. Ihre Verfechter geben den Kritikern das Gefühl altmodisch zu sein und den Fortschritt zu behindern. Ferner ist Neuerung in ihrer heutigen Verwendung so etwas wie Fortschritt als kritikimmuner Springteufel … Den Begriff "Fortschritt" durch "Neuerung" zu ersetzen, umgeht die Frage, ob eine Neuheit eine Verbesserung darstellt oder nicht: Die Welt mag nicht besser werden, dafür werden unsere Geräte immer neuer." Laut Lepore bildet die Theorie die Wirklichkeit nur unzureichend ab, Unternehmer seien nämlich viel klüger: "Diskontinuitätstheorie beschreibt, warum Unternehmen scheitern, nicht mehr. Sie erklärt weder den Wandel noch ist sie ein Naturgesetz. Sie ist historisches Artefakt, zeitbedingte Idee. Geblendet vom Wandel, ist sie blind für Kontinuität; ein schlechtes Orakel."

Bloomberg Businessweek hat Christensen zu Lepores Artikel interviewt: Der Arme ist so empört über den Angriff, dass er gelegentlich von sich in der dritten Person spricht.
Archiv: New Yorker

Times Literary Supplement (UK), 20.06.2014

Nicht ohne noch einmal zu betonen, dass George Best der größte Fußballer aller Zeiten war (Pelé, Cruyff, Maradona, Zidane oder Messi waren höchstens die besten) macht sich der britische Literaturwissenschaftler Brian Cummings daran, das Wesen des Sports zu ergründen. Um Jugend geht es auf keinen Fall, eher um Schnelligkeit: "Körper in Zeit und Raum: das ist Fußball. Das ganze Geschehen ergibt sich aus der Anstrengung des menschlichen Körpers, Kontrolle über die Zeit zu gewinnen, durch eigenes Eingreifen und, da der Fußball in seinem Wesen ein Mannschaftsspiel ist, im Zusammenspiel mit anderen menschlichen Körpern, immer im Streben nach dem offenbar unmöglichen Ziel der Perfektion. "Zweimal habe ich in meinem Leben beim Anblick eines Fußballspielers geweint", sagte Alessandro del Piero (das erste Mal bei Maradona, das zweite Mal bei Ryan Giggs - PT). Dachte er an jenen Moment geraubter Zeit, an den flüchtigen Augenblick der Anmut, wenn die Hässlichkeit des Lebens, die Plumpheit des Körpers, seine Hinfälligkeit und seine Sterblichkeit vergessen sind? Fußball ist Hoffnung gegen Erfahrung, Sehnsucht gegen Frustration, das Festhalten der Zeit während ihres Vergehens."

Telerama (Frankreich), 19.06.2014

Unter der Überschrift "Wie kann man Frauen die Stadt zurückgeben?" schreibt Marion Rousset über ein Phänomen, mit dem sich inzwischen Stadtplaner und Soziologen beschäftigen: die geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Nutzung und Wahrnehmung der Stadt. Während die Straße eigentlich als Gemeingut gilt, sei sie dennoch für Männer ein Ort des Spielens und der Geselligkeit, für Frauen hingegen ein latent feindliches Milieu. Sie hätten einfach nicht die "Unbekümmertheit von Männern" zitiert sie eine Stadtplanerin. "Was die Stadt angeht, müssen die Karten noch einmal neu gemischt werden. Und man muss sich daran erinnern, dass Testosteron schon weit vor dem Schulabschluss unter Jugendlichen die Vormachtstellung einnimmt. Bereits in der Grundschule drängen sich die kleinen Mädchen an den Rändern und in Winkeln des Schulhofs zusammen, während ihre männlichen Klassenkameraden dessen Zentrum okkupieren."
Archiv: Telerama
Stichwörter: Stadtplanung

London Review of Books (UK), 03.07.2014

Benjamin Kunkel diskutiert ausgiebig Thomas Pikettys "Kapital im 21. Jahrhundert" aus der kritischen Perspektive des Marxisten und beklagt Unstimmigkeiten in der These, dass Renditen immer höher sind als das Wachstum. Können die Weltkriege wirklich die lange Ausnahme erklären? "Wenn der industrielle Kapitalismus als internationales Phänomen ungefähr 180 Jahre alt ist, dann trifft für ein Drittel der Zeitspanne (von 1914 bis 1974) die Formel r>g nicht zu: eine Unterbrechung, die Piketty in keiner anderen Epoche findet. Mit anderen Worten: Diesem Gesetz des Kapitalismus gehorcht der Kapitalismus am wenigsten." Andererseits gewinnt Kunkel eine böse Erkenntnis: "Zumindest in formaler Hinsicht ist Marx" Theorie klar überlegen. Sie geht von einem inneren Widerspruch aus - die Akkumulation des Kapitals führt sich selbst in die Krise - der einen speziell kapitalistischen Mechanismus bedingt: das Streben nach Profit durch die Ausbeutung der Lohnarbeit. Pikettys r>g ist dagegen kein logischer Fundamentalwiderspruch, wie er behauptet. Die Akkumulation des Kapitals, die das Wirtschaftswachstum unbegrenzt übersteigt, würde eine "Spirale endloser Ungleichheit" schaffen, die weniger für die Profitabilität eine Gefahr darstellt als für demokratische Gesellschaften und die Werte sozialer Gerechtigkeit, auf denen sie beruhen". Der Kapitalismus kann leichter auf die Demokratie verzichten als auf den Profit. Im anstehenden Jahrhundert wird die Frage sein, wie weit er erstere minimieren wird, um letzteren zu maximieren."

Rolling Stone (USA), 23.06.2014

Gibt es so etwas wie Nazi Hipster oder Nipster? Oder ist dieser angeblich modisch ausstaffierte Nazi eine Medienerfindung? Ganz klar wird das weder aus Internetrecherchen noch aus dem großen Artikel von Thomas Roger, der zwar in Deutschland junge Neonazis trifft, aber eigentlich nur solche, die sich in den klassischen Strukturen dieser Strömung bewegen. Sie machen sich den Begriff des "Nipsters" nun aber zu eigen, etwa Andy Knape der Chef der Jungen Nationaldemokraten, der im Sächsischen Landtag residiert. "Für Knape, der mit amerikanischer Popkultur aufwuchs, wäre es eine dumme Politik, den Leuten vorzuschreiben, was sie hören oder sehen sollen - er möchte es sich lieber aneignen und nutzen, um Leute für die Szene zu gewinnen. Michael Schaefer, der leicht nervöse 31-jährige Pressesprecher der Jungen Nationaldemokraten, stimmt aufgeregt ein: "Wir haben den Nipster übernommen", sagt er, bevor er sich wieder dämpft: "Damit meine ich den nationalistischen Hipster, nicht den Nazi-Hipster." In die Welt gesetzt wurde der Begriff wohl im Netz-gegen-Nazis, wo man bei einem Naziaufmarsch einen Hipster mit Jutetasche gesichtet hatte.
Archiv: Rolling Stone

Nepszabadsag (Ungarn), 20.06.2014

Ende des Monats wird in Berlin Iván Fischers Oper "Die rote Färse" aufgeführt. Die Handlung beruht auf einem wahren Vorfall im Ungarn des 19. Jahrhunderts: Damals waren in dem Dorf Tiszaeszlár zwei Juden des Ritualmords an einem 14-jährigen Mädchen beschuldigt worden. Doch über die Handlung möchte Fischer gar nicht reden, die Musik drückt viel mehr aus, sagt er im Gespräch mit Judit Csáki: "Sicherlich denke ich, dass die beschämende Ritualmord-Beschuldigung von Tiszaeszlár alles ausdrückt, was dieses Land seit einem Jahrhundert zerstört, doch darüber viel zu reden ist sinnlos, denn das Böse ist hier offensichtlich. (...) Nebeneinander existieren unterschiedliche Musikrichtungen, Volksmusik und die chassidische Liederwelt, aber es musste auch zeitlos sein und auch um die Zukunft gehen, wie die Geschichte selbst. So nahm ich auch Elemente vom Rap und Blues mit auf."

Archiv: Nepszabadsag

Wired (USA), 23.06.2014

Mit einem Beitrag von Robert McMillan eröffnet Wired eine Debatte über Netzneutralität, die im Laufe der Woche durch weitere Beiträge fortgesetzt werden soll. McMillans Befund fällt dabei besonders ernüchternd aus: Faktisch sei das Netz längst nicht mehr neutral, da diverse großen Player wie Google, Facebook und Netflix, die für einen Großteil des Traffics verantwortlich zeichnen, eigene Daten-Pipelines zu den Providern unterhalten - was den Nutzern im übrigen nur recht sein könne, und die Argumente der Neutralitätsbefürworten zielten ohnehin ins Leere, da sie auf seit Jahren obsoleten Vorstellungen der Funktionsweise des Internets gründeten. Um gröbste Auswüche eines Zweiklassen-Internets zu verhindern, müsse man deshalb nicht Netzneutralität fordern, sondern den Wettbewerb zwischen den Providern: "Das Problem von heute besteht nicht in den schnellen Verbindungen [für einzelne Unternehmen]. Das Problem besteht darin, ob die Internetprovider so groß werden, dass sie unangemessene Kontrolle über den Markt für schnelle Übertragungsgeschwindigkeiten haben - ob sie unabhängig darüber befinden können, wer zu welchen Bedingungen und zu welchem Preis Zugang dazu erhält. ... [Rechtsanwalt und Neutralitätsbefürworter] Marvin Ammori bereitet es Sorgen, dass die Internetprovider - und insbesondere Comcast - jüngst damit begonnen haben, ihre Muskeln spielen zu lassen. ... Wenn Privatkunden und Webfirmen aus einer Vielzahl von Providern wählen können, kann kein einzelner Anbieter darüber entscheiden, wer was erhält."
Archiv: Wired

New York Times (USA), 22.06.2014

Adam Davidson porträtiert die Generation Boomerang, Twenty- oder Thirtysomethings, die nach der Ausbildung wieder ins Hotel Mama zurückkehren. Warum bloß? "Einer von fünf Menschen in diesem Alter lebt bei seinen Eltern, 60 Prozent aller jungen Erwachsenen erhalten finanzielle Hilfe von den Eltern, ein enormer Anstieg im Vergleich zur letzten Generation. Eine Erklärung dafür liegt in den ökonomischen Entwicklungen, mit denen die jungen Leute konfrontiert wurden. College-Absolventen aus der Zeit der Immobilien- und Finanzkrise tragen die höchste Schuldenlast der Geschichte … Dazu ist über die Hälfte von ihnen un- oder unterbeschäftigt … Allerdings ist die Rezession nur ein Teil des Problems. Sie verstärkte bloß einen Trend der letzten 30 Jahre. Seit 1980 wurde die US-Wirtschaft und besonders junge Menschen, die auf den Arbeitsmarkt kommen, durch den systematischen Wandel destabilisiert: Außenhandelswachstum, technologischer Fortschritt, Steuerpolitik … Generation Boomerang ist kein temporäres Phänomen, sondern Teil eines ganz neuen Lebensabschnitts, der für eine uns alle betreffende ökonomische Entwicklung steht. So neu, dass die Betroffenen sich noch keinen Reim darauf machen können, ob ein Leben mit den Eltern ein Zeichen für das eigene Versagen ist oder ein langfristiger und finanziell zweckmäßiger Schritt."

Außerdem erkundet Daniel Brook, ob der profilierte indische Architekt Hafeez Contractor mit seinen Projekten das Leben in Bombays Slums erträglicher gemacht hat.
Archiv: New York Times