Magazinrundschau

Die instinktive Befreiung des Wissens

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
09.08.2022. The Verge erklärt, was der Krieg gegen Drogen mit dem Krieg gegen Flüchtlinge gemeinsam hat. Eurozine folgt dem Gedenkpfad Schumanns Eck, der durch die Wälder der Ardennenschlacht führt. Hakai fürchtet in Zeiten des Klimawandels eine Naturschutztriage. In Elet es Irodalom macht der Dichter Zoltán Csehy Fingerübungen. New Lines erzählt die Geschichte des Islamischen Staats in Afghanistan. Der Filmdienst erzählt die Geschichte der deutschen Filmförderung.

The Verge (USA), 09.08.2022

Der am stärksten überwachte Landstrich in Amerika ist die Grenze zwischen Mexiko und Arizona, schreibt Gaby Del Valle in einer eindrucksvollen Reportage. Hier spüren Drohnen illegale Einwanderer anhand ihrer Körperwärme auf. Die Durchquerung der Wüste ist lebensgefährlich: Jedes Jahr verlieren hier mindestens hundert Menschen ihr Leben bei dem Versuch, in die USA zu gelangen. Aber was sollen sie machen? Legale Einwanderung ist fast unmöglich und Asyl kann man nur in den USA beantragen. Das führt zu einem höchst zweifelhaften Ergebnis, denn "der Mangel an legalen Einwanderungsmöglichkeiten ist ein Glücksfall für zwei scheinbar ungleiche Gruppen: die Schmuggler, die zunehmend mit Kartellen verbunden sind und von Migranten angeheuert werden, um sie über die Grenze zu bringen, und die Militär- und Technologieunternehmen, die Milliarden für die Entwicklung von Werkzeugen erhalten, um Migranten in der Wüste aufzuspüren. Einem Bericht des Immigrant Defense Project zufolge haben ICE und CBP zwischen 2008 und 2020 mehr als 55 Milliarden Dollar an Verträgen für Abschiebegewahrsam, 'intelligente Grenztechnologien' und Überwachungsinstrumente vergeben. Die Schmuggelindustrie ist viel schwieriger zu quantifizieren, aber ein Bericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2018 schätzt ihren weltweiten Wert auf 5,7 bis 7 Milliarden US-Dollar. Die beiden Branchen - eine legale und eine illegale - brauchen einander, um zu funktionieren. Beide existieren, weil legale Migration fast unmöglich ist."
Archiv: The Verge

Eurozine (Österreich), 04.08.2022

Rachael Jolley stellt das Projekt "Land der Erinnerung" vor, ein Grenzprojekt zwischen Luxemburg, Frankreich, Deutschland und Belgien, das gerade in Zeiten des Ukrainekriegs besonders wichtig ist. Es soll jungen Menschen helfen, die Zerstörungen der Weltkriege des 20. Jahrhunderts und ihre menschlichen und sozialen Folgen zu verstehen. Teil davon "ist der Gedenkpfad Schumanns Eck, der sich durch die Wälder Luxemburgs in der Nähe von Wiltz schlängelt, wo im Dezember und Januar 1944/5 Tausende von Menschen im eisigen Winterkrieg der Ardennenschlacht, auch bekannt als Ardennenoffensive, starben. Auf der Grundlage von mehr als 500 Interviews, die der Gründer des Lehrpfads, Frank Rockenbrod, im Laufe von 25 Jahren geführt hat, haben sie eine Reise durch diese pockennarbigen Wälder und durch die Erinnerungen der Menschen, die hier gelebt und gekämpft haben, zusammengestellt, mit lebensgroßen Bildern von Soldaten und Zivilisten. Ihre Geschichten werden den Besuchern mit Hilfe von QR-Codes (Quick-Response-Codes, die auf Smartphones abrufbar sind) und Reiseführern erzählt. Wenn man durch den Wald spaziert und die winzigen Vertiefungen im Boden sieht, in denen sich die Soldaten stunden- und tagelang im Schnee versteckten, ohne Winterkleidung (einige waren direkt aus der Normandie gekommen) und nur mit den Zweigen der Bäume, die sie warm hielten, wird diese Geschichte viel realer. Die Vertiefungen im Boden, die Verstecke für Männer und Ausrüstung, bleiben erhalten. Wir erfahren auch von mutigen Momenten des Widerstands während der Nazi-Besatzung, als die Luxemburger gegen das Diktat streikten, das von ihnen verlangte, ihre Sprache aufzugeben."

Natalija Jakubova versucht sich zu erklären, wie so viele Russen Putin auf den Leim gehen können: "Putin hat sowohl das Militär als auch die Zivilbevölkerung mit einer sadistischen Frage konfrontiert: Was werdet ihr tun, wenn ein riesiges, scheinbar unglaubliches Verbrechen in eurem Namen oder durch eure Hände verübt wird? Wir wissen bereits, wie die Mehrheit der Zivilbevölkerung geantwortet hat: Sie leugnet die Existenz des Verbrechens. Als virtuelle Komplizen können sie sich nicht vorstellen, dass sie mitschuldig sind. Und die Leugnung ist für das Militär noch schlimmer. Sie begehen ein Verbrechen, sobald sie die Grenze überschreiten. Einige ergeben sich. Die meisten gehen in ihrer Verzweiflung 'bis zum bitteren Ende'. Sie haben sich mit einem Verbrechen infiziert. Dies ist wirklich eine Plage. Die meisten Russen sind auf dieses moralische Dilemma nicht vorbereitet. Eine gesunde Reaktion wäre gewesen, die unangenehme Wahrheit anzuerkennen, dass das 'Unmögliche' geschieht, und öffentlich zu erklären, dass sie die Legitimität dessen, was getan wird, nicht akzeptieren werden, dass sie nicht zulassen werden, dass ihre Regierung dies in ihrem Namen tut. Stattdessen ist in den meisten Fällen genau das Gegenteil eingetreten, nämlich die Bereitschaft, die Phantasien und Lügen zu glauben, die staatliche Rechtfertigung für den Krieg zu akzeptieren und ihn zu unterstützen und zu verbreiten. Täten sie das nicht, würden sie sofort mit Schamgefühlen und Verantwortung konfrontiert werden."
Archiv: Eurozine

Hakai (Kanada), 08.08.2022

Nicht nur Überfischung, auch der Klimawandel sorgt an vielen Orten dafür, dass einige Fischpopulationen immer kleiner werden, erzählt Ben Goldfarb am Beispiel der Winterflundern vor Rhode Island. Junge Flundern sind mit zwei Krisen konfrontiert, die beide mit der Temperatur zusammenhängen: Mit der Erwärmung der Gewässer steigt die Population von Raubtieren wie Kammquallen und Garnelen. Und heißere Wassertemperaturen sowie ein niedrigerer Sauerstoffgehalt belasten die Flunder ebenfalls. Was tun, fragen sich auch Wissenschaftler und diskutieren bereits eine Triage: "Die Winterflunder ist nur ein Klimaverlierer unter vielen. Wie viel Aufwand sollten wir betreiben, um den Chinook-Lachs im kalifornischen Central Valley zu schützen, wo Hitze und Trockenheit dazu geführt haben, dass sich Krankheiten in den einst so wichtigen Laichgewässern ausbreiten? Wie werden wir reagieren, wenn Hummer - die bereits aus Rhode Island und Long Island Sound geflohen sind - Maine verlassen, um auf kühleren Weiden in Neufundland zu leben? Bei diesen Entscheidungen handelt es sich um eine Form der Naturschutztriage, d. h. um die umstrittene Idee, dass Wissenschaftler sich auf die Rettung von Arten konzentrieren sollten, die eine gute Chance haben, das Anthropozän zu überleben, und nicht auf diejenigen, die aufgrund ihrer Klimasensitivität keine Chance haben."

Außerdem: Wissenschaftlern der University of Toronto ist es gelungen, die Sehproteine einiger der frühesten Vorfahren der Wale zu rekonstruieren, erzählt Jason P. Dinh. Wir erhalten so "Einblick in die Lebensweise der Urwale und Delfine unmittelbar nach einem entscheidenden evolutionären Wendepunkt: der Zeit vor etwa 55 bis 35 Millionen Jahren, als die Tiere, aus denen sich später Wale und Delfine entwickelten, ihre terrestrische Lebensweise aufgaben und ins Meer zurückkehrten." Und wir lernen, wie die Tiere ihre Umwelt wahrnahmen.
Archiv: Hakai

Elet es Irodalom (Ungarn), 05.08.2022

Der Dichter und Übersetzer Zoltán Csehy beschreibt im Interview mit Andrea Lovász Zweck und Funktion von Fingerübungen für die Dichtung: "Ich reagiere geradezu allergisch auf das Wort Mission, was kommt vielleicht daher, dass ich Teil einer literarischen Minderheit bin; als ungarischem Autor aus der Slowakei wollte man mir seit dem Beginn meiner Laufbahn irgendeine 'Mission' einprogrammieren. Dies ist ein durchpolitisierter Raum. Aus professioneller Sicht mache ich kaum einen Unterschied zwischen Kinder- und Erwachsenenliteratur, Unterschiede sehe ich eher bei den Gattungen. Ich schreibe aus demselben Grund Kinderlyrik wie Erwachsenenlyrik. Beide haben Rollen, Gravitationen, subversive Kräfte. Ich mag es, wenn der Text bis zu einer gewissen Grenze geht, entweder in formell-musikalischer oder rhetorischer oder auch in thematischer Hinsicht. Eine Fingerübung wird in der Tat nicht immer zum Gedicht, aber es ist auch nicht auszuschließen, dass sie stärker als erwartet aufglüht. So wie beim Komponisten, der sich ans Klavier setzt, improvisiert, experimentiert, er lässt seine Finger laufen und plötzlich entsteht etwas Besonderes. Ohne Spiel und Übung entsteht kaum etwas. Ich kann mir kaum vorstellen, mich jetzt hinzusetzen und ein sehr bedeutendes Gedicht zu schreiben, für das ich fünfzehn Minuten habe. Was ich aber von den Fingerübungen verwende, wird bei der Redaktion des Bandes, bei der Ausarbeitung der Leitnarrative zu einer relevanten Frage: man muss nicht alles veröffentlichen. Die Fingerübung ist kein Zwang, sondern Methode, die instinktive Befreiung des Wissens und gleichzeitig dessen Wartung."

Osteuropa (Deutschland), 08.08.2022

Die westlichen Sanktionen gegen Russland werden dort deutlich zu spüren sein, dessen ist sich der Politikwissenschaftler Alexander Libman im Interview mit Volker Weichsel sicher, denn: "Die Unterbrechungen der Lieferketten werden im Laufe der Zeit massiv zunehmen, und große Bereiche der russischen Wirtschaft zum Erliegen bringen. Welche genau es sein werden und wann genau das passieren wird, das wird erst in den kommenden Monaten klar werden." Doch werden sich die Menschen dann gegen Putin wenden? Das glaubt Libman allerdings nicht: "Sanktionen machen Unternehmen und Bürger abhängiger von dem Regime. Das ist in Russland bereits jetzt zu beobachten und wird sich weiter verstärken: Viele Betriebe und Unternehmen können nur deswegen überleben, weil sie direkt oder indirekt vom Staat unterstützt werden; viele Menschen werden ihre Ersparnisse verlieren und umso mehr von ihren Löhnen und Gehältern abhängig sein. Da der Privatsektor wegen der Sanktionen schrumpft, sind auch diese Menschen vom Staat abhängig. Sie werden mit dem Regime unglücklich sein, aber keine Möglichkeit haben, sich dagegen zu wehren und es daher nolens volens unterstützen. Auch führen weniger Kontakte mit dem Westen dazu, dass viele Menschen in Russland sich kein Bild mehr davon machen, wie eine Alternative zu dem in ihrem Land herrschenden Regime aussehen könnte. Das bedeutet auch: Falls man tatsächlich Veränderungen in Russland will, müssen unbedingt die zwischenmenschlichen Kontakte und der Dialog mit der Zivilgesellschaft aufrechterhalten werden. Das wird nicht zu schnellen Änderungen führen - aber ohne diese Kontakte und den Dialog wird es auf keinen Fall irgendwelche positiven Veränderungen geben."

Außerdem: Natalja Zubarevič beschreibt die Auswirkungen der Sanktionen am Beispiel der Region Krasnojarsk. Ins Deutsche übersetzt ist außerdem Putins Rede vom 7. Juli 2022.
Archiv: Osteuropa

New Yorker (USA), 15.08.2022

So richtig versteht man auch bei der Lektüre von Jane Mayers Reportage zwar immer noch nicht, wie Gerrymandering in den USA funktioniert, aber die Folgen werden sehr klar: Es geht grob gesagt um das willkürliche Zuschneiden von Wahlbezirken, dass dazu führen kann, dass Extremisten, die in fairen Wahlen nie eine Chance hätten, Gesetze gegen die eigentliche Mehrheit in einem Bundesstaates durchsetzen können. Mayers Beispiel ist der Bundesstaat Ohio. Hier haben religiöse Fundamentalisten und Waffenfanatiker durchgesetzt, dass nicht einmal vergewaltigte Kinder abtreiben können und Waffen praktisch ohne Kontrolle erworben und besessen werden dürfen: "Wie konnte das passieren, wo doch die meisten Wähler in Ohio keine Ultrakonservativen sind? 'Es geht um Gerrymandering', sagte mir David Niven, Professor an der Universität von Cincinnati. Die Karten der Wahlbezirke in Ohio wurden absichtlich so gezeichnet, dass viele Republikaner praktisch nicht verlieren können, was der Partei eine vetosichere Supermajorität sichert. Infolgedessen sind die einzigen Wettbewerbe, um die sich die meisten republikanischen Amtsinhaber sorgen müssen, die Vorwahlen - und da Hardcore-Parteianhänger die Wahl in diesen Wettbewerben dominieren, besteht die einzige Bedrohung für die meisten republikanischen Amtsinhaber in der Möglichkeit, von einem Rivalen überflügelt zu werden, der noch weiter rechts steht."

Weiteres: Gideon Lewis-Kraus porträtiert den Philosophen William MacAskill, Mitbegründer einer von Peter Singer inspirierten Bewegung namens "effektiver Altruismus". Susan B. Glasser und Peter Baker geben in einem Brief aus Washington Einblicke in den Krieg Donald Trumps gegen seine Generäle. Klar, Billy Wilder ist großartig, aber Ernst Lubitsch war noch besser, findet Alex Ross. Carrie Battan hört Beyoncés neues Album. Lauren Michele Jackson liest ein Buch über Josephine Baker. Und Anthony Lane sah im Kino David Leitchs Actionthriller "Bullet Train".
Archiv: New Yorker

Hlidaci pes (Tschechien), 05.08.2022

Der ukrainische Dichter und Übersetzer Oleh Kozarew ist derzeit die Kontaktperson für die tschechische Stiftung Charon, die ukrainischen Künstlern im Krieg hilft. Wie die Situation für viele seiner Kollegen aussieht, schildert Kozarew im Interview mit Lucie Sýkorová so: "Zum Beispiel der Dichter Ihor Mitrow. Bis Februar 2022 (…) hätte man ihm auf vielen Lesungen begegnen können. Jetzt ist er ein ukrainischer Soldat. Oder Oleg Kalashnyk, ein Künstler aus Charkiw. Seine Ausstellungen organisiert er in der Charkiwer U-Bahn und unterirdischen Tunnels. Warum? Weil sich viele Bewohner Charkiws in U-Bahn-Gängen und Kellern aufhalten, weil die Stadt unter regelmäßigem russischen Raketenbeschuss liegt. Mychajlo Ozerov ist Schauspieler in einem Puppentheater. Auch er spielt jetzt in U-Bahn-Vorführungen. Die Dichterin und Drehbuchautorin Luba Jakymtschuk war während der russischen Angriffe im Frühling in Kiew, als versucht wurde, die Hauptstadt einzunehmen. In dieser ganzen Zeit war sie als freiwillige Helferin tätig. Und Vasyl Riabko, Frontman der Rockband 'Papa Carlo', ein lustiger Festivaltyp, verteilt jetzt mit einem kleinen Bus humanitäre Hilfsgüter und evakuiert Zivilisten, die bombardiert werden. Die Dichterin und Übersetzerin Daryna Berezina war gezwungen, ihre Heimat und all ihr Hab und Gut zurückzulassen und aus Mykolajiw in den Westen des Landes zu fliehen. Der Bildhauer Arsen Pelushok ist nach der Eroberung und Befreiung von Butscha, wo er lebt, ohne Arbeit. Der belarussische Dichter Sergej Prilutsky verbrachte ebenfalls mit Frau und Sohn zwei Wochen im besetzten Butscha. Sie versteckten sich im Keller eines fremden Hauses. Erhitzten sich auf einem Feuer im Hof Wasser zum Kochen und Waschen, weil es in den Häusern weder Strom noch Gas noch Wasser gab. Überall um sie waren Schüsse und Explosionen zu hören. Nur einen Kilometer von ihnen entfernt brachten die russischen Soldaten Zivilisten um. Momentan versuchen dieser Dichter und die Stadt Butscha in ein normales Leben zurückzufinden. Die Lyrikerin und Übersetzerin Iya Kiva wurde zum ersten Mal 2014 zur Flüchtigen, als Russland ihre Geburtsstadt Donezk besetzte. Darauf zog sie nach Kiew um. Nach dem neuen russischen Angriff ging sie fort nach Lwiw, wo sie jetzt als freiwillige Helferin sehr aktiv ist." Oleh Kozarew betont auch noch einmal die Wichtigkeit der monetären Unterstützung, denn "diese Leute sind in einer katastrophalen finanziellen Situation, und gleichzeitig helfen sie alle der Armee, den Flüchtlingen, Ärzten und so weiter."
Archiv: Hlidaci pes

Film-Dienst (Deutschland), 02.08.2022

Filmförderung in Deutschland - eine Geschichte direkt aus dem Tal der Tränen. Wie konnte es eigentlich dazu kommen, dass diese Förderung heute vor allem ein kommerziell ausgerichtetes Kino am Leben erhält, das sein vorrangiges Ziel - Erfolg an den Kassen - regelmäßig weit verfehlt, auch künstlerisch wenig zustande bringt und auf internationalen Festivals schon gleich gar nicht gefragt ist? Diese Frage versucht Daniel Kothenschulte mit einem großen zweiteiligen Artikel zu erklären, von dem bislang zwar nur erste Teil online steht. Dieser ist als an Fakten reicher, historischer Abriss aber auch für sich schon lesenswert. Die gängige Vorstellung ist ja, dass die Filmförderung einst als eine Art Selbstbedienungsladen des Neuen Deutschen Films erfunden wurde - künstlerisch wertvoll, aber fernab des Publikumszuspruchs. Diese Form besonderer Zuwendung hatte allerdings nur ein kurzes Zeitfenster Mitte der Siebziger bis in die frühen Achtziger. In der ersten Phase der Filmförderung von 1967 bis 1974 war vor allem die Altbranche zwischen Paukerkomödie und Lustspielen Nutznießerin der neuen Geldtöpfe: "Nach der ersten Gesetzesfassung operierte die FFA als eine reine Referenzfilmförderung. Die Referenzfilme mussten Brutto-Einnahmen von 500.000 DM vorweisen können, falls sie ein Prädikat oder einen Preis bei einem A-Festival erhalten hatten, reduzierte sich dieser Betrag auf 300.000 DM. Eine Schlüsselrolle kam dem Fernsehen zu. Die FFA sollte die TV-Rechte aller geförderten Filme für je 100.000 DM erwerben und sie an die Sender zum gleichen Betrag wieder veräußern. Das aber war mehr als das Doppelte dessen, was dort üblicherweise für Spielfilmankäufe bezahlt wurde. Durch den überhöhten Betrag sollten die Fernsehanstalten ihrerseits die Filmindustrie fördern. Das nützte den Altproduzenten und verdankte sich einer intensiven Lobbyarbeit der Filmtheaterbesitzer. Den Regisseurinnen und Regisseuren des Neuen Deutschen Films hingegen schadete diese Regelung, da sie ja bereits in aller Regel mit Geldern der Fernsehanstalten arbeiteten, die sich dafür die TV-Rechte sicherten. So konnten sie eine der Bedingungen des ersten FFA-Gesetzes gar nicht erfüllen."
Archiv: Film-Dienst

HVG (Ungarn), 04.08.2022

Der Historiker Rudolf Paksa geht im Interview mit Péter Hamvay hart mit ungarischen Politikern ins Gericht, die gern vom "Untergang des Abendlandes" fantasieren: "Es ist fast schon langweilig. Seit 100 Jahren hören wir Prophezeiungen über den Untergang des Abendlandes. Gleichzeitig schicken wir unsere Kinder in den Westen zur Schule, wir kaufen unsere Autos, unsere Medikamente und die modischen Sachen dort. Wenn ungarische Politiker vom Untergang des Abendlandes sprechen und sich gen Osten wenden, dann handelt es sich stets um die Kompensierung ihrer Erfolgslosigkeit. In erfolgreicheren Perioden vergleicht sich das Land immer mit dem Westen. Leider gab es davon nicht viele in den letzten hundert Jahren. Es stimmt einen auch nachdenklich, wenn ein ungarischer Politiker über die Probleme des Westens spricht und diese dann mit wenigen Ideen lösen will. Ist hier wirklich alles schon in Ordnung? Und wenn wir über Rassismus sprechen: Was ist mit den Roma? Für eine Ablenkung eignet sich das Thema der Migration ausgezeichnet, denn sie bedroht ja Ungarn kaum. Hierher kommt nur dann jemand, wenn er für Geld eine EU-Staatsbürgerschaft kaufen will. So ist es leicht mit dem Schreckensbild der Einwanderung zu spielen, manche realen Probleme werden vergrößert und dann wird das Land vor der zur größten Bedrohung stilisierten Migration 'beschützt'. Viktor Orbán spricht über den Unterschied zwischen dem 'Untergang des Westens' und dem auf seine 'Rassenreinheit' stolzen Osten genauso wie die Kremlpropagandisten. Das Ziel von beiden ist die Stiftung von Verwirrung, die Spaltung und Schwächung Europas, indem man im ethnisch diversen (West-)Europa gesellschaftliche Spannungen auszulösen versucht."
Archiv: HVG

Newlines Magazine (USA), 01.08.2022

Fazelminallah Qazizais und Chris Sands Artikel ist kilometerlang - ausgedruckt vierzig eng gesetzte Seiten. Sie erzählen die Geschichte des Islamischen Staats in Afghanistan, genauer des "Islamic State of Khorasan Province (ISKP)", und seines Kommandeurs Abu Omar Khorasani, der kurz nach der amerikanischen Übergabe Afghanistans an die Taliban von diesen erschossen wurde. Die Taliban waren ihm zu milde gewesen. Sie hatten mit den Amerikanern verhandelt. Ihre Religion war zwar so engstirnig, wie es nur geht, aber tribalistisch, an Traditionen des Landes gebunden und nicht expansionistisch genug. ISKP und Taliban bekämpfen sich bis heute. Der ISKP hatte beim chaotischen Abzug der Amerikaner in einem Attentat 170 Menschen getötet, darunter 13 amerikanische Soldaten, die letzten Gefallenen des Afghanistankriegs. Fazelminallah Qazizai hat über Jahre mit vielen Zeugen gesprochen, beschreibt die unfassbar blutigen Attentate des ISKP, der nach jedem Rückschlag wieder aufstand, auch als Donald Trump 2017 die stärkste nicht nukleare Bombe über einem Höhlenkomplex bei Achin abwarf und Dutzende Kämpfer tötete. "Die ISKP-Kämpfer wussten, dass sie nun nicht mehr damit rechnen konnten, weite Teile des Gebiets zu kontrollieren, aber das bedeutete nicht, dass sie aufgaben. Im Sommer 2017 rückte die 'Red Unit' der Taliban in Achin ein und hatte den Auftrag, die örtlichen Talibs bei einer 'Clear and Hold'-Operation zu führen. (Einer der Kommandeure) Qazi Malik… wurde mit ihnen in das Gebiet entsandt. 'Wenn der Prophet Mohammed noch leben würde, würde er uns die Treue schwören', spotteten ISKP-Kämpfer über ein Militärradio. Malik war von ihrer Willenskraft beeindruckt. Als er die Leichen auf dem Schlachtfeld durchsuchte, bemerkte er, dass sich einige ISKP-Kämpfer aneinander gefesselt hatten, damit Kämpfer, die es in der Hitze des Gefechts mit der Angst bekamen, nicht weglaufen konnten."

New York Times (USA), 08.08.2022

In Afghanistan droht die größte humanitäre Krise auf der ganzen Welt. Die Hälfte der Bevölkerung ist von Hunger bedroht, schreibt Matthieu Aikins. Grund sind die Sanktionen gegen das Land. Dabei hätten Milliarden Dollar bereitgestanden. Sie fließen nicht, weil den Mädchen zumindest offiziell der Zugang zu Schulbildung versperrt wurde. Die Lage im Land sei kompliziert, so Aikins. Der Erziehungminister möchte ja gern, aber es gibt noch die Schura in Kandahar, eine Art religiöse Parallelregierung. "Am ersten Unterrichtstag verkündete das Bildungsministerium plötzlich, dass die Mädchenschulen nun doch nicht wieder öffnen würden. Da die Meldung so spät kam, waren viele Schulen überhaupt nicht darauf vorbereitet. Die Mädchen kamen zu Schule, nur um gleich wieder herausgeworfen zu werden. Andere Mädchen erschienen und fanden die Türen ihrer Schule verschlossen vor. Diese Szenen wurden von der ausländischen Presse aufgegriffen, die über diesen Tag, der eigentlich ein hoffnungsvoller Tag für das Land sein sollte, berichten wollte und stattdessen Bilder von weinenden Mädchen im Teenageralter veröffentlichte."
Archiv: New York Times