Magazinrundschau

Tragischer Realismus

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
09.11.2021. Bloomberg wirft einen langen Blick auf Togo und stellt fest: Die können Digitalisierung. Der amerikanische Staat ist nicht die Plantage, ruft der Jurist Richard Thompson Ford in Liberties. Der New Yorker stellt uns die obersten Drogenhändler von Honduras vor: Präsident Juan Orlando Hernández und sein Bruder Juan Antonio. Osteuropa liest Putins jüngste Rede zur russischen Geschichte und stellt fest: Die Ukraine ist jetzt aufgegangen in Russland. Die London Review beschäftigt sich mit den kriegerischen Thesen des ökologischen Leninisten Andreas Malm. Die New York Times hat Appetit auf Sushi und stößt auf die Moon Sekte.

Bloomberg Businessweek (USA), 08.11.2021

Bewundernd blickt Ted Alcorn auf Togo, ein Land mit etwa 8 Millionen Einwohnern und einem Durchschnittseinkommen von weniger als 2 Dollar pro Tag, das in nur zwei Wochen ein digitales System für seine staatlichen Covid-Hilfen aufbaute, das die USA (von Deutschland gar nicht zu reden) alt aussehen lässt. Novissi, was in der lokalen Ewe-Sprache 'Solidarität' bedeutet, so Alcorn, ist eine Idee von Cina Lawson, der Leiterin des Ministeriums für digitale Wirtschaft und digitale Transformation. Lawson wurde in Togo geboren, musste als Kind mit ihrer Familie ins Exil nach Paris, wo sie aufwuchs, studierte am Institut d'Études Politiques und in Harvard und arbeitete in New York in der Telekommunikation. Togos neuer Staatschef Faure Gnassingbé holte sie nach Togo zurück. "Auch weil Novissi sich als so erfolgreich erwiesen hat, hat sich das Ministerium mit GiveDirectly und Forschern der Universität von Kalifornien in Berkeley zusammengetan, um eine weitere Runde von Zahlungen für die 200 ärmsten Bezirke zu finanzieren. Um sie zu finden, trainierten die Forscher einen Algorithmus, der anhand von Satellitenbildern verarmte Gemeinden anhand ihres Stadtgrundrisses und ihrer Baumaterialien identifizierte. Die Forscher konnten die einzelnen Begünstigten nicht nach ihrem Beruf auswählen, da viele Landbewohner keine differenzierten Berufe ausübten. Stattdessen entwickelten sie einen zweiten Algorithmus, der Daten von Mobiltelefonen - einschließlich der Häufigkeit und des Zeitpunkts von Anrufen, SMS und Datennutzung - zur Identifizierung der ärmsten Nutzer verwendete. In den nächsten Monaten wurden im Rahmen dieser Runde Mittel an 138 000 weitere Begünstigte ausgezahlt. 'Ich brauche Ihren Namen nicht zu kennen, um zu wissen, dass Sie Unterstützung brauchen', sagt Lawson. 'Das ist revolutionär.'"
Stichwörter: Togo, China

Liberties (USA), 09.11.2021

In einem langen, sehr nuancierten Essay denkt Richard Thompson Ford, Juraprofessor in Stanford, darüber nach, wie stark Sklaverei und Rassismus heute noch das Leben schwarzer Amerikaner bestimmen. Dass sie Folgen hatten, die noch zu spüren sind, ist klar, meint er. Aber sind sie wirklich das Grundübel von allem? Von Kapitalismus, Polizeigewalt, Armut? Ford ist das zu einfach gedacht: "Die Schrecken der Sklaverei waren reale und objektive Tatsachen. Aber die Gemeinschaft, die durch die Sklaverei definiert wurde, ist, wie alle Gemeinschaften, die durch Landkarten, Flaggen, Hymnen, Museen, politische Institutionen und militärische Macht definiert werden, eine Vorstellung. Das bedeutet nicht, dass sie unbedeutend oder phantastisch ist, sondern nur, dass sie nicht direkt als solche erfahren werden kann - sie muss aus den Fragmenten kleinerer Begegnungen, Symbole und Geschichten über bedeutende Unterschiede und Umstände über Jahrhunderte hinweg imaginativ rekonstruiert werden. Und die Phantasie kann ein unzuverlässiger Erzähler sein. Eine Darstellung der zeitgenössischen Rassenungleichheit, die sich unerbittlich auf die Sklaverei konzentriert, ist unvollständig und verzerrt. In einer solchen Darstellung, die eigentlich eine Mythologie ist, wird die Sklaverei zu einer transhistorischen Kraft, die unvermittelt nach außen dringt und allzu leicht soziale Muster zu erklären scheint, die komplexe und vielfältige Ursachen haben. Wenn das Erbe der Sklaverei die heutige Rassenunterdrückung definiert, welcher Raum bleibt dann noch für die universelleren Übel des ausbeuterischen Kapitalismus, der kastenähnlichen sozialen Hierarchie, des strafenden Moralismus und der banalen technokratischen Bösartigkeit der modernen Zivilisation, wie sie von Hannah Arendt und den Philosophen der Frankfurter Schule in Kontexten erforscht wurden, die weit von den Übeln der Sklaverei entfernt, aber von anderen unaussprechlichen Übeln durchdrungen sind?"
Archiv: Liberties

Osteuropa (Deutschland), 08.11.2021

Wenn Russlands Präsident Wladimir Putin über die russische Geschichte schreibt, fühlt sich der Historiker Andreas Kappeler an jene Zeiten erinnert, als die sowjetische Führung ihre Geschichtsauffassung im Leitfaden für Wissenschaft und Unterricht deklarierte. Im Sommer 2020 hatte Putin in einem Aufsatz den Hitler-Stalin-Pakt und das geheime Zusatzprotokoll zur Aufteilung Polens verteidigt. Jetzt hat er mit einem Aufsatz nachgelegt, der die Trennung der Ukraine von Russland als "großes Unglück für alle, als Tragödie" beschwört. Für Kappeler scheint höchste Vorsicht geboten: "In seinem Aufsatz vom 12. Juli 2021 gibt Putin erstmals eine zusammenhängende Darstellung der Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen. Er hat sich radikalisiert und postuliert nun die Einheit der beiden Völker ohne Einschränkungen. Er schreibt nicht mehr von der 'russisch-ukrainischen Welt', sondern nur von der 'russischen Welt', und lediglich mit Vorbehalten von einer eigenständigen ukrainischen Nation. Auch seine Liebe für das ukrainische Volk und seine Kultur ist erkaltet. Mit dem Titel 'Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer' und der These, dass Russen und Ukrainer ein Volk seien, provoziert er die offizielle Ukraine und die national orientierte Öffentlichkeit, die sich von Russland immer deutlicher abgrenzen. Gleichzeitig appelliert er politisch geschickt an die in Teilen der ukrainischen Öffentlichkeit noch immer verbreitete Verbundenheit mit Russland, mit der russischen Sprache und Kultur."
Archiv: Osteuropa

New Yorker (USA), 15.11.2021

Jon Lee Anderson erklärt, wie Honduras sich in ein Drogen-Eldorado verwandelt hat, mit seinem Präsidenten Juan Orlando Hernández und dessen Bruder Juan Antonio (Tony) als obersten Drogenhändlern: "Die Staatsanwälte beschrieben Tonys Weg als korrupte Karriere, die dazu beigetragen hatte, Honduras in einen virtuellen Drogenstaat zu verwandeln. Hernández, sagten sie, habe Waffen an Drogenhändler verkauft und andere Händler über amerikanische Bemühungen informiert, honduranische Piloten für nächtliche Razzien auszubilden. Er hatte Millionen Dollar aus Drogenverkäufen dazu benutzt, die Wahlen seiner Partei zu finanzieren. Im Namen seines Bruders, des Präsidenten, hatte er von Joaquín (El Chapo) Guzmán, Chef des Sinaloa-Kartells, millionenschwere Bestechungsgelder angenommen. Der leitende Staatsanwalt nannte Hernández einen 'einzigartig schlechten Charakter, der zusammen mit seinem Bruder im Zentrum des jahrelangen staatlich geförderten Drogenhandels steht'. Sein kriminelles Verhalten, so der Staatsanwalt, habe Honduras zu 'einem der wichtigsten Umschlagplätze für Kokain und einen der gewalttätigsten Orte der Welt' gemacht. Präsident Hernández bestreitet jede Beteiligung. Die Verteidigung hat die Hauptzeugen, alles gestandene Drogenhändler, als Serienmörder bezeichnet, die sich Begnadigung erhoffen. Die Staatsanwälte hingegen verweisen darauf, dass unter den Beweisen ein Verzeichnis der Drogeneinnahmen sei, das die Initialen des Präsidenten trage: J.O.H., wie er in Honduras genannt wird. Sie stellten auch fest, dass Tony eine Uzi mit der Eingravierung Juan Orlando Hernández, Presidente de la República trug … Während der Trump-Administration lobten die Republikaner Juan Orlando Hernández als vertrauenswürdigen Partner in sensiblen Fragen, darunter Anti-Terror- und Anti-Drogen-Bemühungen. Am bedeutendsten war wohl die Bereitschaft, Trump bei der Eindämmung der Einwanderung zu helfen."

Außerdem: Ian Parker berichtet von einem schweren Fall von Etikettenschwindel in der Biofood-Branche. M. R. O'Connor beschreibt den Kampf gegen immer größere Brände. Brooke Jarvis stellt ein Projekt für Wildtiere vor, die gut neben Menschen leben können. Peter Schjeldahl führt durch die Kandinsky-Schau im Guggenheim. Meghan O'Gieblyn stellt zwei Bücher vor, die die Vorteile von Schmerz erkunden. Und Anthony Lane sah im Kino "Spencer" mit Kristen Stewart als Prinzessin Diana.
Archiv: New Yorker

London Review of Books (UK), 04.11.2021

Der schwedische Humanökologe und militante Klima-Aktivist Andreas Malm glaubt nicht an das Heraufziehen eines Goldenen Zeitalters, wenn wir nur endlich mit dem Greeen New Deal in eine erneuerbare Zukunft starten. Den Historiker Adam Tooze wundert dies nur auf den ersten Blick, wie er zu Malms neuen Manfesten schreibt: "Als historische Analogie bevorzugt Malm den Ersten Weltkrieg und seine Folgen, eine Phase revolutionärer Umwälzungen und faschistischer Gewalt. ... Malms eigener politischer Hintergrund liegt im Trotzkismus, aber er erklärt sich selbst jetzt zum ökologischen Leninisten. Seine Mitautoren von 'White Skin, Black Fuel' nennen sich selbst das Zetkin-Kollektiv nach der deutschen Kommunistin und Feministin Clara Zetkin, deren Asche 1933 an der Kremlmauern bestattet wurde und auf deren Faschismus-Interpretation sie sich berufen. Einige werden Malm vorwerfen, Revolution spielen zu wollen, während der Planet in Flammen steht. Aber seine Position ist tatsächlich eine des tragischen Realismus. Für ihn und seine Mitstreiter ist das entscheidende Merkmal des Klimawandels, dass er ein 'revolutionäres Problem ohne revolutionäres Subjekt' ist. Die Umweltbewegung mag sich mit sozialen Bewegungen verbunden haben, aber sie selbst war nicht in der Lage, 'sich dem Kapitalismus mit derselben Kraft entgegenzustellen, die einst die Dritte Internationale oder die nationalen Befreiungsbewegungen aufbrachten, oder sogar die Sozialdemokraten; eine lahme Nachfolgerin: Sie gewann keinen Vietnamkrieg und baute nichts auf, was dem Sozialstaat gleichkommt'. Die Verbindung zwischen unserer Realität von heute und den Revolutionen vor hundert Jahren ist das Bewusstsein der drohenden Katastrophe. Die Revolutionäre des frühen 20. Jahrhunderts betrachteten die Versprechen des 19. Jahrhundert vom unaufhaltsamen Fortschritt als leer, oder wie Walter Benjamin als desaströs. Den totalen Krieg vor Augen pochten sie darauf, dass ihr Handeln entscheidend war, um die Katastrophe abzuwenden." Statt auf einen Green New Deal setzt Malm auf Kriegskommunismus.

In einem zweiten Text zu Andreas Malm kreist James Butler um Malms Manifest "Wie man eine Pipeline in die Luft jagt" und die Frage, wie militant die Umweltbewegung werden wird. In einem Schlenker scheint ihm ausgerechnet die Lausitz eine Bestätigung für Malms düstere Prophetie zu liefern: "In den letzten zehn Jahren ist Deutschland zum weltweit größten Produzenten von Braunkohle geworden. 2019 war das Land für 21 Prozent der Emissionen in der EU verantwortlich, 2018 war es der sechsgrößte Emittent von CO2 aus fossiler Energie. Sieben der zehn größten Einzelquellen von CO2 in Europa sind mit der deutschen Braunkohle verbunden. Mit wahrscheinlich keiner anderen Einzelaktion könnte man so entscheidend die europäischen Emissionen reduzieren wie mit der Schließung der Minen. Aber die Lausitz, wo viele der Gruben liegen, ist eine Hochburg der rechten AfD: Als die große Koalition 2017 über eine Schließung dieser Minen nachdachte, errang die Partei in der Region über dreißig Prozent."

Respekt (Tschechien), 04.11.2021

Klára Zajíčková unterhält sich mit den beiden tschechischen Soziologinnen Lucie Jarkovská und Kateřina Lišková von der Brünner Masaryk-Universität, die ihre Erkenntnisse aus der Feminismus-Forschung über Social Media und mit Bühnenauftritten als "Duo docentky" einem größeren Publikum unterbreiten und einen Programmabend gerne mal mit einem Satz beginnen wie: "Im Jahr 1969 stand der erste Mensch, natürlich ein Mann, auf dem Mond, aber wie die Klitoris aufgebaut ist, haben wir erst dreißig Jahre später erfahren." Die beiden beobachten, dass in Zeiten allgemeiner Unsicherheit immer wieder Frauenrechte angegriffen werden - Zeichen dessen sind die verschärften Abtreibungsgesetze von Texas bis Polen. Und nicht nur das: "In Polen führt man jetzt eine Debatte darüber, wie Mädchen sich für die Schule anziehen sollten, dass sie nicht Miniröcke und enge Oberteile tragen sollten und man sie zu Reinheit und Moral erziehen sollte. Die Jungen müssen nicht rein und moralisch sein", so Lucie Jarkovská. Eine Erklärung finden die Soziologinnen in der allgemeinen Verunsicherung: "Die Finanzkrise von 2008, die Flüchtlingskrise von 2015, die Pandemie von 2020 untergraben alle die Vorstellung, dass die Welt nach klaren Regeln funktioniert. In Reaktion darauf warten Politiker und Politikerinnen mit Lösungen auf, die die freien Entscheidungsrechte von Frauen eingrenzen. Für einige Politiker ist das Abtreibungsverbot ein Mittel, um zu zeigen, dass alles wieder 'in Ordnung' kommt, dass wir zu den 'guten alten Lösungen' zurückkehren." Der Schutz von Leben sei dabei eher eine Pseudoagenda, seien doch "die Abtreibungszahlen in den letzten Jahrzehnten die niedrigsten" gewesen.
Archiv: Respekt

Spectator (UK), 09.11.2021

Alles was Männer können, können Frauen mindestens genauso gut. Auch Banken ausrauben, lernt Julie Bindel aus Caitlin Davies' Buch "Queens of the Underworld": "Wenn Sie auf der Suche nach Juwelendieben, Bankräubern und Goldschmugglern sind, sind Sie hier genau richtig. Es beginnt 1960 und erzählt die Geschichte von Zoe Progl, einer professionellen Gaunerin, die bei einem einzigen Raubüberfall Pelze im Wert von 250.000 Pfund gestohlen hat. Nach ihrer 20-jährigen Haftstrafe im Holloway-Gefängnis gelang Progl der erfolgreichste Gefängnisausbruch seit 75 Jahren, als sie über eine 25 Fuß hohe Mauer in die Freiheit kletterte. ... 'Queens of the Underworld' ist ein ausgelassener Bericht über alle Arten von Verbrechen, die von Frauen begangen wurden, vom 17. Jahrhundert bis heute. Moll Cutpurse war um 1600 als Taschendiebin tätig und betrieb ihr kriminelles Imperium von der Shoe Lane in der Londoner City aus, dem heutigen Sitz der Investmentbank Goldman Sachs. Jahrhunderte später, im Jahr 2004, wurde Großbritanniens berüchtigtste Betrügerin der Neuzeit, Joyti De-Laurey, für sieben Jahre ins Gefängnis gesteckt, weil sie 4,5 Millionen Pfund von ihren Arbeitgebern bei Goldman Sachs gestohlen und damit 11 Immobilien im Vereinigten Königreich, eine 750 000 Pfund teure Villa am Meer auf Zypern, Luxusautos, Schmuck von Cartier und ein 150 000 Pfund teures Schnellboot gekauft hatte. De-Laurey, die als 'Picasso der Hochstapler' bezeichnet wurde, sagte mir 2005, dass sie eine längere Strafe als die meisten Männer erhielt, die für ähnliche Verbrechen verurteilt wurden, weil sie eine Frau war, die die männlichen Banker, die sie bestohlen hatte, 'wie ein paar Arschlöcher' aussehen ließ."
Archiv: Spectator
Stichwörter: Schmuck

Wired (USA), 04.11.2021

Die nächste Version des Internets wird immersiv, 3D, simuliert den physischen Raum, vereint alle möglichen Apps und Anwendungen unter einem Dach und nennt sich Metaverse - und man wird noch mehr Hardware benötigen als eh schon und die Macht darin wird sich noch mehr auf ein paar IT-Konzerne konzentrieren, erklärt uns Cecilia D'Anastasio. Diverse Konkurrenten liegen gerade im Wettstreit, diesen Markt nicht nur aufzubauen, sondern im Anschluss auch gut daran zu verdienen - ein eingehegter Garten, in dem es ziemlich proprietär zugeht, auch wenn man die ganz basale, quelloffene Architektur des Internets natürlich weiterhin gerne für sich nutzt. "Wer wünscht sich ein Metaverse, das so gebaut war wie das Web 2.0? Wer wünscht sich ein Metaverse, das fürs Skalieren und Geldverdienen entworfen wurde? Neue Open-Source-Metaverse-Projekte haben es auf sich genommen, der Unausweichlichkeit dieses nächsten Internets als einer totalen Service-Umgebung entgegen zu treten. 'Ich denke, wir werden wohl ein Web 2.0 Metaverse und ein Web 3.0 Metaverse erleben', sagt Ryan Gill, Mitbegründer und Geschäftsführer von Crucible, einem offenen Metaverse-Projekt. 'Web 2.0 bezieht sich in diesem Zusammenhang auf all die Big-Tech-Firmen, die abgeriegelt sind. Die werden ihr server-basiertes Modell oder ihre Datensammlungen nicht einfach so aufgeben. Wir werden eine viel schnellere Skalierung des Web 2.0 Metaverse sehen. Aber der einzige Weg zu einem Web 3.0 ist die Dezentralisierung.' Das nächste Netz, sagt Gill, sollte auf offenen Protokollen und Standards aufbauen, inklusive Blockchain-Technologie. Er ist sich sicher, dass Open-Source-Communities dazu finanziell beitragen werden und dass sich dies auch lohnen werde. Das Web 3.0, wie Gill es beschreibt, ähnelt dem Web 1.0 der Neunziger auf einnehmende Weise - disparat, von den Nutzern betrieben, dezentralisiert: das Netz, aus dem die Idee des Metaverse hervorgebracht hat. Irgendwie, so lautet wohl der Gedanke dahinter, sind wir in dieses ganze Big-Tech-Ding hineingeschlittert."
Archiv: Wired

Magyar Narancs (Ungarn), 03.11.2021

Der Historiker Martin Gulyás wurde nach der Wende 1991 geboren und promovierte im vergangenen Jahr zu einem Thema über die Revolution von 1956 in Ungarn. Im Interview mit András Bakos erklärt Gulyás, wie sich die Betrachtung von 1956 verändert hat: Die Kádár-Ära wird für viele Menschen immer unwichtiger, erklärt er. "Das liegt daran, dass politische Zugehörigkeiten immer weniger durch die Haltung zum Kádárismus bestimmt werden. Nächstes Jahr wird bereits die Generation Y wählen und es ist ziemlich schwierig, sie damit zu motivieren, dass die Kommunisten zurückkommen könnten oder die Erben der Faschisten. Ordnungsprinzipien entlang von Wagenburgmentalitäten haben eine limitierte Geltung und einen begrenzten gesellschaftlichen Wirkungsgrad. (…) Die Werke über 1956 sind größtenteils positivistisch, deskriptiv, was lange Zeit verständlich war, denn man musste faktisch den  Konterrevolutionsnarrativen der Kádár-Zeit entgegentreten. Jetzt bedarf es einer methodischen Erneuerung. Man muss auch die Erkenntnisse der Nachbarwissenschaften in die Analyse miteinbeziehen, denn 1956 hat Dimensionen, die weit über Straßenkämpfe und trockene Ereignisgeschichte hinausreichen."
Archiv: Magyar Narancs

New York Times (USA), 06.11.2021

Ohne Sun Myung Moon, den Gründer der Moon-Bewegung, gäbe es kein Sushi in Amerika. Jedenfalls nicht in dem Umfang und bis in den letzten Winkel des Landes hinein. Sushi in Amerika war gewissermaßen Moons Idee, erzählt Daniel Fromson in einer riesigen, schmuck aufgemachten Geschichte. Das liegt unter anderem daran, dass seine Moon-Bewegung besonders in Japan populär war, dass er seine japanischen Anhänger ausschwärmen ließ und durch die arrangierten Ehen der Bewegung schnell zu amerikanischen Bürgern machen konnte. Und billige Arbeitskräfte waren sie als Anhänger seiner Religion sowieso. Und so entstand die bis heute mächtige Firma True World Foods, die Tausende amerikanischer Sushi-Restaurants mit frischem und tiefgekühltem Fisch bester Qualität beliefert und die die wichtigste Geldquelle der Bewegung ist: "Nach Angaben von Robert Bleu, dem Präsidenten des Mutterkonzerns True World Group, hat True World Foods im laufenden Geschäftsjahr mehr als 8.300 Kunden in den Vereinigten Staaten und Kanada beliefert, bei denen es sich überwiegend um Sushi-Restaurants handelt. Die japanische Tochtergesellschaft ist auf dem besten Weg, im Jahr 2021 mehr als eine Million Kilogramm frischen Fisch in die Vereinigten Staaten zu exportieren. Laut Bleu beliefert True World in vielen Städten zwischen 70 und 80 Prozent der mittleren und gehobenen Sushi-Restaurants; der Jahresumsatz der Gruppe liegt in der Regel bei über 500 Millionen Dollar. Die Pandemie war natürlich nicht typisch, aber 'Sushi war ein großer Gewinner in der Coronakrise, weil Sushi ein großartiges Essen zum Mitnehmen und Liefern ist, wenn es richtig gemacht wird' sagt Bleu. 'Wir machen gerade den besten Umsatz in unserer Geschichte.'"

Halb versteht es Marc Tracy, halb bedauert er es in einem längeren Essay: Immer mehr junge jüdische Amerikaner wenden sich von Israel als Bezugspunkt ab, oder sehen es gar als Apartheidsstaat. Selbst Studenten an Rabbinerseminaren unterzeichnen offene Briefe solchen Inhalts. Tracy bittet um Verständnis für ihre Perspektive. Wer heute 26 ist, wisse nichts mehr über das Abkommen von Oslo oder die erste und zweite Intifada: "Für sie wird Israel nicht durch Rabin oder den Staatsmann Schimon Peres oder wenigstens den Falken Ariel Scharon verkörpert, sondern durch Netanjahu, der nicht nur den Siedlungsbau im Westjordanland vorangetrieben hat, sondern sich auch in religiösen und zivilen Fragen auf die Seite des ultraorthodoxen Rabbinats gestellt hat, der versucht hat, linke NGOs zu behindern, der rassistische Demagogie gegen die Palästinenser betrieben hat und der mit den Republikanern, einschließlich und insbesondere Donald J. Trump, gemeinsame Sache gemacht hat."
Archiv: New York Times